Aus deutscher Sicht begann das Schachjahr 2021 mit einem lange nicht dagewesenen Highlight: Alexander Donchenko ereilte eine Einladung zum Tata Steel Chess, dem alljährlichen Superturnier in Wijk an Zee an der niederländischen Küste. Dort hatte zuletzt 2014 mit Arkadij Naiditsch ein Deutscher im Kreis der Weltelite mitspielen dürfen.
Für Donchenko war es eine Premiere unter außergewöhnlichen Umständen. Erst zwei Tage vor Turnierbeginn erfuhr er, dass er mit von der Partie ist: Den stärksten Wettbewerbs seines Lebens würde der 22-Jährige ohne Vorbereitung absolvieren müssen – und ihn mit einer zehntägigen Quarantäne beginnen.
Im Interview lassen wir das Tata Steel Chess 2021 aus Alexander Donchenkos Sicht ausführlich Revue passieren, vom Fehlstart bis zum Reinbeißen ins Turnier, von der Corona-Isolation bis zu sportlichen Lehren, die Donchenko aus dem Geschehenen zieht.
Alexander, wie geht’s dir?
Ich erhole mich.
Psychisch? Physisch?
Physisch nicht mehr, das Turnier ist ja einige Zeit vorbei, aber direkt danach war ich auch körperlich platt. Während so eines Wettbewerbs investierst du alles, was du hast, um während der Partien maximale Leistung zu bringen. Für ein paar Tage oder Wochen lässt sich das durchhalten, aber irgendwann kommen die Nachwirkungen. Und die spürst du auch körperlich.
Die Einladung nach Wijk erreichte dich aus heiterem Himmel?
Absolut. Drei Tage vorher hatte ich keine Ahnung, zwei Tage vorher eröffnete sich die Option mitzuspielen. Das war sehr plötzlich.
Wie bist du diese Aufgabe angegangen? Normalerweise weißt du Wochen vorher, was auf dich zukommt, kannst dich vorbereiten und darauf einstellen. Jetzt galt es, von heute auf morgen präsent zu sein.
Am problematischsten fand ich die Notwendigkeit, im Kopf den Schalter auf Turniermodus umzustellen. Schachlich war das zu bewältigen. Ich bin ein ganz vernünftiger Spieler, ich kenne meine Eröffnungen – wie sich ja im Turnier gezeigt hat. In den meisten Partien hatte ich in der Eröffnung keine oder kaum Probleme. Aber ich hatte mich halt nicht wie sonst auf das Turnier einstellen können. Normalerweise richte ich vorher mein Leben darauf aus, dass ich zu einem bestimmten Zeitpunkt bereit sein muss. In den Tagen vorher zum Beispiel vermeide ich alles, was mental belastend sein könnte. Für mich ist das sehr wichtig. Und darum hatte ich anfangs Schwierigkeiten, ohne dass mir diese Schwierigkeiten vollständig bewusst waren. Ich hätte die Partien ja anders angehen können, zum Beispiel versuchen, mit Weiß gegen Caruana forciert remis zu machen.
Als Zuschauer hat mich schon dein erster Zug des Turniers überrascht, 1…e5 gegen Grandelius.
Das war nicht das erste Mal, dass ich 1…e5 gespielt habe.
Trotzdem eine Ausnahme.
Ich mache das ja nicht beliebig oder weil ich Lust darauf habe, sondern weil ein Repertoire dahintersteckt und ich auf bestimmte Varianten abziele. Das Repertoire zu erweitern, finde ich immer nützlich. Künftige Gegner müssen sich darauf einstellen, dass ich auch 1…e5 ziehen kann. Für sie bedeutet das mehr Arbeit.
Jemand wie Nils Grandelius ist für dich noch ein normaler Gegner, wie er dir regulär gelegentlich begegnet. Am Tag danach bekamst du es mit Fabiano Caruana zu tun, Nummer zwei der Welt. Fühlt sich das anders an?
Als ich vor zwei Jahren zum ersten Mal gegen Magnus Carlsen gespielt habe, war das etwas Besonderes. Vor der Partie musste ich mich gezielt beruhigen. Seitdem habe ich mich an solche Situationen gewöhnt. Caruana ist allerdings nicht das beste Beispiel für Ausnahmegegner. Er hat keine besondere Aura am Brett, sondern spielt einfach nur sehr gute Züge, und davon einen nach dem anderen. In dieser konkreten Partie hätte es mir wahrscheinlich geholfen, ich hätte ihn mehr als Ausnahmegegner wahrgenommen.
