Nach fast zehn Jahren das Aus für eine der größten Marken im Schach: Die Website von chess24 wird am 31. Januar abgeschaltet, die chess24-Apps auch. Chess.com führt „begrenzte Ressourcen und veraltete Technik“ als Grund für die Entscheidung an. Die Bemühungen würden auf chess.com konzentriert, „das über mehr Wachstums- und Innovationspotenzial verfügt“. Chess.com sei die „robustere Plattform für Events, Inhalte, Spiele und Community-Tools“.
Das chess24-Team bleibe unter dem neuen Dach am Ball – auf der Website, wo neben Livepartien und Berichten vom Schachgeschehen auch die beliebtesten chess24-Kurse und Lektionen zu finden sein werden, wie in den Sozialen Medien, wo etwa der chess24-Twitteraccount weiter twittern und der chess24-YouTube-Account weiter senden wird. Ab dem 26. Dezember wird dort unter anderem chess24-Mitgründer Jan Gustafsson die Rapid- und Blitz-WM kommentieren.
Die Geschichte von chess24 beginnt lange vor der Gründung 2014. Die beiden späteren Gründer, Jan Gustafsson und Enrique Guzman, hatten Anfang der 2000er unabhängig voneinander Poker als lukratives Betätigungsfeld entdeckt: Gustafsson als Spieler und Autor, Guzman als Unternehmer. Der aus Bolivien stammende, bis dahin eher im Immobiliengeschäft beheimatete Guzman gründete 2007 mit einigen Mitstreitern „Pokerstrategy“, eine Kombination aus Pokerschule und -affiliate, geschäftlich ein Riesenerfolg. 2013 kaufte Glücksspiel-Software-Produzent Playtech Pokerstrategy (und dessen damals schon sechs Millionen Pokerschüler) für gut 38 Millionen Euro.
Für Spieler mit Schachhintergrund, die erst ein Buch lesen, bevor sie spielen, war Poker zu dieser Zeit längst nicht mehr die simpel auszuschöpfende Goldgrube wie zehn Jahre zuvor. Hochwertige Literatur, Trainingstools und nicht zuletzt Angebote wie Pokerstrategy führten dazu, dass immer mehr kompetente Spieler um die Einsätze der inkompetenten stritten. Beim Online-Poker signifikant Geld zu verdienen, war schwierig geworden.
Wahrscheinlich fragten sich Gustafsson und Guzman unabhängig voneinander, was nun zu tun ist. 2013 begegneten sie einander beim Vereinsabend des Hamburger SK. Gustafsson erzählte Guzman von seinem Plan, Schachvideos zu produzieren. Guzman überzeugte ihn, groß zu denken: Warum nicht die beste Schachvideo-Firma der Welt gründen? Am 24. Februar 2014 wurde in Gibraltar chess24 geboren.
Das Produkt war das, was dem Schach fehlte: das beste Schachportal der Welt. Um das kongeniale Kommentatorenpaar Jan Gustafsson und Peter Svidler, auch um den Spanier Pepe Cuenca wuchs eine treue Fangemeinde. Die Berichte und Hintergründe auf der Website waren tief recherchiert, pointiert, informativ und oft unterhaltsam wie an keiner anderen Stelle im Netz. Dazu die Kurse und Lektionen, etwa die Grünfeld-Indisch-Bibel von Peter Svidler. Und nicht zuletzt die Partie-Liveübertragungen auf der Website, die bis heute vielen als erste Anlaufstelle dient, um Schachpartien zu verfolgen.
Allein: Wie Geld damit verdienen? Hatte chess24 dem Schach so sehr gefehlt, dass die Leute dafür bezahlen? Die besten Schachstreams und -berichte der Welt hinter einer Bezahlschranke zu verstecken, hat sich chess24 nie getraut. Wahrscheinlich hätte es nicht funktioniert. Zuschauen und mitlesen durften immer alle. Zahlende Mitglieder bekamen Zugriff auf die Lehrinhalte und die Gelegenheit, in der chess24-Playzone beim „Banter Blitz“ gegen Gustafsson&Co. zu spielen.
Der Mehrwert davon war überschaubar. Und so bedeutete der Erwerb der „Premium-Mitgliedschaft“ bei chess24 für viele Kunden in erster Linie freiwillige Unterstützung eines liebgewonnenen Services, weniger den Einkauf einer Leistung.
Die Playzone war ein zentrales Problem. Sie hat nie annähernd die Größe des kommerziellen wie des offenen Mitbewerbers erreicht, was damit zusammenhängt, dass sie nie so komfortabel zu bedienen war, noch so schön aussah wie anderswo. Als 2019 die Play-Magnus-Gruppe anklopfte, um chess24 zu übernehmen, wurde dieses Problem eher größer als kleiner. Relaunch der Website, Neuentwicklung der Playzone, beides vielfach angekündigt, nie wirklich passiert. Mal seien 3, mal 30 Entwickler mit chess24 beschäftigt, klagte im April 2020 Sebastian Kuhnert, früher bei Pokerstrategy beschäftigt, seit 2017 chess24-CEO.
