Enttäuscht zog nur einer von dannen: der Feinschmecker, der sein Fahrrad vor der Schwarzwaldhalle stoppte, weil er sich en passant verlesen hatte. „Cheese“ statt „Chess“ sah er auf dem Banner überm Eingang. Seine Freude auf Europas größten Käsewettbewerb verflog schnell. Statt Molkereiprodukten erblickte er Schachbretter, und damit war sein Interesse erloschen.
Dass nach sportlichen Wettbewerben Leute unzufrieden sind, liegt in der Natur der Sache. Aber auch diejenigen, die sich beim weltgrößten Schachturnier einen Käse zusammenspielten, IM Irina Bulmaga etwa, haben ein fünf Jahre lang ersehntes Erlebnis hinter sich. Unter den 2600, die mitspielten, auch unter denen, die zuschauten und Schach nur schnupperten, dürfte niemand zu finden gewesen sein, der nicht begeistert war – die Hausherrin allen voran.
„Präzision und Liebe zum Detail“ nahm Bettina Wirtz wahr, während sich die Schwarzwaldhalle und die angrenzende Gartenhalle in den Tagen vor Ostern in einen etwa 8000 Quadratmeter großen Schachtempel verwandelten. Die Geschäftsführerin der Karlsruher Messe war stolz, unter dem freitragenden Hängedach des 1953 eröffneten architektonischen Juwels nach fünfjähriger Pause wieder die Elite des Denksports zu beherbergen.
Und es war ja auch ein organisatorisches Husarenstück, das Sven Noppes und seine Leute abgeliefert haben. Trotz aller optimistischen Wasserstandsmeldungen schon vor Monaten – das Grenke-Schachfestival 2024 war das spontane Ergebnis einer Hängepartie, die sich bis ins neue Jahr gezogen hatte. Bis sieben Wochen vor der Eröffnung stand nach Veranstalterangaben nicht endgültig fest, dass die Grenke AG den Großteil des größten Schachturniers der Welt finanziert.
Umso bemerkenswerter, dass binnen weniger Wochen etwas entstand, das sich anfühlte, als habe es die fünfjährige Zäsur nicht gegeben. Holzbretter bis ans Ende des C-Opens, reichlich Ellbogenfreiheit für jede und jeden der 2600, die Banner, die Bühne, das sah aus wie, ja, wie immer, ließe sich feststellen, wäre nicht diese fünfjährige Pause gewesen. Die laut Turnierseite „unglaubliche Zahl an freiwilligen Helfern“ knüpfte nahtlos dort an, wo sie 2019 aufgehört hatte. Einvernehmlich lobten alle, die da waren, die „reibungslosen Abläufe“.
In der Natur der Sache liegt, dass es angesichts so eines Ansturms hier und da ruckelt. Zwischen den Spitzenbrettern des A-Opens drängelten sich so viele Menschen, dass die darunter verlegten Kabel litten. Punktuell fiel deswegen die Liveübertragung aus.
Im B-Turnier waren mehr Leute angemeldet, als chess-results handhaben kann, sodass anfangs online keine aktuellen Ergebnisse und Tabellen zu sehen waren. Dass es am Karfreitag keine Liveübertragung gab, traf viele überraschend. Ein Hinweis dazu auf der Turnierhomepage, weder hätte Rundbriefschreiber Henning Geibel die Organisation als „provinziell“ bezeichnet noch Stefan Rettenbacher sie als „unprofessionell“, zwei falsche Einschätzungen, die eher auf die Kommunikation rund ums Turnier zutreffen. Die Organisation war Weltklasse.
Außerhalb der Schachszene, außerhalb Badens zumal, erfährt kaum jemand von diesem internationalen Schachfest. Das berührt die ewige Achillesferse des Grenke-Schachs: Gutes zu tun, fällt ihnen leicht, aber traditionell ist niemand dafür zuständig, dass es sich herumspricht. Nichts gegen die Badischen Neuesten Nachrichten und Hartmut Metz‘ Berichterstattung ebendort, trotzdem: Unter den drei deutschen Schachveranstaltungen von Weltrang im Frühjahr 2024 – Weissenhaus, Viernheim, Karlsruhe – ist hinsichtlich Medienresonanz diejenige in Karlsruhe abgeschlagener Dritter.
