München und die Schach-WM 2023: “Ernsthaftes Interesse”

1908 gelingt es Münchens Bürgermeister Wilhelm von Borscht, Mittel aufzutreiben, die den WM-Kampf zwischen Emanuel Lasker und Siegbert Tarrasch möglich machen. 12 der 16 Partien dieses Matches (10,5:5.5 für Lasker) werden in München gespielt.

1934 spielen Alexander Aljechin und Efim Bogoljubow ein Match um den höchsten Titel im Schach. Ihre 26 Partien bis zum 15,5:10,5 für Aljechin verteilen sie über mehrere deutsche Städte, darunter München, wo der Titelverteidiger und der Herausforderer zwischen dem 6. und 12. Mai dreimal remis spielten.

2023 setzt sich die Reihe der WM-Kämpfe in München womöglich fort. Zwischen dem Deutschen Schachbund und der Stadt München laufen Gespräche, die in eine Bewerbung Münchens um ein WM-Match münden könnten. Die Stadt habe ernsthaftes Interesse, teilt der DSB mit.

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WM-Match 1908 zwischen Emanuel Lasker (links) und Siegbert Tarrasch (rechts). Nach den vier Auftaktpartien in Düsseldorf zogen die Kontrahenten nach München um. | Foto via Wikipadia

Die Entwicklung, die zum Interesse der Stadt und den aktuellen Verhandlungen führt, beginnt vor mehr als drei Jahren mit einem Tweet von Ulrich van Suntum, DWZ 1453, Vereinsmeister der SG Schloss-König 07 Nordkirchen.

1988 ist der respektierte VWL-Professor van Suntum Generalsekretär des Rats der Wirtschaftsweisen, der die wirtschaftliche Entwicklung der Bundesrepublik begutachtet. Im Sommer 2020 kandidiert der emeritierte Professor van Suntum im Kreis Coesfeld für die AfD (ohne deren Mitglied zu sein).

Heute ist der 67-Jährige nicht überzeugt, dass die Erwärmung der Erde mit CO₂ und menschlichem Handeln zusammenhängt. Überzeugt ist van Suntum, dass Donald Trump niemanden zum Sturm auf das Kapitol angestachelt hat. „Würde mich nicht überraschen, wäre das eine Antifa-Aktion gewesen“, tweetete van Suntum am Tag danach.

Auf Twitter hat van Suntum eine fünfstellige Gefolgschaft von mehrheitlich Rechtsauslegern versammelt. Wenn er denen Politisches vorsetzt, erfährt er einigen Zuspruch. Seine wenigen Schachtweets kommen nicht so gut an, dieser zum Beispiel zur bevorstehenden Schnellschach- und Blitz-WM in Saudi-Arabien:

Ein Herzchen nur, ein „Like“.

Geklickt hat es Fritz Schmude, am Schach beiläufig interessierter IT-Freiberufler aus München und seinerzeit Mitglied des Münchner Stadtrats. Als einer von zwei Abgeordneten der AfD wird Schmude 2014 in das Gremium der bayerischen Landeshauptstadt gewählt. Im September 2015 wechseln Schmude und sein Kollege Andre Wächter, der einstige bayerische AfD-Chef, zur Allianz für Fortschritt und Aufbruch (ALFA) des AfD-Mitgründers Bernd Lucke. Aus der ALFA werden bald die Liberal-Konservativen Reformer (LKR).

Die ehemaligen Münchner Stadträte Andre Wächter (l.) und Fritz Schmude. | Foto via LKR

Ehemaliger LKR-Vorsitzender in Nordrhein-Westfalen: Ulrich van Suntum. Als der Ende 2017 zur unmittelbar bevorstehenden Schnellschach-WM in Saudi-Arabien tweetet, trifft er damit beim Münchner LKR-Stadtrat Fritz Schmude einen Nerv. Und das hat wahrscheinlich weniger mit Schmudes Schachinteresse zu tun als mit dessen Abneigung gegenüber dem Islam, den Schmude in erster Linie als Ideologie mit Gewalttendenz wahrnimmt.

Kurz vor dem Jahreswechsel 2017/2018 soll dort um eine Schachweltmeisterschaft gespielt werden, wo Menschenrechte wenig zählen, wo eine Clique unabwählbar über Wohl und Wehe des Volks bestimmt, wo das Wort nicht frei ist und die Frau unterdrückt – ein Problem, nicht nur in den Augen des Münchner Abgeordneten. Dessen spezielle Sicht auf diese Gemengelage soll sich ein halbes Jahr später offenbaren.

