Die Männer unter 193 Mannschaften an 10 gesetzt, die Frauen unter 181 an 8. Der jetzt veröffentlichten Liste mit mehr als 1800 Spielerinnen und Spielern lässt sich entnehmen, dass beide deutschen Nationalmannschaften bei der Schacholympiade im September in Budapest vorne mitspielen sollten.

„Vorne mitspielen“ mag darauf hinauslaufen, am Ende medaillenbehangen auf dem Podium zu stehen, mag aber auch bedeuten, auf Platz 25 aufzuschlagen. Abseits der nicht vorhersehbaren individuellen Form birgt der Modus Unwägbarkeiten, ebenso die Ausgeglichenheit des Feldes. Wenn fast 200 Teams in 11 Matches eine Rangfolge ausspielen, bedarf es Glück, um eine sehr starke Platzierung zu erzielen.
Viele Experten weisen immer wieder auf die Bedeutung der letzten Runde hin. 2022 in Chennai etwa trafen die Männer mit 15:5 Punkten in der letzten Runde auf die jungen Inder. Theoretisch war für Keymer&Co. sogar eine Medaille möglich. Deutschland verlor, die Inder holten mit 17:5 Punkten Bronze, und die Deutschen fanden sich nach dem 1:3 mit 15:7 auf dem wenig ersprießlichen Rang 18 des Klassements wieder.
Zwei Zielmarken gelten für beide Teams: Eine Medaille wäre ein Riesenerfolg. Zuletzt vor 24 Jahren in Istanbul gelang der deutschen Mannschaft um Artur Jussupow und Robert Hübner ein solcher Coup: Silber. Ein einziges Schacholympia-Gold für Deutschland steht in den Annalen – erzielt 1939 unter irregulären Umständen. Die „großdeutsche“ Mannschaft gewann in Buenos Aires einen Wettbewerb, der nach dem deutschen Überfall auf Polen vor dem Abbruch gestanden hatte.

Ein Erfolg wäre auch eine Platzierung unter den ersten Acht, die dem seit 2023 finanziell auf Kante genähten DSB-Leistungssport und seinen gebeutelten Kaderspieler/-innen einen Geldsegen bescheren könnte. Wird eines der beiden Teams mindestens Achter, besteht eine gute Chance, dass der Schachsport beim DOSB und dem Innenministerium aufgrund des Erfolgs beim „Zielwettbewerb“ Schacholympiade in eine höhere Förderstufe aufsteigt.
Nach dem auch dank Eröffnungstrainer Frederik Svane gewonnenen EM-Silber 2023 zeichnet sich ab, dass die von Bundestrainer Jan Gustafsson eingeführte Konstellation mit Extratrainer auch bei der Schacholympiade 2024 Bestand haben wird. Dem Vernehmen nach hat zwar das DSB-Präsidium aufgrund der akuten Geldnot erwogen, nur zwei aufs Nötigste beschränkte Rumpftruppen (Spieler/-innen plus Bundestrainer) nach Budapest zu schicken, aber davon offenbar Abstand genommen. Dmitrij Kollars ließ jetzt im DSB-TV durchblicken, dass diesmal der knapp nicht nominierte Rasmus Svane als Extracoach mitfährt.
Für Spielerinnen und Spieler läuft die Phase der finalen praktischen Vorbereitung. Vincent Keymer hat schon 2022 als 17-Jähriger die Hoffnung genährt, dass die junge deutsche Mannschaft künftig am ersten Brett gegen stärkste Gegner nicht länger Beton anrühren muss, sondern auf den vollen Punkt spekulieren kann. Aber der 19-Jährige campiert seit Längerem auf einem Leistungsplateau, das eher auf 2700 denn 2750 Elohöhenmetern angesiedelt ist.
Am Sonntag ist Keymer vorzeitig aus dem Superturnier des Schachfestivals Biel ausgeschieden. Zwar hat er mit seinem 1.e4-Sieg über Praggnanandhaa ein Ausrufezeichen gesetzt, aber die Gesamtleistung inklusive 2/10 im Blitzturnier reichte nicht aus, um sich als zumindest Vierter von sechs Spielern für das Finale zu qualifizieren. Alexander Donchenko hingegen, direkt vom Trainingslager in Hamburg angereist, ist im B-Turnier weiter im Rennen.
Frederik Svane und Dmitrij Kollars werden ab dem 10. August als Mitfavoriten im A-Open bei den Dortmunder Schachtagen am Start sein. Vincent Keymer hat ab dem 17. August beim Rubinstein-Festival in Polen die Gelegenheit, sich in Galaform zu spielen.
Das Turnier, das das deutsche Galaturnier sein sollte, steht vor diesen letzten Prä-Olympia-Wochen als Unbekannte mit Ärgernisfaktor im Raum. Die Frage, welche Nationalspieler/-innen dort mitmachen wollen bzw. können, ist knapp vier Wochen vor Beginn der Deutschen Meister- bzw. Masterschaften unbeantwortet.