Es hätte ja einige wunderbare Geschichten zu erzählen, einige Alleinstellungsmerkmale und spezielle Konstellationen hervorzuheben gegeben: größtes Turnier der Welt! Carlsen! Niemann! Ding! Die erste Partie im traditionellen Schach zwischen dem neuen Weltmeister und seinem Vorgänger! Die Protagonisten des größten Aufregers, den das Schach je produziert hat, unter einem Dach – auf einer Bühne sogar!
Diese und andere Karlsruher Aspekte bleiben dem allgemeinen Publikum verborgen, nicht nur am kommenden Sonntag (voraussichtlich) im großen Schachbeitrag der Sportschau anlässlich des Kandidatenturniers. Das erste deutsche Fernsehen wird 960 in Ostholstein zeigen, Nakamura in Südhessen und den DSB im tiefen Tal nach seiner hausgemachten Pleite, dazu ein wenig Keymer. Karlsruhe kommt weder dort vor noch in anderen Leitmedien, im Spiegel etwa, der zuletzt seine Schachberichterstattung noch intensiviert hat.
Die Spezialisten aus der Schachszene hatten während des Grenke-Schachfestivals einige Geschichten zu verfolgen, und sie wurden von Jonathan Reichel, Angelika Valkova und Michael Busse ordentlich versorgt. Turnierfotos, in einer Cloud abgelegt, waren für Berichterstatter eine willkommende Neuerung, Reichels fein produzierte Hochglanz-Videos der zu erwartende professionelle Standard, den kein anderes deutsches Open auch nur im Ansatz erreicht.
Spannend ist und bleibt die Geschichte der sportlich Kopf an Kopf liegenden, in Karlsruhe fast geschlossen angetretenen Nationalspieler. Deren Wettstreit um die vier Plätze hinter Keymer im Team für die Schacholympiade im September spitzt sich mehr und mehr zu.
Als klarer Gewinner, auch finanziell, reist Dmitrij Kollars aus Karlsruhe heim nach Bremen. Als einziger Einheimischer hatte Kollars bis ganz zum Schluss die Chance, das A-Open zu gewinnen. Die neue deutsche Nummer zwei hat sich mit seiner 2752-Performance ein kleines Polster erspielt und in der Live-Liste sogar Matthias Blübaum überholt. Dahinter rangeln Alexander Donchenko und die Svane-Brüder um die Plätze. Rasmus Svane (7/9, Performance 2690) und Frederik Svane (7/9, 2665) sind Donchenko nach einem starken Grenke-Open auf die Pelle gerückt.
Auch bei den Frauen steht eine knappe Nominierung für Schacholympia bevor, zumal mit Kateryna Dolzhykova eine Neue ins Team drängt. Dolzhykova hat schon zwei IM-Normen und peilt mittelfristig diesen Titel an. In Karlsruhe hat sie sich mit einer 2402-Performance und einem Abschlusssieg über GM Alexander Bagrationi erst einmal den WGM-Titel gesichert.
Einen neuen Großmeister hat das Grenke-Open produziert, den jüngsten der Welt sogar. Yagiz Kaan Erdogmus belegte mit 7/9 Platz 20. Damit erzielte der 12-Jährige seine dritte Großmeisternorm und wird demnächst den Titel verliehen bekommen – der sechste 12-Jährige in der Geschichte des Schachs, der den GM-Titel schafft.
