“MVL war auf Tilt”: Wijk-Rückblick mit Alexander Donchenko (II)

Jede Partie ausspielen. Bis zum Ende versuchen, Gewinnchancen zu kreieren. Diese Attitüde sei einer der Faktoren, die Magnus Carlsen so stark machen, sagt Alexander Donchenko. “Und das habe ich mir bei ihm abgeschaut.”

Auch beim Tata Steel Chess in Wijk an Zee, dem ersten Superturnier seiner Laufbahn, blieb Alexander Donchenko dieser Linie treu. Er hätte ja manchen halben Punkt einfach nehmen können. Aber selbst gegen die in Wijk versammelten Elitespieler verschmähte Donchenko jegliche Friedensangebote, kämpfte alles aus – und wurde mit mancher Null bestraft.

Im ersten Teil des Interviews mit Alexander Donchenko haben wir über ein Turnier ohne Vorbereitung gesprochen, über Lehren aus dem Geschehenen, und wir haben die erste Hälfte des Wettbewerbs Revue passieren lassen. Heute besprechen wir die zweite Hälfte, insbesondere das Drama gegen den WM-Kandidaten Maxime Vachier-Lagrave, eine eigentlich gewonnene Partie, die am Ende eines langen Kampfes sogar noch verloren ging.

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Konzentration vor der Partie. | Alle Fotos: Jurriaan Hoefsmit/Tata Steel Chess

Alexander, deine Partie gegen David Anton war aus Beobachtersicht mysteriös. Die Notation erzählt von einem schnellen, ereignislosen Remis, aber die Maschine sagt, du stehst im höheren Sinne auf Verlust …

… das stimmt. Mit dem Computer lässt sich schlecht streiten.

Anton vs. Donchenko: Weiß hat einen schönen Grip am Damenflügel, die Ziele e7 und b7 im Visier, und er erfreut sich eines in beide Bretthälften strahlenden schwarzfeldrigen Läufers. Schwarz scheint währenddessen auf bestem Wege zu sein, Spiel gegen den weißen König zu organisieren. Aber das sieht leider nur so aus. Versucht er jetzt 22…h4, geht das nach hinten los. Tatsächlich steht Schwarz im höheren Sinne auf Verlust.

Wie kann es zwischen zwei so starken Spielern zu so einer Konstellation kommen? Der eine steht platt, der andere auf Gewinn, und dann wird es schnell remis.

Wir haben durchaus beide verstanden, dass Weiß nach meiner missratenen Eröffnung Vorteil hat. Auch, dass Weiß nicht die h-Linie öffnen darf, haben wir verstanden. Am Brett war ich sehr überrascht, als er das trotzdem zugelassen hat. Dass Weiß fast auf Gewinn steht, war uns allerdings nicht klar. Ich habe durchaus gesehen, dass ich fast kein Gegenspiel habe und darauf warten muss, dass er mir eine Chance gibt. Der Computer sieht an der Stelle schon, dass Weiß mehr oder weniger die perfekte Kontrolle über die Stellung hat. Zwischen Menschen ist das allerdings nicht so klar.

Dann das Drama gegen MVL, gefolgt von einem Ruhetag, an dem du dich von morgens bis abends über die verpasste Chance ärgern kannst.

So dramatisch war es aus meiner Sicht gar nicht. Ärgerlich natürlich, dass ich verloren habe, aber es war die Partie, die ich im schlechtesten Zustand gespielt habe.

Warum?

Ich hatte extrem schlecht geschlafen, ein Problem, das ich erst spät im Turnier gelöst habe. Wenn starker Wind war, und der weht in Wijk meistens, hat mein Fenster nachts geknackt. Dieses Problem zu beheben, gelang mir schließlich, indem ich die Tür zum Balkon einen Spalt geöffnet habe. Aber dann ergab sich ein neues Problem, und das war insbesondere vor der Partie gegen MVL akut: eine Art Klopfen, das nicht aufhören wollte und das ich nicht identifizieren konnte. Am Tag der Partie bin ich morgens um 6 aufgewacht und konnte wegen dieses Klopfens nicht wieder einschlafen.

MVL versus Alexander Donchenko. Klick auf “Play” startet die kommentierte Partie. Hier klicken, um direkt zur Stellung zu springen, in der Alexander Donchenko sich für 22… Tb5 entschied.

Du saßt übermüdet am Brett.

Deswegen war ich froh, dass sich die Partie anfangs nicht allzu konkret entwickelte und ich weitgehend nach Stellungsverständnis spielen konnte. Mir war klar, dass ich an diesem Tag nicht rechnen kann, und ich wusste, dass es schwierig wird. Aber dann kam der Punkt, an dem ich den Gewinn ausrechnen musste …

… und der kam erstaunlich früh. Was war mit dem WM-Kandidaten MVL los?

