Niemann vs. Carlsen: remis, außergerichtlich

Hans Moke Niemann, Magnus Carlsen und chess.com haben ihren Streit beigelegt. Niemann verzichtet darauf, mit seiner Verleumdungsklage vom Bezirksgericht zu einem Landesgericht weiterzuziehen. Seine Anwälte werden nicht weiter darauf drängen, dass Schach-Riese chess.com seine Eigentümerstruktur offenlegt. Auch die anderen Beklagten, Hikaru Nakamura und chess.com-Chef Daniel Rensch, werden nicht weiter belangt. Chess.com öffnet im Gegenzug seine Plattform für den seit einem Jahr dort gesperrten Niemann (der am Dienstag sogleich den „Titled Tuesday“ spielte). Magnus Carlsen wiederum erkennt an, dass es keinen Beweis für Betrug Niemanns am Brett gibt. Er werde gegen Niemann antreten, sollte sich diese Paarung ergeben. Die Bedingungen, unter denen alle Beteiligten zu dieser Einigung kamen, blieben im Dunkeln.

Im Juni hatte Richterin Audrey Fleissig vom Bezirksgericht Missouri Niemanns 100-Millionen-Klage in allen Anklagepunkten zurückgewiesen. Zum Vorwurf der Verleumdung befand sie, dafür sei ihr Gericht nicht zuständig. Niemanns Anwälte Terrence Oved und Darren Oved kündigten sofort an, die Sache vor ein Landesgericht zu bringen. Aber sie nahmen vorher außergerichtliche Verhandlungen mit der Gegenseite auf – und freuen sich jetzt über einen „großen Tag für das Schach“, wie sie gegenüber dem Wall Street Journal sagten (für Abonnenten).

“Freue mich, auf dem Brett gegen Magnus anzutreten anstatt vor Gericht.”

Zu einem Verfahren vor einem “state court” wird es nicht kommen. „Wir gratulieren den Parteien zu ihrer erfolgreichen Lösung und sind stolz darauf, dazu beigetragen zu haben, dass Hans zu dem Spiel zurückkehrt, das er liebt“, erklärten die Niemann-Advokaten. „Wir vertrauen darauf, dass Hans sowohl auf dem Brett als auch außerhalb weiterhin die richtigen Schritte unternehmen wird.“ „Ich freue mich darauf, gegen Magnus im Schach anzutreten und anstatt vor Gericht“, sagte Niemann in einer per Twitter verbreiteten Erklärung. Der Tag werde kommen, an dem er der beste Schachspieler der Welt sei.

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Carlsen-Anwalt Craig Reiser sagte dem Wall Street Journal, er sei froh, dass Carlsen „jetzt die Freiheit hat, weiterhin Schach zu spielen und darüber zu diskutieren, ohne dass weitere strategische Rechtsstreitigkeiten drohen“. In einer Mitteilung von Chess.com heißt es, dass Niemann ab sofort wie jeder andere Spieler behandelt wird. „Zum Wohle der Schachgemeinschaft sind unsere Mandanten froh, alle Rechtsstreitigkeiten hinter sich zu lassen“, sagten Nima Mohebbi und Jamie Wine, Anwälte von Latham & Watkins, die Chess.com vertreten.

„Ich glaube, dass Niemann mehr – und in jüngerer Zeit – betrogen hat, als er öffentlich zugegeben hat“, war Carlsens Position – bis vorgestern. Jetzt hat er einen Rückzieher gemacht: „Ich nehme zur Kenntnis, dass es keine schlüssigen Beweise dafür gibt, dass Niemann in seiner Partie gegen mich geschummelt hat.“ Die verbreitete Vermutung, Carlsen habe mehr als sein Gefühl in der Hinterhand, Faktisches, dürfte sich nun als falsch erwiesen haben.

Riesiges Medienecho seit einem Jahr, aktuell in der Süddeutschen Zeitung, die über das vermeintliche Ende des Streits berichtet.

Der in Berlin lebende IM und Schachboxer Lawrence Trent etwa hatte öffentlich verbreitet, er habe während eines Besuchs bei Carlsen „Dinge gesehen, zu denen ich bislang keinen Zugang hatte. Carlsens Sicht wirkt jetzt viel glaubhafter auf mich.” Solche Aussagen dürften nichts als Geschwätz von Leuten gewesen sein, die entweder Carlsen als Sprachrohr in eigener Sache benutzt hat, oder die von sich aus Carlsen gefällig sein wollten.