Inwiefern?
Normalerweise gehe ich davon aus, dass es sich auszahlen wird, gewisse Risiken einzugehen, denn der Gegner wird Fehler machen. Dieses war ein Gegner, der keine Fehler macht. Eigentlich mag ich das, ich spiele Schach, um mich mit solchen Leuten zu messen. Nur war ich am zweiten Turniertag noch nicht vollständig angekommen. Und ich hätte mir eingestehen müssen, dass ich an so einem Tag gegen jemanden wie Fabiano Caruana meine Chancen verschlechtere, wenn ich eine möglichst interessante Partie zulasse. Ein Fehler.
Eine Lehre?
Schon. Ich nehme ganz viele Lehren von diesem Turnier mit. Die meisten sind zu speziell, als dass ich sie hier erklären könnte. Andere sind offensichtlich. Hätte ich zum Beispiel vorher ein wenig mehr Zeit gehabt, wäre ich darauf gekommen, dass ich jemanden brauche, der mich begleitet.
Einen Sekundanten?
Einen Begleiter. Lass mich aufzählen, wer alleine da war: Donchenko, Tari, Harikrishna, MVL, Anton und Grandelius. Gleiche diese Liste mit dem Tabellenstand ab, und du stellst fest, sie sind alle in der zweiten Hälfte gelandet.
Ihnen fehlte der soziale Kontakt, der Austausch.
Genau. Ich fahre ja oft alleine zu Turnieren, aber da gehst du halt abends mit jemandem essen oder unternimmst etwas gemeinsam. In Wijk war das komplett anders. Die ersten zehn Tage war ich in Quarantäne, und danach hat sich gegenüber der Quarantäne kaum etwas geändert. Ich war drei Wochen quasi ganz alleine. Das geht auf die Psyche. Eine Begleitung wäre unheimlich wichtig gewesen. Idealerweise natürlich ein Sekundant, der auch noch schachlich helfen kann, aber auch ein vertrauter Mensch ohne Schachkenntnisse wäre wertvoll gewesen. Carlsen, Esipenko und Firouzja zum Beispiel waren mit ihrem Vater da.
Noch eine Lehre.
Eigentlich eine abzusehende. Aber mir kam einfach nicht der Gedanke, weil ich keine Zeit hatte, mir Gedanken zu machen. Ich musste quasi sofort packen, dann wurde ich abgeholt, dann ging es auch schon los.
Wie waren die Abläufe in Wijk? Ihr wart ja mehr oder weniger kaserniert.
Offiziell durfte ich spazieren gehen. Ein Spaziergang gilt offenbar für professionelle Schachspieler als Trainingsmaßnahme. Das habe ich auch genutzt, ich wollte ja nicht ausschließlich in meinem Zimmer sitzen. Aber tatsächlich gab es nichts zu tun. Restaurants hatten geschlossen, auch das im Hotel. Mein Essen habe ich an der Rezeption abgeholt und bin damit aufs Zimmer gegangen. Das war alles sehr monoton.
Du standest bei 0/2, dann Schwarz gegen Giri, und die Fans daheim sahen schon die lange Rochade kommen. Aber du hast eine superstabile Partie abgeliefert. Damit warst du angekommen.
Das Gefühl, angekommen zu sein, hatte ich schon nach der Partie gegen Caruana. Ich sah ja in aller Klarheit, was falsch gelaufen war: An dem Tag war ich tatsächlich noch nicht vollständig da, konnte nicht besser spielen, also hätte ich mir das bewusst machen und die Partie nicht so scharf anlegen dürfen. Das Remis gegen Giri war aus meiner Sicht keine große Überraschung.
Danach Schwarz gegen Carlsen, die schwierigste Aufgabe, die es im Schach gibt. Eine komplexere Partie als die gegen Giri, Carlsen hatte immer ein bisschen Druck, aber letztlich dasselbe Ergebnis: souveränes Schwarzremis, ohne zu wackeln.