Ich glaube, er hatte das Turnier schon aufgegeben und die Partie auch. Als ich …d4 und …c4 spielte und klar besser stand, hat MVL einfach schnell und schlecht weitergespielt. Er war “auf Tilt“, wie man im Englischen sagt. MVL stand neben sich, bis er merkte, dass ich Probleme habe, die Partie zuzumachen. Dann hat er sich zusammengerissen.

22…Tb5. Positionell ist das nicht zu erklären, taktisch durchaus: Schwarz zwingt die unter Atemnot leidende weiße Dame nach a4, und Schwarz muss nur noch …Dc3 (mit Tempo) nebst …Ta5 folgen lassen, schon ist die weiße Dame gefangen. Superidee, funktioniert leider nicht.

22…Tb5 sollte die Partie zumachen?

Ursprünglich wollte ich 22…Dc1 spielen mit Tricks auf der Grundreihe, aber das funktioniert wegen Txd2 nicht. Deswegen …Tb5, er muss Da4 spielen, dann …Dc3 nebst …Ta5 und Damenfang, so hatte ich das geplant. Aber an der Stelle geht natürlich auch Txd2. Dass ich solche banalen Sachen übersehe, sagt einiges über meinen Zustand an diesem Tag. Später im Endspiel hätte ich einfach remis annehmen sollen.

MVL hat angeboten?

Ja, nach 35.Kf2, aber ich dachte, ich stehe noch ein bisschen besser und kann ohne großes Risiko weiterspielen. Gegen Ende der Partie war ich ziemlich erschöpft und habe mich einfach verrechnet. 57…Kf8 hätte gehalten, das habe ich auch gerechnet, aber mir war nicht klar, wie es nach 58.Dd3 Ke7 59.Dd4 weitergeht. An der Stelle habe ich keinen Zug für Schwarz gesehen, deswegen 57…De8, ich dachte, das wird auch remis. Wäre mir aufgefallen, dass 57…De8 verliert, hätte ich in der Variante mit 57…Kf8 wahrscheinlich 59…Ke6 gefunden, das wäre machbar. Aber ich hatte keinen Anlass, danach zu suchen.

Hat sich wenigstens das Problem mit dem mysteriösen Klopfen aufgelöst?

Ich habe mich bei der Rezeption beschwert, dass ich so nicht schlafen kann. Es kam dann jemand auf mein Zimmer und hat sich das angehört. Es stellte sich heraus, dass der Aufzug schuld war. Wenn der in meiner Etage hielt, klopfte es, und dieses Klopfen hallte bis in mein Zimmer. Ich habe mir dann ein anderes Zimmer geben lassen, weit weg vom Aufzug.

Noch in der Nacht vor der Partie?

Nach der Partie. In den folgenden Nächten habe ich viel besser geschlafen. Wäre das Tata Steel Chess nicht mein erstes Turnier dieser Art gewesen, ich hätte das Problem mit dem knackenden Fenster und dem klopfenden Aufzug gleich am ersten Tag gelöst. Um gut zu spielen, musst du ausgeruht sein, und dafür brauchst du ideale Umstände. Ich hatte aber viel zu viele andere Dinge im Kopf, bevor ich diese Sachen angegangen bin, die vielleicht lächerlich klingen, aber ganz wesentlich sind.

Harikrishna vs. Donchenko. Klick auf “Play” startet die kommentierte Partie.

Gegen Harikrishna wiederholte sich, was gegen MVL nach 35.Kf2 passiert war: Du kannst remis machen, hast aber einen symbolischen bis kleinen Vorteil und spielst weiter. Als mitfiebernder Beobachter war ich stark beeindruckt, dass du trotz all der Nackenschläge zuvor wieder auf den vollen Punkt gehst. Und umso bitterer berührt, als am Ende wieder eine Null stand.

31… Tc8 32.Tb7 Tc7 32.Tb8+ Tc8 und remis wegen Zugwiederholung: So hätte die Partie enden können. Alexander wollte mehr, nicht zu Unrecht, er hat ja einen entfernten Freibauern. Und so spielte er 31… Ke7. Allerdings steht Weiß angesichts des unsicheren schwarzen Königs und seiner aktiven Figuren nicht wehrlos da.

