Was ist schon eine Stunde Verspätung nach fünf Jahren Pause? Das Grenke Open 2024, das mutmaßlich größte offene Schachturnier der Welt, hat am Donnerstagabend in der Schwarzwaldhalle in Karlsruhe begonnen. Mehr als 2500 Schachspielerinnen und Schachspieler messen sich bis Ostermontag in drei Leistungsklassen.
Auf der Anmeldeliste hatten sogar mehr als 2700 Namen gestanden. Aber auch die gut 2500 (der Paarungsliste nach sind es 2.552) markieren einen neuen Rekord. 2019 waren gut 2200 nach Karlsruhe gekommen.
Die Schachwelt hat sich seitdem stark verändert. Das lässt sich auch am Grenke-Open ablesen, wo zugleich einige Konstanten zu besichtigen sind. Eine von denen heißt Daniel Fridman. Der hat 2019 das Open gewonnen. Damit war er für das „Classic“ 2020 qualifiziert, das ebenso ausfiel wie die Auflagen in den drei Folgejahren. Nun, ein feiner Zug der Ausrichter, darf er als Außenseiter das Weltklasseturnier 2024 mitspielen.
Fridman schlägt sich wacker. In der ersten Donnerstagsrunde vor großem Publikum nahm er Ding Liren einen halben Punkt ab. Der scheue Weltmeister, angereist mit seiner Mutter, verbrauchte am ersten Tag auf der Bühne im großen Saal einen Teil seiner Bedenkzeit, um auf sich wirken zu lassen, was er sah. Ungläubig wanderte sein Blick von den parkplatzgroßen Bannern an der Decke, mit einem Kran angebracht, über hunderte Spielerköpfe im Open zum Riesenbildschirm mit den Livepartien über sich im Format etwa eines halben Badmintonfelds.
Für Ding Liren ist es der erste Auftritt in Karlsruhe. Vincent Keymer hingegen ist dort eine Konstante und Repräsentant des Wandels zugleich. 2018 war die Schwarzwaldhalle Ort des kaum fassbaren Triumphs eines 13-jährigen IMs, der mit einer 2800-Performance 49 Großmeister hinter sich ließ. Nie zuvor in der Geschichte des Schachs hatte ein 13-Jähriger so gut gespielt. Keymer selbst fand es „unwirklich“. 2019 durfte er dank dieses Sieges im „Classic“ mitspielen, sein erstes Weltklasseturnier. Im Feld der Carlsen&Co. war Keymer etwa in dem Maße Außenseiter, wie es Fridman 2024 ist.
Keymer ist fünf Jahre später längst etabliert als einer aus dem halben Dutzend hoch veranlagter Teenager, die sich anschicken, die Carlsen-Caruana-Ding-Nepo-Generation abzulösen. Jetzt kommt er zurück an den Ort, wo er vor sechs Jahren aufs internationale Schachradar gelangte, um wieder Schwung aufzunehmen, nachdem ihm sein Auftritt beim Schachfestival in Prag Ende Februar/Anfang März missraten ist.
Auf die Weltrangliste, zumindest diejenige, die noch die relevante ist, würde sich ein Erfolg in Karlsruhe nicht auswirken. Das Turnier heißt zwar weiterhin „Classic“, aber gespielt wird Rapid, nicht klassisch. Auch das ein Indiz eines Wandels seit 2019. Ob Norway, Weissenhaus, Reykjavik oder Biel: 2024 ist wahrscheinlich das Jahr, in dem Veranstalter von Turnieren mehr an Formaten und Modi herumdoktern denn je.
Wie Eliteschach in zehn Jahren aussehen wird, weiß niemand, aber eines steht fest: Spitzenschach mit traditioneller Figurenaufstellung wird schneller, die Zahl der Rapid-Turniere steigt. Auch auf der Bühne der Schwarzwaldhalle wird schneller gespielt als in den Jahren nach der Erstauflage 2013, die der damals amtierende Weltmeister Viswanathan Anand gewann. Später in jenem Jahr sollte ihm Magnus Carlsen den Titel entreißen.
Dieser Magnus Carlsen, mittlerweile Exweltmeister, hat es sich zur Aufgabe gemacht, den Wandel im Schach voranzutreiben. Dabei ist nicht immer ganz klar, ob Carlsen Schach in erster Linie im Sinne des Sports entwickeln will oder schlicht dahin, wo es ihm persönlich am meisten Freude bereitet.