Dass die Männer eine Deutsche Meisterschaft haben, die Frauen nicht, ist nach außen nicht zu vermitteln. Trotzdem wird es vorerst so bleiben. Beim DSB-Kongress 2024 hat es niemand für nötig befunden, die vollständige Reparatur des wichtigsten deutschen Schachturniers zu beantragen.
Eine solche Reparatur sollte auch Termin und Mindestbedingungen für den Spielort umfassen. Wer je einen Turnierkalender gesehen hat, der weiß, dass Profis angesichts der Terminfülle in den Sommermonaten wenig Zeit haben. Wer sich unter Spielerinnen und Spielern umhört oder Lara Schulzes Blog liest, der weiß, dass eine nicht klimatisierte Sporthalle im Sommer als Schauplatz eines Profischachturniers ungeeignet ist. Außerdem ist Schulze nicht die einzige, die „Zimmer mit Jugendherbergsstandard für eine Deutsche Meisterschaft nicht angebracht“ findet.
Trotzdem findet die Deutsche Meisterschaft 2024 erneut unter diesen dafür kaum geeigneten Umständen zu einer kaum geeigneten Zeit statt, ab dem 19. August in der Sportschule Ruit. Die Folge: Vincent Keymer nimmt nicht teil (Rubinstein-Memorial), Alexander Donchenko auch nicht. Bislang nicht bekannt ist, ob Elisabeth Pähtz, Dinara Wagner, Dmitrij Kollars und Frederik Svane mitspielen. Sie müssten nach der Siegerehrung in Dortmund am 18. August direkt nach Württemberg fahren, um dort am 19. August die Auftaktrunde der Deutschen Meisterschaft zu spielen. Und hätten, wenn die am 27. August beendet ist, 15 bzw. 18 Turnierpartien in 18 Tagen in den KnochenNeuronen.
Zwei Wochen später, am 10. September, beginnt die Schacholympiade. Bekannt ist seit einigen Tagen, mit wem es die Aushängeschilder des deutschen Schachs in Budapest zu tun bekommen. Inklusive Magnus Carlsen, der für seine an sechs gesetzten Norweger das erste Brett hütet, wird im offenen Turnier fast die gesamte Weltelite am Start sein. Bei den Frauen fehlt ein Großteil der Elite, neben den besten Chinesinnen die besten Russinnen oder die ukrainischen Muzychuk-Schwestern. Statt China führen jetzt die traditionell starken Georgierinnen die Setzliste an, dahinter die Inderinnen. Besondere Aufmerksamkeit wird den Engländerinnen mit der neunjährigen Bodhana Sivanandan zuteilwerden.
Im offenen Turnier fehlen nur zwei große Namen. Alireza Firouzja spielt nicht für Frankreich und Hikaru Nakamura nicht für die USA. Schon beim Norway Chess Anfang Juni hatte der Weltranglistenzweite angedeutet, dies könne sein letztes klassisches Turnier 2024 sein. An eins gesetzt ist die Truppe aus den USA mit einem Eloschnitt von 2758 trotzdem – vor den Indern mit ihrer jungen Garde von Weltklassespielern und den Chinesen um Weltmeister Ding Liren.

Trotz ihrer Riesenauswahl an starken Spielern mussten die Inder einen strengeren Auswahlprozess treffen als 2022. Als Gastgeber durften sie vor zwei Jahren jeweils zwei Teams stellen. Diesmal überstanden erwartungsgemäß Gukesh, Arjun Erigaisi und Praggnanandhaa den Cut. Dazu kommen die vergleichsweise erfahrenen Vidit und und Pentala Harikrishna. Nominell ist das Team fast gleichwertig mit den USA, wo an der fünften Position Ray Robson (2700 Elo) den Vorzug vor Hans Niemann (2710, live) bekam.
Der Weltmeister wie der WM-Herausforderer nutzen die Schacholympiade, um sich für das WM-Match wenig später in Singapur vorzubereiten. Abhängig von der Aufstellung könnten beide schon in Budapest aufeinandertreffen. Aber nominell ist nicht gesetzt, dass sie am ersten Brett ihrer Nationalmannschaft spielen. Ding Liren, mit Elo 2745 auf Rang 15 der Weltrangliste abgerutscht, ist in China die Nummer zwei hinter Wei Yi. Gukesh muss sich mit seinen 2766 als Nummer 6 der Welt hinter Arjun Erigaisi einordnen.
Erigaisi hat sich seine 2778 Elo fast ausschließlich bei offenen Turnieren erspielt, eine Leistung, die noch vor kurzem niemand für möglich gehalten hatte. Es ist ja erst ein paar Monate her, da versuchte US-Großmeister Leinier Dominguez im Open von Sitges, sich per Elo fürs Kandidatenturnier 2023 zu qualifizieren. Er brach den Versuch mitten im Turnier mangels Erfolgsaussicht ab. Die Schachszene war sich einig, dass es für Top-10-Spieler kaum möglich ist, in offenen Turnieren Elo zu gewinnen. Nun beweist Erigaisi seit Monaten das Gegenteil.
