Von der Romantik bis heute: der ewige Kampf ums Zentrum

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Wilhelm Steinitz

Die frühen Schachmeister Anfang des 19. Jahrhunderts gelten heute als Vertreter der “romantischen Schule”. Seinerzeit ging es beim Schach darum, sich unmittelbar mit allen Kräften auf den gegnerischen König zu stürzen, diesen ins Freie zu zerren und zu erlegen.

Wilhelm Steinitz (1836-1900), der erste Weltmeister, hatte als Romantiker angefangen, ganz Kind seiner Zeit. Später räumte er mit der romantischen Schule ordentlich auf. Als erster verstand und formulierte Steinitz grundlegende strategische Prinzipien, zum Beispiel jenes, dass wir Angriffe dort führen sollten, wo uns der Gegenspieler eine Schwäche offenbart.

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Emanuel Lasker

Steinitz ereilte das Schicksal vieler großer Geister, die ihrer Zeit voraus waren. Er wurde verlacht, seine Ideen nicht ernst genommen. Erst der zweite Weltmeister Emanuel Lasker (1868-1941) und dessen Dauerkontrahent Siegbert Tarrasch (1862-1934) erkannten und propagierten die Bedeutung von Steinitz’ Grundlagenforschung. Seitdem galt Wilhelm Steinitz als Begründer der “modernen Schule”.

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Unter anderem lehrte Steinitz, dass wir zu Beginn der Partie das Zentrum mit einem Bauern besetzen sollten, besser noch mit zwei Bauern. Diese Lehre galt unerschütterlich, bis in den 1920ern unter anderem der Ungar Richard Reti (1889-1929) behauptete, das Zentrum müsse gar nicht besetzt werden. Hauptsache, es werde beherrscht.

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Richard Reti

Reti und seine Jünger, die “Hypermodernen“, luden ihre Gegner ein, sich ein mächtiges Bauernzentrum zu bauen, um es dann so lange unter Druck zu setzen, bis es zerbröselte. Aber ihnen erging es anfangs so wie 40 Jahre zuvor Wilhelm Steinitz, niemand nahm ihre Ideen ernst. “Das haben wir immer schon so gemacht” ist auch anno 2018 noch ein wirksames Scheinargument gegen Veränderung.

Ob Romantiker, Moderne oder Hypermorderne; heute gelten sie alle als die Klassiker, auf deren Schultern wir stehen. Alle Klassiker vereint die Erkenntnis, dass das Zentrum tatsächlich der zentrale Teil des Schachbretts ist. Jede Partie, damals wie heute, beginnt mit einem Kampf um das Zentrum. Wer es beherrscht (und das geht tatsächlich auch aus der Ferne), der steht besser.

Gehört in jede Schachbibliothek: Nachdem Richard Reti ausgangs der 1910er und eingangs der 1920er Jahre einer der dominierenden Spieler gewesen war, offenbarte er mit diesem Buch 1922 das Geheimnis seines Erfolgs. Unumstritten waren die hypermodernen Ideen seinerzeit noch längst nicht. “Kritiker begreifen nicht, dass das, was ihnen ungesund erscheint, der bewusste Anfang einer neuen Schachtechnik ist”, schreibt Reti in seinem Vorwort.

Als sich Anfang 2017 beim Tata-Steel-Turnier in Wijk an Zee der Pole Radoslaw Wojtascek und der Inder Adhiban Baskaran gegenübersaßen, provozierte Adhiban seinen Gegner mit einer Eröffnung (der “Englischen Verteidigung“), die als zweifelhaft gilt, weil sie den Kampf um das Zentrum vernachlässigt.

Radoslaw Wojtaszek – Baskaran Adhiban, Wijk an Zee 2017

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Das Fianchetto …b7-b6 nebst …Lc8-b7 ergibt in dieser und verwandten Stellungen vor allem dann Sinn, wenn Schwarz mit seinem Läufer auf der langen Diagonalen den Weißen davon abhalten kann, sich mittels e2-e4 eine Bauernphalanx im Zentrum zu bauen. Aber hier kann der Weiße ja direkt e2-e4 ziehen. Darum wäre ein solider Zug wie d7-d5 besser gewesen, um selbst eine Bastion um Zentrum abzustecken und e2-e4 zu verhindern.

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Radoslaw Wojtaszek

Gleichwohl zog Wojtaszek, ein Großmeister mit 2.750 Elo, 3.Sb1-c3. Natürlich weiß so ein starker Spieler, dass e2-e4 der beste Zug ist, aber er weiß auch, dass der Weg zum Vorteil mit Fallstricken gespickt ist. Nach 3.e2-e4 Lc8-b7 4.Lf1-d3 f7-f5 wird die Angelegenheit sehr konkret und ziemlich kompliziert. Zwar attackiert Schwarz im Sinne der Hypermodernen das Steinitzsche Zentrum, aber er hat sich eine ungünstige Konstellation eingehandelt. Wenn Weiß alles richtig macht, kann er sein Zentrum stabil halten.

