Einen mehrere Sekunden langen, gleichermaßen scharfen wie prüfenden Blick sandte Magnus Carlsen übers Brett, nachdem Fabiano Caruana im zehnten Zug seinen Turm auf d8 abgestellt hatte. Der Weltmeister stand nun vor einem Dilemma: Würde er die offensichtliche und prinzipielle Fortsetzung spielen, dann geriete er wahrscheinlich in einen von Caruana in Heimarbeit vorbereiteten Dschungel von taktischen Fallstricken. Würde er etwas anderes ziehen, wäre die Aussicht auf Eröffnungsvorteil wahrscheinlich schon dahin.
Magnus Carlsen entschied sich für die sichere Variante – und hatte im höheren Sinne schon mit dem wenig kräftigen 11.Le2 seinen Anzugsvorteil weggeschenkt. Wir schauen uns heute an, was Fabiano Caruana wahrscheinlich vorbereitet hatte, sollte Carlsen den prinzipiellen Weg einschlagen – inspiriert vom Schachjournalisten IM Stefan Löffler. Der verbreitete nämlich einige Zeit nach der Partie auf Twitter eine mögliche Variante, in der der Weltmeister nach 21 Zügen matt gewesen wäre.
Außerdem heute unser WM-Test, eine Sonderedition der Schachschule sozusagen. Wir haben nämlich anhand der späteren Ereignisse in dieser zweiten Matchpartie etwas über Turmendspiele gelernt. Ihr auch? Findet es am Ende dieses Beitrags heraus.
Carlsen, Magnus (2.835) – Caruana, Fabiano (2.832)
WM-Match 2018, 2. Partie, Damengambit
1. d4 Nf6 2. Nf3 d5 3. c4 e6 4. Nc3 Be7 5. Bf4 O-O 6. e3
6… c5
(6… Nbd7 7. c5 ist der andere große Komplex, dessen strategische Implikationen wir unlängst bei der Besprechung des “c4-c5-Dilemmas” ein wenig beleuchtet haben.)
7. dxc5 Bxc5 8. Qc2 Nc6 9. a3 Qa5
Die Da5 und der Lc5 stehen ein wenig exponiert da. Mittelfristig bieten diese beiden dem Weißen ein Ziel, aber kurzfristig kreieren sie dem Schwarzen konkretes Spiel, dem der Weiße erst einmal vorbeugen muss. Denn auch der vorerst im Zentrum festgenagelte weiße König ist ein Ziel, das der Schwarze im Auge hat: …d5-d4 liegt in der Luft, auch …Se4 ist eine Option, und schwarze Möglichkeiten wie …Sb4 oder …Lb4 muss Weiß wegen der Fesselung auf der a-Linie zumindest kurz prüfen, bevor er sie als wenig ergiebig abhakt.
10. Rd1
Löst die Fesselung auf der a-Linie auf, stemmt sich gegen …d5-d4. Derart stabilisiert, steht Weiß nun bereit, dem Schwarzen per Sf3-d2(-b3) eine konkrete und sehr ernsthafte Frage zu stellen, bevor er seine Entwicklung beendet.
(10. O-O-O Kasparows Zug löst unmittelbar das Problem des im Zentrum verweilenden Königs. Der Faktor Zeit spricht dafür, der Faktor Königssicherheit nur begrenzt. Auf dem Damenflügel könnte es im Lauf der Partie sehr schnell sehr heiß werden. Außerdem ist mit dem König auf c1 b2-b4 nebst Bauerngabel jetzt nicht mehr Teil der weißen Pläne. Andererseits kann Weiß nun sofort per g2-g4 am Königsflügel losrollen.)
(10. Nd2 Das Standardmanöver geht auch sofort. Strebt nach b3, löst die Fesselung auf der Diagonale a5-e1 auf, betont die tendenziell wackelige Aufstellung der Da5/Lc5-Kombo.)
