Tarrasch und sein Lieblingsfeind

Den Beinamen “Praeceptor Germaniae” (Lehrmeister Deutschlands) hat sich Dr. Siegbert Tarrasch (1862-1934) redlich verdient. Ein Leben lang hat er schachlich publiziert und mit seinem Lehrbüchern Generationen von Schachjüngern in die Feinheiten unseres Spiel eingeweiht. Nur sein Lieblingsfeind Aaron Nimzowitsch wollte die Lehren des Doktors partout nicht annehmen. Nimzowitsch, Vertreter der “Hypermoderne“, hielt Tarraschs klassische Sicht der Dinge für überholt. Öffentlich haben die beiden unzählige Sträuße ausgefochten, Spitzen aufeinander abgefeuert, Beleidigungen gar.

Genauso wie aus heutiger Sicht Nimzowitschs “Mein System” (1927) mit Vorsicht zu genießen ist, verhält es sich mit Tarraschs “Die moderne Schachpartie” (1912) oder “Das Schachspiel (1931). Diese Bücher entstanden zu einer Zeit, als zahlreiche Geheimnisse des Spiels gerade erst gelüftet waren, andere noch unentdeckt; als die “Hypermodernen” die klassischen Lehren ordentlich umkrempelten und sich die Lager unversöhnlich gegenüber standen, anstatt ihre Lehren zu vereinen.

Tarraschs “Das Schachspiel” (1931) hat ein wenig Staub angesetzt, funktioniert aber neben seinem historischen Wert weiterhin als Lehrbuch. Und bei weitem nicht als das schlechteste.

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Und doch haben beide Werke Substanz. Im modernen Schach ist kein Konzept, kein Leitsatz derart in Stein gemeißelt, wie Tarrasch oder Nimzowitsch sich das vorgestellt haben. Aber wer heute die Werke dieser alten Meister nach fundamentalen Fehlern durchforstet, der wird kaum Beute machen. Beide wussten durchaus, wovon sie sprachen, auch wenn sich ihre Perspektiven unterschieden.

Über den Springer etwa schrieb Tarrasch in “Das Schachspiel”: “Der Springer ist hauptsächlich zum Angriff geeignet und muss deshalb soweit wie möglich ins oder wenigstens ans feindliche Lager vorgebracht werden, allerdings nicht in der Eröffnung. Da soll er womöglich nur einen Zug machen, und zwar auf die dritte bzw. sechste Reihe, weil er von dort schon ins feindliche Lager hineinschaut. Im Zentrum, auf e5 bzw. e4, von einem Bauern gedeckt, bildet er einen starken Vorposten. Am Rande hingegen steht er meist schlecht, weil er da zu wenig Felder beherrscht. Ebenso ist nach meiner Erfahrung ein weißer Springer auf b3, ein schwarzer auf b6 meist schlecht postiert.”

Fast 100 Jahre später können wir das so stehen lassen. Aus Tarraschs Ausführungen haben sich reihenweise Leitsätze für Schach-Novizen entwickelt, etwa “Springer brauchen Stützpunkte” oder der Dauerbrenner “Springer am Rande bringt Kummer und Schande”.

Als neulich der SC Überlingen in Engen antrat, saß Jürgen ein Spieler gegenüber, der seinen Tarrasch nicht gelesen hatte.

Frage 19

Jürgen Lerner – Michael Hein, November 2017

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Gerade hat der Schwarze seinen Gaul von d5 nach b6 zurückbeordert, obwohl er ja dort laut Tarrasch “meist schlecht postiert” steht. Es bedarf nun keines Großmeistertitels, um zu sehen, wie der Weiße fortsetzt.

Hier wären sich sogar Tarrasch und Nimzowitsch einig. Was zieht Weiß, und zwar automatisch und fast ohne nachzudenken?

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[…] einiger Zeit haben wir im Beitrag „Tarrasch und sein Lieblingsfeind“ einen Kulturkampf beleuchtet, ausgefochten eingangs des 20. Jahrhunderts zwischen den […]

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[…] ging es mit …Sd7-b6, obwohl wir ja schon vor Wochen von Siegbert Tarrasch gelernt haben, „dass ein Springer auf b3 oder b6 meistens schlecht steht“. Und es waren dringendere […]

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[…] mehr Schachmeister, Caro-Kann mit 2.Sc3 und 3.Sf3 (oder andersherum) zu bekämpfen. Unser Freund Siggi Tarrasch zum Beispiel fand den Ansatz einleuchtend: Weiß beschleunigt seine Entwicklung und bleibt derweil […]