Die Titelverteidiger aus Usbekistan um Nodirbek Abdusattorov sind an vier gesetzt. Das Team repräsentiert eine der überraschendsten Personalien. Zwar steht schon seit längerem fest, dass Star-Trainer Ivan Sokolov die junge usbekische Riege nicht mehr betreut, aber wer hätte gedacht, dass Exweltmeister Vladimir Kramnik seinen Platz einnimmt. Schachlich mag das ein Gewinn sein, aber Kramniks Neigung, sich lamentierend als Opfer falschen Spiels zu inszenieren, mag der Stabilität des jungen Teams schaden.
Nicht minder überraschend die Nominierung von Igor Kovalenko für die Ukrainer. Seit dem Überfall auf sein Heimatland dient Kovalenko an der Front als Teil einer Einheit, die russische Drohnen bekämpft. Bei der Schacholympiade wird der 35-Jährige der jüngste Spieler einer Truppe ukrainischer Routiniers sein, darunter Wassily Iwantschuk (55). Der hat gerade verkündet, er wolle zurück auf 2700 Elo. Die Ukrainer, gecoacht vom ehemaligen WM-Kandidaten Alexander Beljawski, gehen als Zwölfte der Setzliste in das elfrundige Turnier.
(Titelfoto: Mark Livshitz/ECU)
“Erigaisi hat sich seine 2778 Elo fast ausschließlich bei offenen Turnieren erspielt …. . Die Schachszene war sich einig, dass es für Top-10-Spieler kaum möglich ist, in offenen Turnieren Elo zu gewinnen. Nun beweist Erigaisi seit Monaten das Gegenteil.” Jedenfalls “fast ausschließlich” stimmt dabei schlicht und ergreifend nicht. Seit November 2023 hat er sich von 2713 auf 2778 verbessert, woher kamen diese 65 Elopunkte? +14 beim FIDE Grand Swiss (zwar Schweizer System, aber kein offenes Turnier) insgesamt +21 aus Rundenturnieren (Chennai Masters, Shengzhen Masters, Sigeman, Stepan Avagyan Memorial) – Einladungen bekam er durchaus. insgesamt +26 aus Mannschaftskämpfen (Zweite Bundesliga gegen… Weiterlesen »
“Masterschaft“ ist doch hoffentlich ein Tippfehler oder ?!
Laut Donchenko wird in Ruit aus der Nationalmannschaft der Männer kein weiterer Spieler außer Dmitrij am Brett s(chw)itzen. Er äußert sich im Interview recht klar, dass sowohl der Austragungsort für ihn persönlich eher inakzeptabel ist: https://youtu.be/RIyhW-nQWN0&t=150s Amüsanterweise wurde der ursprüngliche durchaus klickfreudige Video-Titel (“Streamen kommt nur in Frage, wenn man keine Ambitionen im Schach hat” – Alexander Donchenko) gerade äh redigiert.
Den bisherigen Interviews auf https://www.youtube.com/@DeutscherSchachbund zufolge spielen Dmitrij und Lara (trotz Ruit!) die Deutschen Masterschaften mit, Dinara hingegen nicht. In den letzten Minuten kommen jeweils die Turniere bis zum olympischen Saisonhöhepunkt zur Sprache.
[…] Schacholympiade 2024: alle Nationalmannschaften gemeldet / Terminkollisionen im AugustDie Aufstellungen legen die Kapitäne erst kurz vorher fest, aber die Kader für die Schacholympiade sind schon bekannt. Die deutschen Männer könnten als Nummer sieben der Setzliste ins Rennen gehen. […]
[…] Schacholympiade 2024: alle Nationalmannschaften gemeldet / Terminkollisionen im AugustIn der Setzliste sind beide deutschen Teams dank des jüngsten Elo-Aufwinds noch ein wenig nach oben gerückt. […]
Das German Masters war zuvor fast immer im Juli und/oder August – auch letztes Jahr sollte es Ende Juli in Braunschweig stattfinden und wurde dann aus bekannten Gründen auf Dezember kurz vor Weihnachten in Rosenheim verlegt. Wurde der Termin zuvor kritisiert? Terminüberschneidungen mit anderen (internationalen) Turnieren gab es vermutlich schon immer, Spieler(innen) können sich dann auch für das German Masters entscheiden. Ein Grund für diesen Termin ist diesmal wohl auch: parallel Turniere nach Schweizer System (bei den Männern heißt es nun “Kandidatenturnier”), bei denen auch Amateure mitspielen – die können dann eher Urlaub nehmen bzw. Jugendliche haben Schulferien. Kurios natürlich,… Weiterlesen »
Sind Spitzensportkinder eigentlich von der Schule befreit.
Daumen runter für Verbände die Kinder einsetzen. Kinderarbeit ist zumindestens in West-Europa nicht mehr Zeitgemäß.