Unter dem Play-Magnus-Dach verzettelte sich die Entwicklung von chess24 endgültig. Mit bestens gefüllter Kriegskasse ausgestattet, wuchs Play Magnus, indem es reihenweise etablierte Schachunternehmen und -Start-ups kaufte. Eine geschäftliche Linie, eine Identität fand es nie. Im Strauß der Angebote gab es für Schachspieler keine Möglichkeit, das zu tun, was sie tun: Schach spielen. Über all dem Wachstum per Zukauf war der Fokus auf das Wichtigste verloren gegangen, eine chess24-Spielplattform als Teil einer modernen Website mit gepflegten, aktuellen Apps. Nur das hätte Play Magnus zu einem Schach-Komplettangebot gemacht.
Als Mitte 2022 chess.com die Fühler nach Norwegen ausstreckte und sich Ende des Jahres die Play-Magnus-Gruppe einverleibte, agierte diese schon im Krisenmodus. Chessable hatte kurz zuvor 29 Teil- und Vollzeitmitarbeiter:innen entlassen, chess24 den deutschen Dienst eingestellt und die Liquidation des Unternehmens eingeleitet.
Die Website und Apps sind bald Geschichte, die Marke chess24 bleibt vorerst sichtbar. Chess.com wird nicht ohne Not die chess24-Bewegtbildkanäle und ihre erhebliche Reichweite opfern, stattdessen parallel senden. Speziell der chess24-X/Twitter-Account funktioniert als Ergänzung in Sachen News und Nachrichten. Die neuesten Entwicklungen, speziell solche mit Schattenseiten, werden weiterhin über chess24 verbreitet. Auf chess.com würden sie das 24/7-Gute-Laune-Programm trüben.
Schade, chess24 hatte für mich die übersichtlichste Oberfläche, um Live-Turniere zu verfolgen.
chess24 war es damals, das mich nach fast 20 Jahren Abstinenz wieder zum Schach zurückgebracht hat, insbesondere die WM-Kommentierung von Peter und Jan. Das hatte mir wieder Lust aufs Selberspielen gemacht (das Spielen fand dann freilich anderswo statt). Seitdem habe ich Schach immer auf chess24 geschaut – mit der überkandidelten Hype-Kommentierung von chessdotcom hab ich nie was anfangen können. Seit der Übernahme war natürlich klar, dass es nur eine Frage der Zeit ist, bis der Laden endgültig dichtgemacht wird, insofern kommt das jetzt nicht gerade als Schock. Aber schade ist es trotzdem – mit jeder von chessdotcom gemeuchelten IP wird… Weiterlesen »
A propos Webseiten: Wer ist eigentlich bei euch auf die Idee gekommen, dass hellgraue Schrift auf weißem Hintergrund das beste Design für die Kommentare darstellt? Mangels Kontrast sind die Kommentare für Leute mit nicht mehr ganz so guten Augen wirklich schwer lesbar.
sehr guter Artikel. Grausam für Spielen, super zum Zuschauen. Am Ende unnötig. Das war lange absehbar. Sie haben es nie geschafft, ihr Produkt so hinzubekommen, dass man nicht mehr ohne kann.
Weiss jemand, was mit den gekauften Videoserien passiert bei chess24, wenn die Webseite down geht?? Ich habe dafür viel Geld gezahlt und sollte das nun doch mindestens kostenlos speichern können, oder?
[…] Gesicht der Play-Magnus-Gruppe, die 2019 chess24 übernommen hat. Vor einigen Tagen hat chess.com das Aus von chess24 verkündet. Ein trauriger Tag für […]
[…] etwa ist als eigenständiges Angebot längst liquidiert. Nur die Marke und deren Plattformen und Kanäle führt chess.com weiter. Play Magnus ist als […]
Zu Pokerstrategy:
Die Seite ist älter und wurde von “Korn” Kofert (SC BW) und einem alten bekannten des HSK: Matthias Wahls gegründet. Und das auf jeden Fall schon vor 2006.
Amüsant ist, dass Gusti schon eher Poker gespielt hat als Wahls.
Was mir in Erinnerung bleibt ist elendslanges Geschwafel von Jan über miese Filme (und das weitgehende Ignorieren des Geschehens am Brett), ein Kommentator, der beim Moderieren eine Wollhaube aufhatte und eine blonde Quotenfrau, die nicht gerade durch hochqualitatives Kommentieren aufgefallen ist (ähnliches zeigt sich bei chess.com)
Schade. Da wäre mehr drin gewesen.