Mitte 2018 laufen seitens der FIDE die Ausschreibungen für den WM-Zyklus, der im WM-Match 2020 gipfeln soll (das inzwischen in den Dezember 2021 verschoben ist, siehe dieser Bericht). Unter anderem Wien ist anlässlich des 100-jährigen Bestehens des österreichischen Verbands als Ausrichter des WM-Matches 2020 im Rennen.

Antrag der LKR-Gruppe im Münchner Stadtrat.

„Warum nicht München?“, denkt sich Schmude. Mit seinem Kollegen Andre Wächter formuliert er einen Antrag der zweiköpfigen LKR-Gruppe an Oberbürgermeister Dieter Reiter: „München bietet die Ausrichtung einer Schach-WM an“. „Besondere Priorität hat die WM der Frauen“, ergänzen Schmude und Wächter.

In der Wahrnehmung dieser beiden haben in den vergangenen Jahren autokratisch regierte Länder das Medieninteresse an einer Schach-WM „für ihre politischen Zwecke missbraucht“. Das gelte speziell für die Frauen-WM. Explizit nennen Schmude und Wächter das WM-Match 2017 in Teheran zwischen Ju Wenjun und Anna Muzychuk.

„Die Veranstalter zwangen die Teilnehmerinnen zu islamischer Kleiderordnung und verweigerten den israelischen Teilnehmern die Einreise“, schreiben die Abgeordneten, ohne näher zu erläutern, welche Israelis am Match zwischen der Chinesin und der Ukrainerin teilnehmen wollten. Wahr ist, dass ein WM-Match mit israelischer Beteiligung im Iran nicht möglich wäre. Es würde schon an der Anreise der Israelis scheitern.

Ju Wenjun 2017 in Teheran. | Foto: Reza Mahdipour

In der offenen, bunten bayerischen Landeshauptstadt wäre jede und jeder willkommen. Schmude und Wächter schlagen vor, die Stadt München solle an den Deutschen Schachbund herantreten, um ein „eventuelles weiteres Vorgehen“ zu erörtern. Am 22. Juni 2018 sendet die LKR-Gruppe den Antrag „Ausrichtung einer Schach-WM“ ab.

Danach passiert – nichts.

Am 15. März 2020 wird der Münchner Rat neu gewählt. Schmude, Wächter und die LKR fliegen aus dem Parlament. Auf eine Beantwortung ihres Schach-Antrags haben sie bis dahin nicht gedrängt.

Die Antwort des Münchner Referats für Bildung und Sport kommt nach zweieinhalb Jahren, fast ein Jahr, nachdem die Antragsteller abgewählt worden sind. Stadtschulrat Florian Kraus erteilt den Schach-WM-Plänen eine klare Absage. Am 10. Februar 2021 schreibt er:

„Leider konnten … seitens des Deutschen Schachbunds (DSB) keine näheren Informationen weder zu … Turnieranforderungen noch zum … Bewerbungsprozedere geliefert werden. … In Anbetracht dieses unzureichenden Informationsflusses kann das Referat … eine Prüfung für eine etwaige Bewerbung um eine Schach-WM … nicht weiter verfolgen.“

Keine WM in München also. Ende der Geschichte?

Die Zeilen des Stadtschulrats, vor allem die trefflich ins Klischee passenden zu DSB und Informationsfluss, tauchen auf Twitter auf. Der Schreiber dieser Zeilen verbreitet sie als einmaligen München-WM-Witz, ohne die Geschichte dahinter zu erahnen. Aus Bodensee-Perspektive sieht es aus, als lehne die Stadt einen obskuren Antrag obskurer Abgeordneter ab, und die vermeintliche Nicht-Information vom DSB diene ihr als billige Ausrede, um formal eine Angelegenheit zu beenden, mit der sich in Wirklichkeit zweieinhalb Jahre lang nie jemand beschäftigt hat.

Eine kapitale Fehleinschätzung, wie sich bald zeigt.

Wenige Stunden nach dem Tweet vom Bodensee geschieht etwas Außergewöhnliches, etwas annähernd Einmaliges. Der Deutsche Schachbund meldet sich zu Wort:

Wait, what? München, Großturnier, Gespräche?

