“Oft halte ich mich für zu lasch” – Schachcoach GM Michael Prusikin

Als Michael Prusikin vor gut 20 Jahren seine Ausbildung zum Erzieher begann, war für ihn schon klar, dass er Schachtrainer wird. “Ein pädagogischer Hintergrund kann dafür nicht schaden, dachte ich mir”, sagt er rückblickend.

Seitdem hat der 42-Jährige manchen Schachschüler, manche Schülerin betreut, die es weit gebracht haben. Großmeister Leon Mons etwa oder Großmeisterin Hanna Marie Klek.

Zuletzt ist Prusikin unter die Autoren gegangen. “Feuer frei! – Angriffsstrategien für Vereinsspieler” heißt sein Buch, das jetzt im Schachreisen-Verlag erschienen ist. Wir haben die Neuerscheinung zum Anlass genommen, mit Prusikin über den Stand des deutschen Spitzenschachs, übers Angreifen und nicht zuletzt über sein Buch zu sprechen.

Werbung
Michael Prusikin im Duell mit Viktor Kortschnoi. | Foto: Klaus Steffan

Michael, als spielender Schachtrainer kommst du herum, und seit fast zwei Jahrzehnten geht manches Talent durch deine Schule. Wo steht das deutsche Schach?

Was die absolute Spitze betrifft, sehe ich mich eher als Außenstehender. Dem Gefühl nach läuft es gerade sehr gut. Das Prinzenprojekt war ein Erfolg, international holen unsere Talente regelmäßig Medaillen. Unsere Nationalmannschaft sollte heute auf dem Level sein wie in ihrer ganz starken Phase vor etwa 20 Jahren. Nachdem in den 90ern ein ganzer Schwung von Spielern aus der ehemaligen UdSSR integriert worden war, holte die Mannschaft mit unter anderem Artur Jussupow und Rustem Dautow Silber bei der Schacholympiade 2000 in Istanbul. Alexander Graf möchte ich noch nennen, der war erst ab 2002 dabei, oft mit sehr starken Ergebnissen. Heute sind wir auf einem ähnlichen Stand – mit dem Unterschied, dass die Mannschaft weitgehend aus Spielern besteht, die sich hier entwickelt haben. Klar, ein Weltklassespieler fehlt, aber die Breite in der Spitze, wenn ich das so nennen darf, die passt.

Was traust du Alexander Donchenko und Matthias Blübaum noch zu?

2700 Elo ist für beide ein realistisches Ziel, davon sind sie ja nicht mehr so weit entfernt. Allerdings ist die internationale Konkurrenz so stark, dass du heute mit 2700 Elo ein Top-40-Spieler bist. Dass viel mehr geht, dass einer dieser beiden gar an den Top 10 schnuppert, würde ich eher bezweifeln. Aber ich würde mich freuen, wenn ich mit dieser Einschätzung falsch liege.

Michael Prusikin

1995 kam der in Charkow (Ukraine) geborene Prusikin nach Deutschland. “Die sowjetische Schachschule habe ich als Junge noch erlebt.” Aber als dieser Junge sich anschickte, ein Meister zu werden, “fiel das System zusammen, auch das Ausbildungssystem im Schach”. Seine Mutter habe dann einen Trainer für ihn gesucht – und gefunden. “Der hat das unentgeltlich gemacht, dafür bin ich bis heute dankbar. Wir hätten damals nichts bezahlen können.”

Michael Prusikin

1995 kam der in Charkow (Ukraine) geborene Prusikin nach Deutschland. “Die sowjetische Schachschule habe ich als Junge noch erlebt.” Aber als dieser Junge sich anschickte, ein Meister zu werden, “fiel das System zusammen, auch das Ausbildungssystem im Schach”. Seine Mutter habe dann einen Trainer für ihn gesucht – und gefunden. “Der hat das unentgeltlich gemacht, dafür bin ich bis heute dankbar. Wir hätten damals nichts bezahlen können.”