Hat Carlsen womöglich sogar Leute bezahlt, damit sie falsche Fährten legen, wie es Niemanns Klage suggerierte? Unter all den Kuriositäten, die im Lauf des Falls zur Debatte standen, von Avengers-Memes bis Analperlen, wäre dies nicht die größte.

Anfangs hatten fast alle Topgroßmeister der Welt durchblicken lassen, sie stünden in diesem Schachstreit, der die Welt beschäftigte, eher auf Carlsens Seite. Auch hier war die Basis eine Annahme: Der bis dahin als Sportsmann bekannte und nie als schlechter Verlierer aufgefallene Carlsen würde nicht ohne Grund eine solche Sache lostreten, hieß es. Nur hat sich ein solcher Grund im Laufe fast eines Jahres nicht offenbart, und die Stimmungslage im Spitzenschach war zuletzt nicht mehr eindeutig. „Unfair“ fand Fabiano Caruana den Umgang mit Niemann.

Rechtlich mag die Sache keine Fortsetzung finden, beendet ist sie bestimmt nicht. Die Erklärung von chess.com deutet schon an, dass sich nun, da es kein laufendes Verfahren zu berücksichtigen gibt, alle Beteiligten frei äußern können „Chess.com, Magnus, Hans und Hikaru haben alle ihre eigene Meinung zu den Ereignissen rund um die Kontroverse“, heißt es. „Sie sind sich einig, dass jeder die Möglichkeit haben sollte, offen über seine Ansichten zu sprechen.“

Hans Niemann hat damit schon angefangen. „Verleumderisch“ findet er weiterhin, was chess.com über ihn verbreitet hat und wie das Unternehmen mit ihm umgegangen ist.

Hikaru Nakamura sieht Handlungsbedarf – und will in Sachen Cheating demnächst Dinge erzählen, die bislang öffentlich nicht bekannt waren.

Hikaru Nakamura, der meint, mit der Sache eigentlich nichts zu tun zu haben („bin da reingezogen worden“), hat angekündigt, in naher Zukunft einen Teil des Dunkelfelds des Betrugs beim Schach zu erhellen. Ihm hätten sich im Lauf der Affäre manche öffentlich nicht bekannten Fälle offenbart. Der US-Großmeister sieht in Sachen Cheating unverändert Handlungsbedarf: stärkere Kontrollen und eine Anlauf- bzw. Meldestelle, an die sich mutmaßliche Betrugsopfer wenden können – an die sich auch Magnus Carlsen hätte wenden können.

Carlsens Ansatz, ein Exempel zu statuieren, indem er einen missliebigen 19-Jährigen an den Pranger stellt, war falsch. Sein Vorgehen wird an ihm ebenso hängenbleiben wie die Verdächtigungen an Niemann hängenbleiben werden. Am vorläufigen Ende der Carlsen-Niemann-Saga sehen alle Hauptdarsteller nicht gut aus.

Juristisch dürfte sich die Sache mit der am Montag verkündeten Einigung erledigt haben. Die Geschichte, wie das Schach mit seiner größten Bedrohung umgeht, fängt gerade erst an.

Ob Carlsen nun aus persönlicher Antipathie heraus gehandelt hat oder ob ihm nichts Besseres eingefallen ist, um auf die Gefahr des Betrugs im Turnierschach aufmerksam zu machen – es gilt nicht erst seit der Einigung zwischen Carlsen und Niemann, aus der unschön begonnenen Geschichte etwas Gutes für das Schach zu machen und offene Fragen zu beantworten: Sollte sich Betrug beim Online-Schach aufs Turnierschach auswirken? Was passiert, wenn das nächste Mal ein Supergroßmeister Betrug am Brett wittert und den Carlsen macht? Wie gehen wir mit dem Spannungsfeld zwischen bestmöglicher Prävention und Zugänglichkeit für Zuschauende um?

In der Schachbundesliga Spielende und Zuschauende “vollständig trennen”? Auszug aus dem Kongressbericht 2023 von DSB-Anti-Cheating-Chef Klaus Deventer (der auch an der FIDE-Untersuchung gegen Carlsen und Niemann beteiligt war, s.u.).

Die nationalen Verbände und zuvorderst der Weltverband FIDE sind gefordert, Antworten zu finden, beginnend mit einer Bewertung der Carlsen-Niemann-Affäre. In einer verschlossenen FIDE-Schublade ruht seit mittlerweile mehr als einem halben Jahr das mutmaßlich für den Norweger wenig schmeichelhafte Bericht der Fair-Play-Kommission, die gegen Carlsen (wegen mutmaßlichen unsportlichen Verhaltens) und Niemann (wegen mutmaßlichen Betrugs) ermittelt hat. Ursprünglich wollte die FIDE ihren Carlsen-Niemann-Bericht und eventuelle Konsequenzen daraus im April 2023 veröffentlichen. Dann hieß es, man wollte den Ausgang des rechtlichen Verfahrens abwarten.