Ich spiele gegen jeden Gegner bis zum Schluss und versuche bis zum Schluss, Chancen zu kreieren. So spiele ich prinzipiell in jedem Turnier, eine Attitüde, die ich bei Magnus Carlsen abgeschaut habe, eines der Dinge, die Carlsen so stark machen. So habe ich auch in Wijk gespielt. Aber in diesem Turnier gegen dieses Gegnerfeld unter teilweise nicht idealen Umständen hätte ich an einigen Stellen von meiner üblichen Kompromisslosigkeit Abstand nehmen müssen. Darauf war ich nicht eingestellt. Das ist aber nur eine generelle Einschätzung. Die Entscheidung, gegen Harikrishna weiterzuspielen, halte ich auch im Nachhinein für vertretbar. Danach hätte ich praktischer spielen müssen. Zum Beispiel konnte ich an einer Stelle die Züge wiederholen, um der Zeitkontrolle näherzukommen. Aber ich hatte etwas mehr Zeit auf der Uhr und wollte lieber seinen Zeitdruck aufrechterhalten. Verloren habe ich letztlich wegen einem Rechenfehler.

Gegen Esipenko, das war nicht ich. Das kann ich besser.

Am Ende gegen Esipenko warst du wahrscheinlich endgültig angeschlagen.

Wahrscheinlich. Wäre das Turnier mit der Harikrishna-Partie zuende gewesen, ich wäre sogar einigermaßen zufrieden. Natürlich war das Ergebnis nicht gut, aber ich habe jede Partie so durchgezogen, wie ich mir das vorgestellt hatte, und mein Bestes gegeben, auch wenn mir mancher Fehler passiert ist. Gegen Esipenko, das war nicht ich, das kann ich besser. Die Stellung, mit der ich aus der Eröffnung komme, verliere ich normalerweise nicht, nicht gegen Esipenko, nicht gegen jeden anderen. Eigentlich wollte ich auch diese Partie noch richtig spielen, aber wahrscheinlich war die Luft raus.

Wie sieht die Nachbereitung aus? Was machst du mit dem Turnier?

Einen Lerneffekt habe ich abgeschlossen: Nicht alleine hinfahren und nicht vermeintliche Banalitäten wie knackende Fenster aufschieben. Ich muss alles dafür tun, dass ich meine beste Leistung abrufen kann. Wenn das bedeutet, den Veranstalter zu nerven oder einen Freund für drei Wochen ins windige Wijk zu verschleppen, dann ist das halt so. Beim nächsten Mal werde ich die Prioritäten klar sehen und entsprechend handeln.

Und schachlich?

Die Partien habe ich längst analysiert, das mache ich ohnehin immer direkt nach der Partie, wenn noch alles frisch in meinem Kopf ist. Generell kann ich einiges aus dieser Erfahrung ziehen. Eine Partie auf Topniveau fühlt sich anders an, sie ist viel fordernder als eine normale Partie in irgendeinem Open. Du musst bei jedem Zug hellwach sein. Lässt du nur einmal nach, wird das sofort bestraft. Diese Konstanz ist mir in einigen Partien gelungen, gegen Giri oder Carlsen zum Beispiel. Oder auch gegen Wojtaszek. Keine besonders gute Partie meinerseits, aber ich habe genau erkannt, wann ich hellwach sein und präzise spielen muss, um sie nicht sogar noch zu verlieren. Diese Herausforderung 13-mal in Folge erlebt zu haben, wird mir helfen. Jetzt hoffe ich, dass ich wieder zu so einem Turnier eingeladen werde, und es dann besser machen kann.

Mit knapp 2680 Elo fuhr Alexander Donchenko nach Wijk an Zee, mit knapp 2660 kam er zurück. | Screenshot via FIDE

Jetzt stehst du erstmal mit minus 20 Elo da, und das nächste Turnier ist nicht abzusehen.

Ich bin trotzdem froh, dass ich diese Gelegenheit hatte. Die Erfahrung eines ersten Superturniers ist wichtiger als Elo. Ein solcher Wettbewerb unterscheidet sich so grundsätzlich von normalen Turnieren, daran teilgenommen zu haben, sehe ich als ganz wesentlichen Schritt meiner Entwicklung. Ich will nicht sagen, dass es sich lohnt, für die Erfahrung mit Elo zu bezahlen, aber ich glaube, dass die Erfahrung diesen nominellen Rückschlag wert war. Bei jedem anderen Turnier würde ich nichts finden, dass minus 20 Elo rechtfertigt, aber bei diesem einen bin ich in erster Linie dankbar für die Erfahrung, aus der ich lernen kann. Die minus 20 sehe ich als Investition in die Zukunft (lacht). Dass ich auf 2700-Level spielen kann, weiß ich ja, unabhängig von meiner aktuellen Zahl.

Gibt es schon Signale in Richtung Tata 2022?

Dafür ist es zu früh. Würde ich eingeladen, wäre ich natürlich sehr froh.

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Mungo Gerry
Mungo Gerry
3 Jahre zuvor

Schönes ehrliches Interview.

Ich glaube auch, dass es richtig war die Partien auszuspielen. Der Erfahrungswert dadurch ist viel höher zu bemessen als der ELO-Verlust.