Höflicher Streamer, tricksender Fotograf

Die Entwicklungen der Schach-Streamer erfolgen mitunter rasant. Trotzdem war der kometenhafte Aufstieg von Wüstenigel in der Szene eine Überraschung. Anfang des Jahres begann er, über seinen schachlichen Wiedereinstieg zu streamen. Aus dem Stand heraus sprang die Zahl seiner Follower von 67 im Januar auf 814 im Februar, aktuell gut 4.500. Im März sahen zeitweise bis 1.800 Leute live zu. Dann wechselte er von einem Tag auf den anderen von Chess.com zu Lichess, und die Zuschauerzahl sank deutlich. Was war da passiert? Und wer ist Wüstenigel überhaupt?

Top-Equipment, keine Konkurrenz zur Hauptsendezeit: Der Wüstenigel in seinem Hightech-Studio. Links außen lechzt Labrador Spotty nach Leckerli. | Screenshot via Wüstenigel

Wüstenigel streamt vormittags. Einerseits müssen während seiner Sendezeit von 9 bis 13 Uhr die meisten Menschen arbeiten, andererseits gibt es im deutschsprachigen Raum zu dieser Zeit praktisch keine Konkurrenz.

Sinn fürs Equipment

Wüstenigel wirkt wie der perfekte Streamer. Sein Studio ist ausgestattet mit einem hochklassigen Equipment im Gegenwert von mindestens drei Lastenfahrrädern, eines der besten, wenn nicht das beste der Szene: Das Licht wechselt die Farbe, der Schreibtisch fährt rauf und runter, und eine zweite Kamera zeigt das hochwertige Studio in der Totale. Das Faible für Productplacement zeigt sich auch auf seinem YouTube-Kanal, in dem er wie ein Influencer eine Reihe von technischen Gadgets vorstellt.

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Eine spezielle Interaktion mit dem Chat: „Puls-Challenges“. Während bei The Big Greek schon unerwartete schachliche Wendungen genügen, um seinen Herzschlag hochzutreiben, braucht es bei dem trainierten Triathleten dafür schon echte körperliche Herausforderungen. Beliebt ist bei den Zuschauern Spotty, ein Labrador, dem die Zuschauer indirekt Leckerli geben können.

Anreiz für den Chat, Spotty mit dem Kommando “!futter” ein Leckerli herabfallen zu lassen. | Screenshot via Wüstenigel

Wüstenigel ist ein freundlicher Streamer mit dem offen kommunizierten Ziel, Twitchpartner werden. Im Vergleich mit den Streamerkollegen, die ihre Entertainerqualitäten pflegen wie dem temperamentvollen Griechen, dem leutseligen Gunny, dem raubeinig wirkenden DrBerger, dem leicht verpeilten, aber immer besser werdenden KugelBuch oder dem vielseitig blödelnden fettarmqp wirkt Wüstenigel etwas blass.

Mehr Marketing als Unterhaltung

Oder steril – aber eben technisch perfekt wie das Benchmark-Produkt einer modernen Marketingagentur, die ihren Kunden demonstrieren möchte, wie man sich auf Twitch erfolgreich in Szene setzt. Dazu würden auch die professionelle Konzeption und Kommunikation mit der ansprechend designten Figur und die prominent platzierte Werbung bei Google passen, die sich sonst kein anderer deutscher Schachstreamer leistet. Wüstenigel lässt es sich offensichtlich etwas kosten, die Schachwelt an seiner Rückkehr zum Brett nach 20 Jahren teilhaben zu lassen.  

Als Marco Verch, wie Wüstenigel bürgerlich heißt, bei Chess.com war, wurde sein Stream ganz prominent unter ChessTV angezeigt. Damit zählte jeder deutsche Besucher der Seite als Zuschauer. Ein solches Privileg vergibt die kommerzielle Plattform aus den USA in der Regel nur an bekannte Großmeister, Streamer oder an solche, bei denen sie allerhand Potenzial vermutet. Um kommende Streamer zu finden, beschäftigt chess.com Scouts, die Vorschläge machen. Wahrscheinlich kam der Kölner auf dieses Weise zu dieser Chance.