10… Rd8
Ein Zug aus der Mottenkiste, aber von Team Caruana getunt mit Computeranalyse. So spielten sie schon in den späten 1960ern, um möglichst bald … d5-d4 durchzudrücken. Der Zug verlor bald an Attraktivität, als die Schwarzen …d4 zurückstellten und sich der Idee zuwandten, stattdessen erst einmal mit …Te8 …e6-e5 vorzubereiten.
(10… Re8 Weicht nicht zurück, sondern bereitet seinerseits konkrete Fragestellungen vor, die schärfste Erwiderung. 11. Nd2 e5 12. Bg5 Nd4 mit wilden Verwicklungen spielten schon Karpow-Kortschnoi anno 1978. Auch Magnus Carlsen hatte diese Stellung schon mit Weiß auf dem Brett – vor fast genau einem Jahr gegen Hikaru Nakamura, dem eifrigsten Verfechter dieses Abspiels.)
(10… Be7 Geht präventiv Sf3-d2-b3 oder b2-b4 aus dem Weg, die ruhigere Alternative zu 10…Te8.)
11. Nd2
Wäre der naheliegende, logische und wahrscheinlich beste Zug. Und damit auch derjenige, den Team Caruana vor dem Match mit Maschinenhilfe am gründlichsten durchleuchtet haben dürfte. Was Caruana wahrscheinlich geplant hatte, findet sich in Ansätzen schon in der Steinzeit des Schachs, als Schach spielende Maschinen noch eine kühne Vision waren.
(11. Be2 Magnus Carlsen wittert Computervorbereitung. Um nicht in einer superscharfen Stellung in eine präparierte Variante zu laufen, verzichtet der Weltmeister auf den prinzipiellen Zug 11.Sd2. In die Nähe eines Vorteils kommt er danach nicht mehr.)
11… d4
Zwingt Weiß zu 12.Sb3, aber führt das nicht zu weißem Vorteil…
(11… dxc4 wäre die Alternative.)
12. Nb3 Qb6 13. Na4
…weil nun dem Schwarzen eine Figur verloren geht?
13… Bb4+! 14. axb4
(14. Ke2 Qa6)
14… Qxb4+ 15. Nd2 Qa5
Schwarz hat die Zeit, das Feld b4 zu räumen, um per …Sb4 weitere Kräfte heranzuführen. Weiß steht zwar mit einer Mehrfigur da, kann aber weder seine Kräfte koordinieren noch den König aus dem Zentrum bekommen. 16.Le2? zum Beispiel scheitert an 16…d3.
Neu ist diese Angelegenheit immer noch nicht, aber vergessen womöglich. Schon 1967 und 1969 sahen die Großmeister Aivars Gipslis und Predrag Ostojic diese Stellung aus der schwarzen Perspektive.
16. b3
Stabilisiert den Sa4, so dass die Dame ziehen kann.
16… Nb4 17. Qb1 e5 18. Bg5 Bf5!
19. Qxf5??
(19. e4 Hält die Stellug objektiv unklar, aber 19… Nxe4! möchte kein Weißspieler gegen einen bis in die Haarspitzen präparierten Gegner auf dem Brett haben.)
19… e4 20. Qxa5 Nc2+ 21. Ke2 d3#
Und darum hat Magnus nicht 11.Sd2 gezogen 😉
Jetzt der WM-Test.
Angenommen, Euer Leben stünde auf dem Spiel, und Ihr müsstet es beim Schach verteidigen, indem Ihr ein Turmendspiel mit Minusbauer remis haltet. Ihr dürft Euch sogar aussuchen, welches Endspiel Ihr verteidigen wollt.
Entweder dieses:
Oder dieses:
Frage 102
Für welche Stellung würdet Ihr Euch entscheiden? Warum?
Variante 2 ist besser, der Doppelbauer verhindert praktisch zu 100 % eine Freibauerbildung
[…] Aufgabe 102: Der WM-Test […]