Die Jugend-WM hast du verfolgt, nehme ich an.

Am Rande. Dass Frederik Svane den Titel in der U16 geholt hat, habe ich natürlich mitbekommen. Das freut mich für ihn, ich will auch seine Leistung nicht schmälern, aber ich habe den Wettbewerb mehr als internationales Blitzturnier denn als Weltmeisterschaft wahrgenommen.

Frederik Svane hat im Interview mit dieser Seite (noch nicht veröffentlicht, Anm. d. Red.) gesagt, dass die Monate des Online-Blitz seine Instinkte geschult und letztlich seiner Spielstärke geholfen haben. Vincent Keymer hat sich zuletzt ähnlich geäußert.

Die beiden werden in den Covid-Monaten ja nicht durchgeblitzt, sondern auch an ihrem Schach gearbeitet haben. Wie sich ihre Spielstärke entwickelt hat, wird sich zeigen, wenn klassisches Schach wieder läuft.

Der vor dem Titel gänzlich unbekannte deutsche U14-Meister Markus Albert war die Überraschung des vergangenen Jahres. Du hast einige Zeit mit ihm gearbeitet. Dein Eindruck?

Markus hat tatsächlich eine Märchengeschichte geschrieben, so etwas gab es noch nie. Jetzt hat ihm die Bayerische Schachjugend einige Trainingsstunden mit mir bezahlt. Er ist ein Wahnsinnstalent nach meinem Eindruck, fast ein Autodidakt, der aus dem Nichts kam und sich das Meiste selbst beigebracht hat. Zur Deutschen Ländermeisterschaft kurz vor der Deutschen hatten wir ihn gar nicht mitgenommen. Es kannte ihn ja keiner. Wohin die Entwicklung geht? Wir werden es sehen.

Der aus Usbekistan stammende Alexander Graf war in den frühen 2000ern Teil einer bärenstarken deutschen Nationalmannschaft. “Heute sind wir auf einem ähnlichen Stand, aber mit Spielern, die sich hier entwickelt haben”, sagt Michael Prusikin. | Foto: Arne Jachmann/DSB

Leonardo Costa ist ein anderer deiner Schüler, einer aus dem Trio, das die deutsche U12 überragt. Großmeistermaterial? Weltklassematerial?

Leo kenne ich sehr gut, trainiere ihn seit zwei Jahren, nachdem er mit Nadia Jussupow die Deutsche U10 gewonnen hatte. Dass er ein großes Talent ist, steht außer Frage. Der GM-Titel sollte schon das Ziel sein. Genaueres vorherzusagen, ist schwierig.   

Kann man das in dem Alter generell nicht?

Großes Talent erkennst du früh, aber wie weit dieses Talent trägt, ist von vielen Faktoren abhängig.

Woran erkennt man Talent?

Das fühlst du anhand verschiedener Dinge, anhand der Auffassungsgabe zum Beispiel. Lass es mich so formulieren: Sehr talentierte Kinder bringen mehr aufs Brett, als sie gelernt haben. Sie entwickeln Ideen und treffen richtige Entscheidungen, wo ihnen eigentlich noch das theoretische Rüstzeug dafür fehlt.


In “Feuer frei!” haben wir zu unserem Entzücken zwei kommentierte Partien mit Bodensee-Kontext gefunden. Prusikin war so freundlich, sie uns zur Verfügung zu stellen. Hier ein thematischer Sieg, erzielt beim Bodenseecup 2007. (Klick auf einen Zug öffnet das Diagramm zum Nachspielen)


„Wir sind in Deutschland zu weich und antiautoritär“, „Unsere Talente bräuchten mehr Druck“, habe ich am Rande der Rogozenco-Debatte gelegentlich gehört. Sogar Artur Jussupow in seiner sanften Freundlichkeit hat sich im Interview mit dieser Seite ähnlich geäußert: Zweite Plätze seien Niederlagen, sagt er. Jussupow will den Leistungsgedanken aus dem Sowjet-Sport ins deutsche Schach übertragen.