Auf Nachfrage dieser Seite teilt der DSB mit:

„Es gab erste Gespräche zum Thema Schach-WM mit der Stadt München, die weiter vertieft werden müssen. Dabei sind auch Details und Planungen der möglichen Austragung zu besprechen. Wir sind weiterhin in einem Dialog mit der Stadt, um künftig große Schach-Turniere dort auszutragen. München äußert ernsthaftes Interesse daran.“

Was genau hinter den Mauern der Münchner Stadtverwaltung abläuft, wer genau dort aus welchem Grund gerne Schach in die Stadt holen will, bleibt vorerst im Dunkeln. Sicher ist: Stadtschulrat Florian Kraus ist in die Münchner Schachpläne weder involviert noch darüber informiert. Seine klare Absage an eine Bewerbung Münchens um eine Schach-WM ist falsch. Ungeachtet des Kraus-Papiers gilt: München hat Schach-Pläne, große womöglich.

Tatsächlich könnte der Antrag von Schmude und Wächter von 2018 fünf Jahre später zu einem WM-Match in München führen. Daran gearbeitet wird allemal, auch wenn sich die Münchner etwas zurückhaltender äußern als der DSB: In „rein informellen Gesprächen“ gehe es darum, sich dank der Expertise und im Austausch mit dem DSB einen Überblick über die grundsätzlichen Anforderungen zu verschaffen, teilt Münchens stellvertretender Sport-Pressesprecher Thomas Groß auf Anfrage dieser Seite mit.

Schon unmittelbar nach dem Antrag von Schmude und Wächter sei das Münchner Sportreferat dafür offen gewesen zu eruieren, ob sich eine große Schachveranstaltung in München lohnen könnte. Aber der erste Kontakt zum Schachbund sei versandet, weil seitens der Landeshauptstadt so viel anderes auf der Agenda stand: die EURO 2020, die European Championships 2022, das Champions-League-Finale 2023 und die EURO 2024. „Zudem hat die Corona-Pandemie den Fokus noch mehr auf Sportereignisse gelenkt, bei denen das Bewerbungsverfahren bereits abgeschlossen war“, sagt Groß.

Nun stehe man im Gespräch mit dem DSB, der übliche Weg, eine Bewerbung um eine internationale Großveranstaltung anzubahnen. „In der Regel bewirbt sich nicht die Stadt, sondern der nationale Verband beim Europäischen- oder Weltverband.“ Nicht nur beim Schach wolle die Stadt zu Beginn eines Verfahrens von der Fachkenntnis des nationalen Verbands profitieren.

“FC Bayern ist nicht involviert”

Zur Debatte steht unter anderem die Frage: Was kostet das? Seriös vorab einschätzen lassen sich die Kosten einer Veranstaltung laut Groß nur, wenn klar ist, welche Leistungen der nationale Verband sowie lokale Verbände und Vereine einbringen würden.

Und natürlich, wenn klar ist, über was für eine Veranstaltung eigentlich geredet wird. Ein WM-Match schließt Groß nicht aus, will sich darauf aber nicht festlegen: „Wir eruieren mögliche Turnierarten: von kleineren nationalen Turnieren bis hin zu einem Sportgroßereignis von internationalem Format.“

Sportliches Aushängeschild der Stadt: Die Meisterriege des FC Bayern München in der Schachbundesliga. | Foto: Christian Bossert/Schachzentrum Baden-Baden

Während in den Büros des Münchner Sportreferats Schachpläne geschmiedet werden, weiß die Münchner Schachszene von alledem nichts. Jörg Wengler, Münchner Bezirksvorsitzender und Vorsitzender der Schachabteilung des FC Bayern, reagiert überrascht: „Von wem diese Initiative ausgeht, weiß ich nicht. Die Schachabteilung des FC Bayern ist jedenfalls nicht involviert.“ Zuletzt sei 2016 im Gespräch gewesen, die Schnell- und Blitzschach-WM in der Allianz-Arena auszutragen. „Wenn ich mich richtig erinnere, war der damalige FIDE-Präsident Kirsan Ilyumzhinov seinerzeit zu Gesprächen in München.“

Michael Reiss, Vorsitzender des Zweitligisten Münchner SC 1836 (ältester bayerischer Sportclub), wundert sich über das plötzliche Schach-Interesse der Stadt: Deren Schach-Ambition habe sich „bisher sehr in Grenzen gehalten“. Reiss erinnert sich an einen Besuch Magnus Carlsens 2019 in München, ein von seinem Sponsor Arctic Funds organisiertes Simultan im Bayerischen Hof für Firmenchefs, eine geschlossene Veranstaltung: „An der Münchner Schachszene lief das völlig vorbei.“