Marco Verch (4.v.r.) bei der “Back to life”-Party des Kölner SK Dr. Lasker. | Foto: Carmen Nova-Hoffmann/KSK Lasker

Aber warum war das Gastspiel von Wüstenigel auf der größten Online-Plattform nur so kurz? Wir hätten den Wüstenigel dazu gern selbst befragt, aber er möchte nicht reden.

Plattform gegen Bilderklau

In der Streamerszene vermutet man, dass chess.com wieder auf Abstand ging, als die Amerikaner  von Wüstenigels beruflichem Schaffen jenseits des Schachs hörten. Verch bietet im Netz die Plattform Plaghunter an, mit der Fotografen die Nutzung ihrer Werke im Internet nachverfolgen und so Verstöße gegen das Urheberrecht geltend machen können.

In einem Interview erklärt Verch das Prinzip. Weil das Interesse an der Plattform und der ihr zugrundeliegenden Software nicht seinen Erwartungen entsprach, soll er selbst – wie auch einige andere – ein einträgliches Geschäftsmodell entwickelt haben, behauptet Rechtsanwalt Markus Kompa.

Nach Angaben des Fachanwalts für Urheber- und Medienrecht bieten Fotografen wie Verch tausende Bilder kostenlos im Internet zur Nutzung unter einer Creative-Commons-Lizenz an. Deren „rechtskonforme Nutzung“ erfordert allerdings, dass der Name des Fotografen und die Lizenz korrekt angegeben werden müssen.

Teure, kostenlose Fotos

Wer das, aus welchen Gründen auch immer, versäumt, verstößt gegen das Urheberrecht. Die Betreffenden erhalten dann Rechnungen über drei- bis vierstellige Summen. Manch einer empfand das offensichtlich als Falle oder Abzocke und hat das Bedürfnis darüber aufklären.

Das würde zumindest erklären, warum ein zum Verwechseln ähnlicherWüstenlgel in den Chats mehrerer Streamer und angeblich sogar beim Original auftauchte und dort den Beitrag der Kanzlei über Verch postete. In der gut vernetzten Streamerszene ist die Fotografengeschichte jedenfalls allgemein bekannt.

Großzügige Geschenke und Spenden

Der gemeine Zuschauer, Follower oder Abonnent gewinnt einen ganz anderen Eindruck. Wüstenigel tritt im Discord und im Stream ausgesprochen freundlich und höflich auf. Zudem dürfte er einer der großzügigsten Anbieter überhaupt sein. Der stoische Streamer mit der sanften Stimme verschenkt regelmäßig Abonnements (Subs), verlost täglich-Twitch Gutscheine und sammelt regelmäßig für Charity-Aktionen wie „Sozialfelle zugunsten benachteiligter Menschen und Tiere“, wo er die Spenden aufstockt.

Wüstenigel will Twitch-Partner werden, das haben erst wenige deutsche Schach-Streamer geschafft. Minimum sind 25 Stunden Streaming an mindestens zwölf unterschiedlichen Tagen und eine durchschnittliche Zuschauerzahl von mehr als 75. Wüstenigel investiert einiges, um dahin zu kommen.

Einbruch Ende Mai, kontinuierlich steigende Follower-Zahl. | Screenshot via Twitchtracker.

Dr. Franz Jürgen Schell, geb. 1961, lebt in Hamburg. Turnierschachspieler 1978-1982 (Ingo-Zahl 95), nur kurzes schachliches Comeback Anfang 2020 wegen Lockdown. Seit April 2020 Online-Spieler, jetzt zur Deutschen Seniorenmeisterschaft in Magdeburg wieder ins Turnierschach eingestiegen. Schreibt sonst auch auf aerzteschach.de