Spannendes Thema. Wenn wir über sowjetischen Leistungssport sprechen und einen Vergleich wagen, dann müssen wir auch das Umfeld und die ganz andere Kultur dort berücksichtigen. Die Talente in diesem System waren regelmäßigen Druck von allen Seiten gewohnt. Ich will das nicht gutheißen, im Gegenteil, aber Tatsache ist, dass unter solchen Umständen Menschen eher erfolgreich auf Druck ansprechen als heutige Talente hierzulande …

… denen würde sofort Freude und Begeisterung verloren gehen.

Artur Jussupow. | Foto: Cathy Rogers

Und darum braucht der Coach Fingerspitzengefühl. Ein bisschen Druck muss ja nicht schlecht sein. Ich halte mich selbst tatsächlich oft für etwas zu lasch. Andererseits glaube ich, dass starken Druck auszuüben nur dann Sinn ergibt, wenn du mit Talenten zu tun hast, die das Potenzial für richtig viel mitbringen, aber allein über Ehrgeiz und Begeisterung nicht in Bewegung kommen. Gegenüber dem Prototypen des faulen Supertalents mag das Arbeiten mit Druck sinnvoll sein – aber auch da nur in einem Maße, dass nicht die Freude an der Sache beeinträchtigt wird.

Artur Jussupow mit seiner Sowjet-Idee ist sehr erfolgreich hierzulande.

Artur ist in erster Linie ein riesig starker Spieler und sehr erfahrener Trainer. Er kann aus einer Menge Methoden und Arbeitsmittel schöpfen, die wichtiger sind als Druck. Außerdem ist er ein so umgänglicher Mensch, eine harte Strenge kann ich mir bei ihm gar nicht vorstellen. Aber vielleicht kenne ich ja auch Arturs dunkle Seite nicht. (lacht)

Warst du jemals Arturs Schüler?

2004 habe ich mir ein intensives Trainingswochenende mit ihm gegönnt. Privat und aus eigener Tasche bezahlt. Ich wollte mir von einem Giganten unseres Spiels aufzeigen lassen, woran ich arbeiten sollte, wo ich mich verbessern kann und muss. Aber ich war kein Schüler in dem Sinne, ich hatte ja schon zwei GM-Normen und stand über 2500. Nach Spielstärke waren wir damals fast auf Augenhöhe, aber es war klar, dass er mir trotzdem einiges beibringen kann.

Feuer frei! Ein Strategiebuch übers Angreifen, über dessen Entstehung wir im zweiten Teil des Gesprächs mit Michael Prusikin reden.

(wird fortgesetzt)

Fortsetzung:

4.6 12 votes
Article Rating
Abonnieren
Benachrichtige mich bei
guest

7 Comments
Most Voted
Newest Oldest
Inline Feedbacks
View all comments
Rainer Haas
Rainer Haas
2 Jahre zuvor

Habe den Michael bei einer Simultanveranstaltung, 2015, in Ingolstadt kennen gelernt. Ein sehr sympathischer Junge – vor der Veranstaltung hatten wir noch ein paar Sätze geplaudert. Hatte mich am Vorabend noch versucht vorzubereiten, hatte danach keinen Plan was ich spielen sollte und spielte etwas unorthodoxes, was mir ein Remis-Angebot im 18ten Zug einbrachte. Es zog sich dann doch etwas hin, sodass wir leider keine Zeit mehr hatten meine Versäumnis im 16ten Zug, zu besprechen – hätte ein voller Punkt werden können. Viele Grüße Rainer

trackback

[…] Michael Prusikin […]

Klaus Steffan
3 Jahre zuvor

das Foto von Michael und Viktor ist von mir, aufgenommen 2006 in der Pulvermühle zu Waischenfeld, 3. Internationale Fränkische Großmeistertage
https://steffans-schachseiten.de/internationale-fraenkische-grossmeistertage/