Eine Mannschaft blieb vor drei Jahren bei der Schacholympiade in Batumi ungeschlagen – keines der mit Weltklassegroßmeistern gespickten Teams aus Russland, den USA oder China, sondern good old Germany, angeführt von good old Beton-Dieter Nisipeanu, der seinerzeit das erste Brett Deutschlands in eine nicht zu bezwingende Festung verwandelte. Und wenn es für den Rest der Mannschaft ausnahmsweise nicht rund lief, dann machte Nisipeanu sogar den ganzen Punkt. Mit einem Sieg über den Weltranglistenfünften Maxime Vachier-Lagrave rettete Nisipeanu seiner Mannschaft das 2:2 im Match gegen Frankreich, das sich nach vielversprechendem Beginn vollends zu drehen drohte.
Leider erfuhr niemand davon – außer den Lesern dieser Seite, damals nur ein paar hundert. Die Berichterstattung beim Schachbund war derweil bestenfalls rudimentär, stets verspätet, stets hölzern und beamtisch, die Sozialen Medien waren unentdecktes Terrain. Etwas, das zu verfolgen Freude bereiten würde, gab es nicht. Und noch weniger: Am Wochenende berichtete unser Schachbund über die herausragenden Erfolge unserer Nationalmannschaft gar nicht, weil am Wochenende bekanntlich nicht gearbeitet wird.
Dieser peinliche Anachronismus soll jetzt der Vergangenheit angehören. Im 144. Jahr seines Bestehens gedenkt der nationale Spitzenverband zumindest beim Storytelling rund um seine Spitzensportler in der Gegenwart anzukommen.
Auf welches Interesse der schwarz-rot-goldene Schachreigen von der Europameisterschaft der Mannschaften hierzulande stoßen wird, lässt sich daran ablesen, in welchem Maße unser Sport seit Monaten Gegenstand der Berichterstattung in allen großen Medien ist. Schach interessiert (auch wenn manch gestriger traditionell geprägter Funktionär ausschweifend das Gegenteil aufzuzeigen versucht), es müsste jetzt nur noch richtig präsentiert werden.
Zuletzt war es die “Welt”, die den Denksport zwei Mal binnen kurzer Zeit ins Zentrum ihrer Sportberichterstattung gestellt hat.
Unter anderem hinterfragte der Autor die Trägheit des Schachsystems. DSB-Präsident Ullrich Krause bemühte in seiner Antwort das Klischee vom Tanker, und das, obwohl die jüngste Entwicklung zeigt, wie falsch dieses Bild ist. Es muss nur ordentlich weh tun, dann bewegt sich was im organisierten Schach, trotz allen Rosts, trotz aller Krusten.
Kehrtwenden sind möglich. Die Team-EM in Slowenien steht jetzt im Zeichen zweier solcher Kehrtwenden.
Für ihr Missmanagement der nicht erst seit 2019 gärenden und 2020 eskalierten Leistungssportaffäre haben sich Ullrich Krause und Marcus Fenner zwei derart kräftige Schellen eingefangen, das tut bestimmt bis heute weh – und das ist die Ursache dafür, dass es plötzlich ganz anders, im Sinne unseres Sports nämlich, weitergeht, vorangeht sogar.
Sippendenken und Süppchenkochen
Die beiden hatten dem deutschen Schach ja nicht nur in geballter Form die schlechteste Presse seiner Geschichte beschert, das allein hätten sie vielleicht noch auszusitzen versucht. Aber obendrein hatten sie den größten Hoffnungsträger des deutschen Nachkriegsschachs gegen sich aufgebracht: Vincent Keymer, gesegnet mit roberthübnerschem Talent, aber frei von der Verschrobenheit des einstigen Weltranglistendritten. Als sogar Keymer den von Georg Meier initiierten offenen Brief der Nationalspieler unterzeichnet hatte, mutmaßlich zur Überraschung der DSB-Führung, erfolgte sehr bald die erste Kehrtwende.
Von wegen Tanker: Von jetzt auf gleich wurden Sippendenken, Süppchenkochen und autoritäres Funktionärsgebaren im Leistungssport durch ein verlässliches System ersetzt, zum ersten Mal wurden die Spieler gefragt, wie sie die Dinge sehen. Dieses neue Miteinander gebar die Nominierung der Mannschaften für den Wettbewerb in Slowenien, der morgen beginnt: strikt nach Elo, keine Süppchen, keine Sippen.
Strikt nach Elo? Nicht ganz. Eine “Lex Keymer” sollte sicherstellen, dass der 16-Jährige in Slowenien zum ersten Mal für die Nationalmannschaft spielt. Als alle Beteiligten diese Regel Anfang 2021 erdachten, sah niemand voraus, dass Grand-Prix-Qualifikant und Vize-Europameister Vincent Keymer im November 2021 längst die deutsche Nummer eins ist. Nach DWZ hat er jetzt sogar erstmals die 2700 überschritten.