Für ein klassisches Rundenturnier im Schach1 wäre Carlsen jedenfalls nicht zu gewinnen gewesen. Also spielen sie beim „Grenke Classic“ jetzt 45+10, langsames Schnellschach in einem improvisiert anmutenden Format, das wahrscheinlich in erster Linie dem Ziel dient, auf sechs Turniertage zu kommen: Fünf Tage doppelrundiges Rundenturnier, gefolgt von einem Tag mit Matches zwischen dem Ersten und Zweiten, Dritten und Vierten sowie dem Fünften und Sechsten.
Auf seinem Weg zum Weltmeistertitel, wie er selbst erklärt, ist jemand in Karlsruhe vorbeigekommen, der sich vorerst im Saal bei den Normalsterblichen wiederfindet. Partien auf der Bühne muss sich Hans Niemann erst noch erarbeiten.
Nicht zuletzt der US-Großmeister dürfte daran beteiligt sein, dass ein Schachturnier nach fünf Jahren Pause einen derartigen Ansturm erleben kann. Schach ist populärer denn je, und das ist bei weitem nicht nur Beth Harmons Werk. Auch die ein Jahr anhaltende Carlsen-Niemann-Affäre und die damit einhergehenden Schlagzeilen spielten eine Rolle. Dass der Name Niemann schon seit Februar auf der Meldeliste steht, dürfte nicht ohne Effekt geblieben sein.
Neulich bei der Bundesliga in Viernheim hätten sie neben Niemanns Brett natürlich eine Hans-Cam aufgestellt, damit er seine Partien auf seinen Kanälen streamen kann. Vor zwei Wochen beim Open in Reykjavik hätten sie ihm dafür sogar ein Extra-Streaming-Brett eingerichtet. Das dortige Traditionsopen hat (wie einige andere) seine Zuschauerzahl vervielfacht, indem es Streamer:innen einen roten Teppich ausrollte. Die Onlineschachriesen Botez und Cramling (die Tochter!) etwa kamen, streamten, und die Schachszene auf Twitch und YouTube guckte Reykjavik Open. Diese post-pandemische Entwicklung ist offenbar noch nicht in Karlsruhe angekommen. Niemann lässt zwar streamen, aber ohne Livebild aus der Schwarzwaldhalle.
Wie viele Menschen die Liveübertragung verfolgen, hängt ganz wesentlich davon ab, wer sie präsentiert. Auch in dieser Hinsicht war das Grenke-Festival mit dem bewährten Duo Peter Leko/Jan Gustafsson bestmöglich aufgestellt, hat aber einen Rückschlag erlitten. Leko erkrankte kurzfristig. Für ihn ist jetzt Lawrence Trent eingesprungen.
(Titelfoto: Angelika Valkova)
“Dabei ist nicht immer ganz klar, ob Carlsen Schach in erster Linie im Sinne des Sports entwickeln will oder schlicht dahin, wo es ihm persönlich am meisten Freude bereitet.” Was soll dieser Satz? Jedenfalls aus meiner Sicht ist immer ganz klar, dass Carlsen vor allem seine eigenen Interessen, Vorlieben und Wünsche im Auge hat. Neben ihm selbst sagen zwar auch andere, z.B. Carlsen-freundliche Journalisten, “das ist im Sinne des Sports und die Zukunft des Schachs”. Aber entscheidend ist, dass Veranstalter unbedingt Carlsen haben wollen und dafür (nicht nur finanziell) vieles bis alles akzeptieren. Auch der sechste Tag in Karlsruhe mit… Weiterlesen »
Schöner Bericht.
Dankeschön.
Sie entwerten mit Ihrem Lokalpatriidiotismus [ nach Lasker vor 100 Jahren Junge- total spekulativ- Hühner, der verkopfte Wissenschaftler, der gar nicht die Verbissenheit hatte, seinen Lebenstil deswegen ändern.). Was aus Keymer wird, zeigen die nächsten Jahre ( ich befürchte, dieser Anspruch auf den Titel von manchen sogenannten Schachfreunden wird ihn eher lähmen) ! Am Schlimmsten aber ist die despektierliche Abwertung des stärksten Schachspielers des letzten Jahrzehnts( wahrscheinlich aller Zeiten, der physisch und psypsychisch die Schachwelt wie kein zweiter dominierte!Und das nicht wie die fleißigen Variantennerds , die immer schon grade von den deutschen Schulmeistern bewundert wurden! Duesef vielseitig begabte junge… Weiterlesen »