Vor eineinhalb Jahren hatte das Ausnahmetalent abseits des Bretts für Aufsehen gesorgt. Seine Eltern lancierten in der türkischen Presse, ihrem Sohn liege ein Angebot des deutschen Verbands vor. Ein solches Angebot gab es nicht. Wahrscheinlich versuchte die Familie mit der Drohung eines Wechsels nach Deutschland, den heimischen Verband in Sachen Fördermittel unter Druck zu setzen.
Dominik Horvath (Österreich) und Bryce Tiglon (USA) schafften eine GM-Norm, für Tiglon ein Extra, das er wahrscheinlich nicht braucht, um Großmeister zu werden. Seinen GM-Antrag hat er schon im Februar gestellt. Christoph Dahl, Torben Knüdel und Frank Adam (Tschechien) erspielten sich IM-Normen.
Einige Kaderspielerinnen und -spieler zeigten exzellente Leistungen, ohne dafür mit einer Norm belohnt zu werden. Luisa Bashylina etwa gewann mit einer Performance von >2350 an die 100 Elopunkte – aber keine WIM-Norm. Dafür fehlt nach Darstellung Henning Geibels ein IM unter den Gegnern.
Leonardo Costa (6,5/9, 2542) hat seinen schon beim Masters 2023 angedeuteten Leistungssprung in Karlsruhe bestätigt. Die Elo des 16-Jährigen nähert sich der 2500-Marke und sein Leistungsvermögen dem Level, das GM-Normen zu einer Frage der Zeit macht. Selbiges gilt für Marius Fromm (6,5/9, 2543), ehemaliger Deutscher Meister U18 und amtierender Deutscher Meister im Schach960. Beide hatten unter dem Dach der Schwarzwaldhalle zwischenzeitlich die GM-Norm in Sichtweite. Auch der stark aufspielende Alexander Krastev hatte zwischenzeitlich Anlass von einem Coup zu träumen.
Ein, zwei Leistungsklassen darunter verhält es sich ähnlich mit den Ausnahmetalenten Christian Glöckler und Hussain Besou: die nächsten Meilensteine sind nur eine Frage der Zeit. Die beiden Zwölfjährigen spielten kein schlechtes, aber für ihre Verhältnisse durchwachsenes Grenke-Open. Glöckler, der zuletzt binnen weniger Wochen seine ersten beiden IM-Normen erzielt hat, unterlag Besou im direkten Duell in der sechsten Runde.
Die tollste Geschichte des Turniers schrieb natürlich Hans Niemann, der in Karlsruhe Erfahrungen mit dem deutschen Gesundheitssystem sammelte. Als er mit Ohrenschmerzen die Ambulanz der örtlichen Klinik aufsuchte, hieß es, er müsse drei Stunden warten, berichtete Niemann im Interview mit Grenke-Schach-YouTube-Kanal. So viel Zeit hatte er nicht, er musste ja Schach spielen.
Trotz beidseitiger, nicht auskurierter Mittelohrentzündung legte der an fünf gesetzte US-Großmeister eine 2813-Performance hin. Zwei Remis gab er ab, gewann die sieben anderen Partien und stand am Ende mit 8/9 allein an der Spitze, einen halben Punkt unter anderem vor der indischen Nummer eins Arjun Erigaisi. Noch bevor Niemann den Siegerscheck in Empfang nahm, belohnte er sich am Schachstand von Jonathan Carlstedt mit einem Stappenheft, das er als Erinnerungsstück in Ehren zu halten gedenkt.
Mit dem Sieg Niemanns stand sogleich die Frage im Raum, was Magnus Carlsen davon hält. Wird Open-Sieger Niemann, wie es Tradition wäre, zum Classic 2025 eingeladen? Wird Carlsen 2025 mit von der Partie sein? Über all dem steht die größere Frage: Beginnt jetzt die Tradition von Neuem, wird es 2025 eine Fortsetzung geben? Darauf gibt es noch keine Antwort.
Fotos von Angelika Valkova:
Ganz großes Lob für hervorragenden, erzählten Fotos von A.Valkova, sie machen die Atmosphäre und die Spieler lebendig.
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