Ob Giri oder Carlsen, solche Spieler sind natürlich sehr stark, aber sie müssen sich auch an die Regeln halten. Sie können nichts gänzlich Unerwartetes machen. Die Partie war länger und intensiver als die gegen Giri. Carlsen hat kontinuierlich sehr gute Züge gespielt und mich gezwungen, permanent wachsam zu sein und auf hohem Niveau dagegenzuhalten. Für Beobachter war das wahrscheinlich nicht so spannend, aber aus meiner Sicht war es wahrscheinlich die beste Partie, die ich in Wijk gespielt habe. Vielleicht hat unbewusst geholfen, dass eine Partie gegen Carlsen noch einen Extramotivationsschub bewirkt. Er ist nun einmal der Weltmeister und der Beste, den es gibt.
Die Weißpartie danach gegen Firouzja war messerscharf. Warst du an dem Punkt so voller Vertrauen in deine Stärke, dass du auf diese Weise den ersten vollen Punkt holen wolltest?
Es zu so einer Partie kommen zu lassen, war eine bewusste Entscheidung am Brett. Wir hatten, glaube ich, beide keine Ahnung von dem, was in der Eröffnung passiert. Ich sah, dass ich in die Noteboom-Variante überleiten kann und wusste, dass das zu sehr scharfen Stellungen führt. Ich wusste aber auch, dass Noteboom für Schwarz keine klare Ausgleichswaffe ist wie das Orthodoxe Damengambit oder dergleichen. Weiß hat objektiv einen kleinen Vorteil, aber dafür muss er sich auf diese Komplikationen einlassen. Dazu war ich bereit.
Ein Fehler, ähnlich wie gegen Caruana?
Würde ich nicht sagen, zumindest ist das nicht so klar. Natürlich ließe sich argumentieren, dass es keinen Sinn ergibt, sich gegen Firouzja in einen solchen Dschungel zu begeben. Ich habe es halt gemacht, ich hatte ja auch Chancen. Was genau in dieser Partie passiert ist, kann man wahrscheinlich nur verstehen, wenn man sie gespielt und gespürt hat, was der andere fühlt.
Was war und ist passiert, als Alireza Firouzja 32…b2 gespielt hat?
Da waren wir beide schon in Zeitnot. Objektiv oder nach Engine-Maßstab sah es an der Stelle sehr gut für ihn aus. Aber ich habe gefühlt, dass er nicht …b2 spielt, weil er denkt, er steht auf Gewinn, und es ist fast egal, was er zieht. Natürlich habe ich gesehen, dass ich mit dem Läufer auf b2 nehmen und wahrscheinlich remis machen kann. In Zeitnot kommen einem leider manchmal doofe, impulsive Ideen, und ich habe mit der Dame auf b2 geschlagen. Das war ein Versuch, auf mehr als Remis zu spielen. Hätte es sich für mich nicht angefühlt, als wäre er unzufrieden, wäre mir dieser Gedanke womöglich gar nicht gekommen. Meine Fehlentscheidung nach seinem …b2 war auch das Resultat dessen, was vorher zwischen uns passiert war. Okay, hätte ich gesehen, dass mein König ins Freie laufen muss, hätte ich Dxb2 natürlich auch nicht gespielt.
Was war seine Motivation, dir die Chance 33.Lxb2 zu geben?
Ihm gefiel seine Stellung nicht, er wollte grundsätzlich etwas verändern. Zumindest nehme ich das an, so habe ich es am Brett empfunden.
Habt ihr analysiert? Ging das überhaupt unter diesen Umständen?
Mit Firouzja habe ich nicht analysiert, aber die Möglichkeit hatten wir. Mit einigen Gegnern habe ich mich noch am Brett ausgetauscht. Aber es gab auch ein Analysebrett im Interviewbereich. Mit David Anton und Jorden van Foreest habe ich dort unsere Partien nochmal angeschaut.
Die Partie gegen David Anton war aus Beobachtersicht mysteriös. Die Notation erzählt von einem schnellen, ereignislosen Remis, aber die Maschine sagt, du stehst im höheren Sinne auf Verlust …
(Wird fortgesetzt. Im zweiten Teil des Interviews erklärt Alexander Donchenko das Drama gegen den WM-Kandidaten Maxime Vachier-Lagrave, berichtet von einem mysteriösen Klopfen im Hotelflur und analysiert, wie wichtig die Wijk-Erfahrung für seine Entwicklung als Spitzengroßmeister ist.)
Gutes Interview, bin schon gespannt auf Teil 2. Und ausgezeichnete Partienanalysen.
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