Der Generationswechsel im deutschen Schach (zumindest bei denjenigen, die es am besten spielen) ist unterhalb der ersten Bretter in beiden Mannschaften nicht zu übersehen. Jetzt sollen es diejenigen richten, die vor nicht allzu langer Zeit noch in erster Linie als Talent galten. Nicht nur ein Vincent Keymer, auch Alexander Donchenko, der mutmaßlich zweitgrößte Hoffnungsträger des deutschen Schachs, steht vor seiner Premiere in der Nationalmannschaft.
Von dem Herren-Team, das 2011 Europameister wurde, ist niemand mehr dabei. Zwei Europameister von vor zehn Jahren sind dem deutschen Verband sogar verlorengegangen: Arkadij Naiditsch soll nicht mehr unter deutscher Flagge spielen, Georg Meier will nicht mehr. Und doch hat Letzterer die Vorzeichen geprägt, unter denen die neuformierte Mannschaft jetzt in den Wettbewerb geht. Ohne den von Meier initiierten offenen Brief hätte es weder die Kehrtwende im Leistungssport noch die in der Außendarstellung gegeben.
Als Georg Meier nach zweijähriger Wartezeit jetzt seinen lange angekündigten Wechsel nach Uruguay vollzog, dem Land seiner Vorfahren, war das der Frankfurter Allgemeinen Zeitung einen ausführlichen Bericht und der “Welt” ein langes Interview mit Meier wert – in dem Meier unter anderem Elisabeth Pähtz‘ öffentliches Ausrasten anspricht (“Dir haben sie ins Gehirn gesch…”) . Meier kündigt an, nach seinem Abgang von der Bühne werde sie bald eine neue Zielscheibe finden, und die Geschichte werde von vorne beginnen.
Sogleich griffen die trotz Kehrtwenden nicht überwundenen Mechanismen, derentwegen Meier den deutschen Verband verlässt. Pähtz’ Haussender ChessBase schaltete sich ein. In englischer und spanischer Sprache (damit gewiss jeder uruguayische Schachfreund es versteht), frei von jeglicher Recherche und Einordnung, gab die Nachrichtenseite (eigene Einschätzung) ein paar alte Zeilen Raj Tischbiereks aus der “Schach” wieder, für die dieser sich ob ihrer Einseitigkeit schon vor Monaten bei Meier entschuldigt hatte. Für ChessBase kein Grund, sie nicht noch einmal als Stand der Dinge zu präsentieren – zumindest für ein paar Stunden:
Und es sind ja nicht nur die Schachfreunde André Schulz und Tischbierek, die ihr immer wieder das Mikro unter die Nase halten und sie ungefiltert vom Leder ziehen lassen. Das deutsche Schach ist zwar eine veritable Männerüberschussparty, aber darin findet sich niemand, der die Eier entwickelt, den ewigen “Aber ich hab’ Recht, und der ist böse”-Impuls zu stoppen. Auf der Facebookseite von Leistungssportreferent Gerald Hertneck erschien in den Tagen nach Meiers Welt-Interview unter anderem dieses Märchen, das Pähtz auch einer großen Tageszeitung zu vermitteln versucht hatte:
Wahr ist, dass Georg Meier Ullrich Krause in einer E-Mail sehr deutlich, aber frei von jeder Beleidigung mitgeteilt hat, was er von dessen Krisenmanagement hält. Krause ist deswegen anhaltend beleidigt. Und: Meier wechselt nach Uruguay, weil er nun aufgrund der Elokriterien nicht ins deutsche Team kommt und außerdem nicht dessen Trainer wird? Weder noch, Leistungssportreferent Gerald Hertneck weiß das, hielt es aber nicht für nötig, seiner Spitzenspielerin Einhalt zu gebieten. Stattdessen musste er einige Tage später öffentlich bedauern, dass der mitlesende Meier ihm die Facebook-Freundschaft gekündigt hat. “Ich war an den Vorgängen nicht beteiligt, deshalb wollte ich mich nicht dazu äußern”, erklärt Hertneck auf Anfrage.
Wahr ist tatsächlich, dass Georg Meier angeboten hat, die deutsche Mannschaft bei der EM zu coachen. In Ermangelung eines neuen Bundestrainers (den alten hatten von den Kaderspielern zuletzt nur zwei offen unterstützt, Elisabeth Pähtz und Liviu Dieter Nisipeanu) und angesichts der bevorstehenden Europameisterschaft hatte der DSB monatelang einen Coach für den Wettbewerb gesucht. Die Creme der Schachtrainer-Gilde bekam Anfragen aus Deutschland, unter anderem der einstige Caruana-Coach Rustam Kasimdzhanov oder Boris Gelfand. Alle winkten ab.
Als die sportliche Leitung nach diversen Absagen ohne Trainer dastand und nicht wusste, wen man noch fragen könnte, bot Meier an, den Job zu machen. Das war in der Tat “nicht realisitisch”. Aus Liviu Dieter Nisipeanus Sicht ist Meier derjenige, der seinen Freund Dorian Rogozenco um dessen Arbeitsplatz gebracht hat. Das Verhältnis Nisipeanus und Meiers ist seit der Leistungssport-Affäre vergiftet, ein Spieler-Coach-Verhältnis undenkbar. Daniel Fridman, 2018 noch herausragender Spieler, wird jetzt der deutsche Trainer sein.