Während diese Münchner Szene nun auch bei den neuesten Plänen außen vor ist, so lange nichts Konkretes beschlossen wurde, ist dem Vernehmen nach auf informellen Kanälen schon bis zum Schach-Weltverband FIDE durchgesickert, dass demnächst eine Bewerbung aus München im FIDE-Hauptquartier in Lausanne eingehen könnte. FIDE-Sprecher David Llada: „Offizielle Gespräche hat es noch nicht gegeben.“

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Thomas Richter
Thomas Richter
3 Jahre zuvor

Als Münchner ist mir das noch ziemlich vage – eigentlich bräuchte man doch schon zu diesem Zeitpunkt einen zumindest potenziellen Sponsor und einen potenziellen Austragungsort? Die Allianz-Arena ginge vielleicht für relativ kurze Turniere, aber eher nicht für mehrere Wochen – da sie zwischenzeitlich von Fussballern genutzt wird (zwar nicht der Bereich, in dem Schach gespielt würde, aber sehr viel Trubel im direkten Umfeld). Bei “sportliches Aushängeschild der Stadt” denken die meisten wohl an eine Mannschaft, die Fussball-Trikots trägt UND sich viel darin bewegt. Messehallen sind momentan Corona-Impfzentrum, 2023 werden sie vielleicht wieder für ihren eigentlichen Zweck genutzt. Die Münchner Schachakademie… Weiterlesen »

Silvio
Silvio
3 Jahre zuvor

Nur zur Erinnerung:

Es gab in München auch eine Schacholympiade, nämlich 1958.

Ich finde es zumindest bemerkenswert, dass da in der Stadtverwaltung
über “Schach-Event” nachgedacht wird.

Könnte ja etwas daraus werden…
Dann natürlich auch mit den örtlichen und regionalen Schachorganisatoren.

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[…] WM-Herausforderer ermittelt wird. Dieser Herausforderer wird voraussichtlich 2023 (und womöglich in München) ein WM-Match gegen den Titelträger spielen: denjenigen, der das WM-Match Ende 2021 zwischen […]

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[…] Fiona Sieber sieht den Weg zum WM-Match klar vor sich. Erst muss sie bei der World-Cup-Qualifikation ab dem 24. Mai vier Gegner aus dem Weg räumen, um sich für den World Cup im Juli in Russland zu qualifizieren. Dort muss sie ins Finale kommen, das wäre das Ticket fürs Kandidatenturnier 2022. Wenn sie das gewinnt, spielt sie noch 2022 oder 2023 gegen Magnus Carlsen bzw. Ian Nepomniachtchi ein Match um den WM-Titel, womöglich in München. […]

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[…] im Spätsommer 2022 die Kandidaten klären können, wer WM-Herausforderer wird. Das WM-Match 2022 (in München?) würde dann ein Jahr nach dem WM-Match 2021 […]

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[…] Grand-Prix-Ausschreibung auch in München wahr- und gleichermaßen euphorisch aufgenommen wird. Wie berichtet, hat die Stadt München ohne Zutun der lokalen Schachszene von sich aus Interesse entwickelt, eine […]

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Thorsten Cmiel
Thorsten Cmiel
3 Jahre zuvor

Selbst AfD-Abgeordnete können die richtige Position haben, aber meist aus den falschen Gründen. Tatsächlich ist eine Schach-WM eine Image-Veranstaltung. Dass ein saudischer Herrscher Namensgeber eines Fide-Turniers ist, dürfte der Vergangenheit angehören nachdem seine Verwicklung in den Mord an dem Journalisten Kashoggi in Istanbul https://www.nzz.ch/international/fall-kashoggi-saudischer-kronprinz-genehmigte-toetung-ld.1604056?reduced=true recht wahrscheinlich ist. Großveranstaltung ist medial die WM, aber mehr Übernachtungen dürften Open bringen oder World-Cups mit angehängten Veranstaltungen im Rahmenprogramm. Hoffentlich sind Turnier wie Baden-Baden bei denen es nur um die Teilnehmerzahl geht und nicht um die Spielbedingungen für die Teilnehmer, eine aussterbende Spezies von Schachturnieren.