Da der Pole davon ausgehen musste, dass sich sein Gegner vor der Partie stundenlang mit den Komplikationen nach 4…f7-f5 beschäftigt hatte, ließ er sich trotzdem nicht darauf ein, obwohl die Angelegenheit in der Theorie als günstig für Weiß gilt. Schon im dritten Zug ein moralischer Sieg für Adhiban.

Drei Züge später tobte der Kampf um e4 weiter. Mit 6…f7-f5 schob Adhiban dem weißen Zentrumsvorstoß e2-e4 endgültig (?) einen Riegel vor.

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Für Wojtaszek eine schöne Gelegenheit, den Zuschauern zu demonstrieren, was einen Groß- vom Kleinmeister unterscheidet. Wer würde hier nicht automatisch mit 7.Sg1-f3 eine Figur Richtung Zentrum entwickeln? Nur wäre Sg1-f3 ein Fehler, mit dem Weiß die Kontrolle über e4 vollständig aufgibt. Schwarz hätte unmittelbar mindestens ausgeglichenes Spiel.

Für einen Top-20-Spieler ist so eine Stellung, als würden wir ihn das Einmaleins abfragen. Den Springer zu entwickeln, ist ja richtig, aber Wojtaszek zog ihn nach h3. Die Idee ist, f2-f3 und Sh3-f2 folgen zu lassen und dann eben doch e2-e4 durchzusetzen und den Lb7 kaltzustellen. So bewahrt sich Weiß Aussichten auf Vorteil.

Als sich neulich die Überlinger mit den Steißlingern maßen, hätte in einer der Partien auch ein Kampf um e4 und den Wirkungskreis des Lb7 toben sollen.

Jürgen Lerner – Manfred Siems, Überlingen 2018

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So wie bei Wojtaszek-Adhiban kam das schwarze …b7-b6 zu einem unglücklichen Zeitpunkt. Weiß kann direkt e2-e4 spielen und dem weiteren Geschehen gelassen entgegenblicken. Der Denkprozess, der dazu führte, dass der Weiße stattdessen 3.c2-c4 spielte, ist wahrscheinlich weniger komplex als derjenige, der Wojtaszek zu 3.Sb1-c3 veranlasste. 3.c2-c4 ist eher ein Zug aus der Abteilung “Habe ich schon immer so gemacht.” Und Veränderung zuzulassen, von ausgetretenen Pfaden abzuweichen, das wissen wir seit Steinitz, fällt dem Schachspieler nicht leicht.

Drei Züge später hätte sich darum der Schwarze daran erfreuen können, dass sein deplatziertes Fianchetto nun doch Sinn ergibt.

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Er kann den Weißen wirksam von e2-e4 abhalten, indem er den besten und naheliegendsten Zug 6…Sg8-f6 spielt, eine Figur auf ihr natürlichstes, aktivstes, zentralstes Feld entwickelt. Alternativ hätte er auch (wie Adhiban) über 6…f7-f5 nachdenken und sich die Hände reiben können, weil sich der Weiße (anders als Wojtaszek) die Option f2-f3 verbaut hat.

Den Denkprozess, der dazu führte, dass Schwarz den hässlichen Zug 6…Sg8-e7 aufs Brett stellte und 7.e2-e4 erlaubte, können wir leider nicht erklären. Aber letztlich war es gut so, denn die Kontrahenten spielten in der Folge eine Partie mit manchem instruktiven Moment, der sich an dieser Stelle näher zu beleuchten lohnt.

Fortsetzung folgt.

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[…] bemächtigen, ohne seine Struktur zu beschädigen. Außerdem bestreift der Zug das Feld e4, um das in der Eröffnung und im Mittelspiel ein Kampf toben wird. Dieser Kampf ist allerdings in weitaus höherem Maße nur ein Nebeneffekt von 4.Dc2, als es […]

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[…] stellen? Schließt Sergej Freundschaft mit dem Stonewall? Löst sich Jürgen von seinen Schemen? Wird Konstantinos‘ Gehirn den Wandel vom Sieb zum Schwamm vollziehen? Das und mehr wird sich […]

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[…] Reguläres Damenindisch hingegen (1.d4 Sf6 2.c4 e6 3.Sf3 b6) ist in den meisten Varianten von einem Kampf um das Feld e4 gekennzeichnet, das zunächst der Schwarze […]