Und Nisipeanu der deutsche Spitzenspieler. Für rumänische Schachfreunde mag das überraschend kommen, hatte sich doch Nisipeanu im Wahlkampf ums Präsidentenamt im rumänischen Schach für den Herausforderer ins Zeug gelegt, was in rumänischen Schachkreisen Spekulationen über seine Rückkehr ausgelöst hatte. Aber rumänischen Schachfreunden, die die deutsche “Schach” lesen, werden die nebenstehenden Zeilen aufgefallen sein: “Zu keinem Zeitpunkt geplant, zurück nach Rumänien zu wechseln.”
Darf er denn überhaupt für Deutschland spielen? Seitdem Nisipeanu intern fest an Pähtz’ Seite steht und gegen Meier schießt, hat Meier diese Frage aufs Tableau gebracht, stets verbunden mit dem Hinweis, dass der 45-Jährige den Platz in der Nationalmannschaft für einheimische junge Spieler blockiert.
Formal hat Meier zumindest nicht Unrecht: Die Wechselbestimmungen der FIDE besagen, dass Spieler zu Föderationen solcher Länder wechseln dürfen, deren Staatsbürger sie sind oder in denen sie ihren Wohnsitz haben. Den Wechsel nach Deutschland 2014 (der die durch Naiditschs Abgang klaffende Lücke schließen sollte) haben DSB und Zahlmeister UKA hingetrickst (bei weitem kein Einzelfall im Schach), seitdem spielt ein Rumäne mit Wohnsitz in Rumänien für Deutschland am ersten Brett.
Der DSB sieht keinen Handlungsbedarf. Nisipeanu habe 2014 die Spielgenehmigung für Deutschland bekommen, diese Genehmigung gelte weiterhin. Weitere Fragen seien an die FIDE zu stellen, teilt der DSB auf Anfrage dieser Seite mit.
Um diesen schlafenden Hund nicht zu wecken, haben wir auf eine Anfrage bei der FIDE verzichtet. Stattdessen sei die Frage nach dem Compliance-Verständnis beim DSB gestellt: Regeln finden wir nur dann wichtig, wenn sie uns in den Kram passen? Das würde sich ins Bild vergangener Katastrophenjahre fügen. Auch hier wäre eine Kehrtwende angebracht.
So viel dazu. Ab jetzt: Daumendrücken.
Im offenen Turnier wie bei den Frauen haben wir Teams im Rennen, die jetzt schon, wenn es sehr gut läuft, für Furore sorgen können – und denen die Zukunft gehört. Außerdem dürfte es diesmal intern harmonisch und frei von Nebenkriegsschauplätzen ablaufen.
Die Herren haben erfahrungsgemäß ohnehin weniger Schwierigkeiten damit, die Schach-Scheuklappen aufzusetzen und in die 64 Felder abzutauchen. Die Frauen haben dafür neben einem Weltklasse-Coach am Spielfeldrand am ersten Brett einen potenziellen Anker, der Halt und Sicherheit geben kann. Und der mit einem Riesenerfolg im Rücken spielt.
Die Mannschafts-WM unlängst in Sitges verlief zwar sportlich bescheiden, aber es gab eine gute Nachricht: Elisabeth Pähtz, jetzt wieder über 2500 Elo, habe sich auf das fokussiert, was sie überragend gut kann: Schach spielen. Und das nicht nur im eigenen Sinne, auch im Sinne der Mannschaft. Vor Wettkämpfen gegen nominell stärkere, erfahrene Teams habe sie ihr Wissen um Stärken und Schwächen der Gegenspielerinnen geteilt und dem jungen Team geholfen.
Vielleicht sollten sich alle Beteiligten in den sozialen Medien etwas zurücknehmen, was die Grabenkämpfe angeht. Nichts gegen das Aufwärmen alter (erfolgreicher) Erinnerungen, aber der zweite Teil des twitter-Posts vom Meier wirkt auf mich wie ein Nachtreten.
Sein Föderationswechsel ist vollzogen. Wäre es da nicht auch Zeit nach vorne zu schauen? So ein kleinkariertes Nachkarten hat ein Mann wie Meier doch eigentlich gar nicht nötig.
@Conrad Schormann: Weiß man schon, ob Georg Meier seinen Wohnsitz nach Uruguay verlagert bzw. hat er ihn schon dort? Die Frage stellt sich ja bei ihm dann genauso wie bei Nisipeanu.
Dann wollen wir mal hoffen, dass die beschworene Harmonie wenigstens im Frauenteam hält, wenn man schon bei den Männern darüber ins Grübeln kommen kann.
Allerdings das Foto, “via Schachbund”, vom Frauenteam macht nonverbal schon die unterschiedlichen Rollenverteilungen deutlich.
Einfach mal richtig hingucken …
Viel Erfolg für beide Teams!
Hervorragende Zeilen. Eine gelungene Einstimmung auf die EM. Macht Bock auf mehr.
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