Nimzowitschs Erbe: Konkrete Expansionslust und taktische Prophylaxe

Den raren Begriff “Expansionslust” finden wir heute ausschließlich in wirtschaftlichen Zusammenhängen. Wenn ein Unternehmen sich neue Märkte erschließt und seine Gegenspieler verdrängt oder kauft, dann ist das Management getrieben von, genau, Expansionslust.

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In einem ganz anderen Zusammenhang geprägt hat den Begriff unser guter, alter Bekannter Aaron Nimzowitsch vor fast 100 Jahren in seinen Strategie-Dauerbrennern “Mein System” und “Die Praxis meines Systems”. In Isolani-Stellungen beschrieb Nimzowitsch mit diesem Begriff ein Konzept, das sich die Isolani-Seite zunutze machen kann, um Vorteil zu erlangen:

Wenn es dem Gegenspieler nicht gelungen ist, den Isolani wirksam zu blockieren, dann öffnet ein Vormarsch desselben häufig günstig die Stellung oder verwandelt den Isolani in einen Freibauern. Der Drang, vorwärts zu marschieren, seine Expansionslust, ist ein Charakterzug des Isolani (und darum tut der Gegenspieler gut daran, ihn zu blockieren).

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Die Isolani-Struktur ist eine der wichtigsten, die ein Schachspieler verstehen muss, weil sie aus so vielen Eröffnungen entstehen kann und so häufig vorkommt. Darum haben schon andere Leute Bücher und das Internet zu diesem Thema kenntnisreich vollgeschrieben, und wir wollten uns neulich aus aktuellem Anlass nur darauf beschränken, einige fundamentale Konzepte für die Isolani-Seite und den Gegenspieler anzureißen.

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Aaron Nimzowitsch.

Die “Expansionslust” hatten wir ausgelassen, damit die Angelegenheit nicht ausufert. Aber natürlich begegnete uns in den Tagen danach ein Expansionslust-Beispiel nach dem anderen, als ob uns die versammelte Schachszene des Internets auf unser Versäumnis hinweisen wollte. Nun denn.

Unter anderem veröffentlichte der in Australien lebenden gebürtige Ungar IM Andras Toth auf seinem Youtube-Kanal ein Schachstrategie-Video, das sich ausschließlich dem Vorstoß des Isolani und den damit verbundenen Konzepten widmet. Verweisen wir also auf die Ausführungen von Schachfreund Toth, der drei instruktive Partien zum Thema Expansionslust zeigt.

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Vergangene Woche beim Schachunterricht mit Konstantinos haben wir uns dann die Partie Steinitz-von Bardeleben, gespielt 1895 in Hastings, angeschaut, eine der klassischen Partien, die jeder Schachspieler kennen sollte muss, auch wegen Steinitz’ brillanter Schlusskombination, aber vor allem wegen dieser Stellung:

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Steinitz’ Vorstoß des Isolanis dient in erster Linie der Räumung des Feldes d4, auf dem sogleich der bis dahin beschäftigungslose Sf3 erscheinen und entscheidend ins schwarze Lager eindringen wird. Außerdem hat d4-d5 den angenehmen Effekt, dass er dem Schwarzen das Blockadefeld d5 verstopfen wird, denn Schwarz kann nur mit dem c-Bauern auf d5 schlagen. Dieser Bauer wird in der Folge in erster Linie seine Koordination behindern und dem Weißen die c-Linie öffnen.

Unsere Freunde von chess.com haben vor einiger Zeit den Großmeister Bryan Smith auf das Isolani-Thema angesetzt. Smith fasst die wesentlichen Konzepte zusammen und zeigt eine Reihe wichtiger Partien. Wer Toths und Smiths Ausführungen studiert, der darf hinterher von sich behaupten, dass er sich auskennt. Auch Steinitz-von Bardeleben nahm Smith unter die Lupe. Die von Smith kommentierte Partie lässt sich dort nachspielen.

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Auf eine Schlampigkeit in Smiths Beitrag müssen wir hinweisen. Steinitz’ 16.Tac1 stellt der Großmeister als guten Zug dar: Turm auf die halboffene Linie, die letzte unbeschäftigte Figur ins Spiel, das kann ja zumindest nicht verkehrt sein?!

Wieder so ein Beispiel aus der Abteilung “Wohin mit welchem Turm”.

In Wirklichkeit ist 16.Tac1? schematisch, ein Fehler, der Schwarz die Chance gibt, mit 16…Kf7! seine Türme zu verbinden, den König aus dem Zentrum zu holen und seine Stellung zu reparieren. Nur weil von Bardeleben per 16…c6? Fehler mit Fehler beantwortete, konnte Steinitz seine brillante Attacke reiten.

Im 16. Zug hätte Steinitz antizipieren müssen, dass Schwarz per …Kf7 seine Stellung reparieren will, und er hätte leicht (für seine Verhältnisse) ein taktisches Gegenmittel finden können: 16.Tad1! Nun folgt auf 16…Kf7 17.Dc4+ Sd5 18.Se5+! fxe5 19.dxe5 +-. Es droht e6+ mit Damengewinn, und der Sd5 hängt. Weiß gewinnt.

Die Stellung ist auch ein Beispiel dafür, dass gelegentlich konkrete Erwägungen wichtiger sind als allgemeine. Anstatt sich von Konzepten wie “Turm auf die offene Linie” leiten zu lassen, war es erforderlich, taktisch zu verhindern, dass sich Schwarz befreit: taktische Prophylaxe.

Als hätten wir danach gerufen, erschien sogleich in unserem Schachforum eine Isolani-Stellung zum Thema, entnommen einer Partie von 1978 zwischen den Großmeistern Walter Browne (USA) und Ljubomir Ljubojevic (Jugoslawien).

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Weiß am Zug. Isolani-Wissen allein reicht hier nicht aus. Die Stellung ist konkret.

Hätte Walter Browne sich allein von allgemeinen Konzepten leiten lassen, hätte er schnell herausgefunden, dass die in dieser Struktur oft erstrebenswerten Züge Sf3-e5 und d4-d5 möglich sind, vielleicht sogar gut. Auf Lc4-d5 (das er gespielt hat) wäre er nicht gekommen.

Die Stellung ist konkret, sie birgt allerhand forcierte Varianten. Allein mit Wissen um Isolani-Strukturen lässt sie sich nicht durchschauen.

Für Profis

Wer seine tägliche Rechenübung noch nicht absolviert hat, bitteschön.

Prüfe die Folgen von Se5, d5 und Ld5 (gibt es noch mehr Kandidaten?) und arbeite die darauf folgenden Varianten heraus.

Welcher Zug ist am besten?

Wie bewertest Du die Stellung?

Wer sich einen Teil der Arbeit sparen möchte, der ist faul findet hier ein paar kleine Denkanstöße, bevor er sich auf die Rechenreise begibt.

Viel Spaß!

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[…] Plausibel, aber alles andere als notwendig. Die mit Abstand meisten Weißspieler entscheiden sich an dieser Stelle, per cxd5 eine Isolani-Stellung herbeizuführen. […]

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[…] Isolani begann sich meine Denkblockade zu lösen.Sie verwandelte sich unmittelbar in dichterische Expansionslust inklusive sprachlicher Schnörkel und abseitiger Pirouetten. Nimzowitsch wäre stolz gewesen! Für […]