Auf Anfrage dieser Seite betont FIDE-Geschäftsführerin Dana Reizniece-Ozola, eine Entscheidung über eventuelle Sanktionen der FIDE gegen Carlsen oder Niemann obliege der Ethik- und Disziplinarkommission. Die Kommission habe ihren Prozess im Frühjahr unterbrochen, um Entwicklungen im gerichtlichen Verfahren abzuwarten. Unter den jetzt neuen Bedingungen werde die Kommission entscheiden, wann sie ihre Arbeit an diesem Fall wieder aufnimmt. Der Bericht werde nicht veröffentlicht, so lange die Ethik- und Diszplinarkommission keine abschließende Entscheidung gefällt hat.


In einer früheren Version dieses Beitrags hieß es, die Anfrage dieser Seite bei der FIDE zum Carlsen-Niemann-Bericht sei unbeantwortet. Mittlerweile ist eine Antwort eingegangen und in den Text eingearbeitet.

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acepoint
7 Monate zuvor

Whew, das ist aber spätestens ab der Hälfte des Artikel eine wüste Vermengung von Nachricht, Vermutungen und Kommentar. Der Sache hätte es helllicht gut getan, wenn Du da sauber getrennt hättest.

Thomas Richter
Thomas Richter
7 Monate zuvor

Zu Nakamuras Rolle (“bin da reingezogen worden”) – wie bitte? Hat man ihn etwa gezwungen – mit vorgehaltener Pistole oder subtiler mit finanziellen Anreizen – anti-Niemann Videos zu veröffentlichen? Nun macht er – nachdem er (auch eine Angewohnheit von ihm) den chess.com Artikel komplett vorgelesen hat – munter weiter. Genüsslich erwähnt er, dass Niemann zuletzt etwa 50 Elopunkte eingebüßt hat und impliziert, dass er nun am Brett stärker kontrolliert wird und nicht mehr schummeln kann. Erstens: nach dem Sinquefield Cup hatte Niemann seine Elozahl in insgesamt fünf Turnieren gehalten bzw. leicht verbessert, wurde er etwa erst ab Mai 2023 plötzlich… Weiterlesen »

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[…] eine Niemann-Episode – wenige Tage, nachdem chess.com Niemann entsperrt und Magnus Carlsen seinen Betrugsvorwurf zurückgezogen […]

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[…] Niemann vs. Carlsen: remis, außergerichtlichNicht das Ende des Streits, aber der juristischen Auseinandersetzung. Dass Geld in Richtung Niemann geflossen ist, um eine weitere Verleumdungsklage abzuwenden, erscheint zumindest möglich. Raymond Keene hat jetzt “12 Millionen Dollar” kolportiert, eine Meldung die, verständlich, wenig Widerhall fand. […]

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Peter
Peter
7 Monate zuvor

Nach dem Lesen der Kommentare hier erst mal genug Internet für den September. Dass es immer noch Menschen gibt, die Carlsens schändliche Art und Weise verteidigen zieht mir die Schuhe aus. Unerträglich

Stefan
Stefan
7 Monate zuvor

Die ganze Angelegenheit wurde unnötig verkompliziert, indem der Frage, ob Niemann auch am Brett betrogen hat, eine große Bedeutung zugemessen wurde.

Er hat nachweislich und zugegebener Maßen online betrogen. Das sagt genug über seinen Charakter aus. Wenn er vom Bildschirm ans Brett wechselt, dann kann er zwar sein Hemd wechseln aber sicherlich nicht seinen Charakter.

Die organisierte Schachgemeinschaft hätte also von Anfang an sagen sollen: “jemanden mit deinem Charakter wollen wir nicht mehr unter uns haben. Geh Halma spielen!”

Carlo
Carlo
7 Monate zuvor

Ich möchte im Schach nicht betrogen werden. Ich möchte generell nicht betrogen. Ich finde Betrug schändlich. Deswegen ist es mir unverständlich, dass Betrüger, die betrogen haben, von den Betrogenen nicht belangt werden. Es ist, als würde das Opfer sagen: Ich bin betrogen worden, aber das stört mich nicht. Meine Beweise lege ich nicht vor. Ich bin Opfer, da ist der Täter, aber ich gehe gegen den Täter nicht vor. Im Gegenteil. Ich werde mit dem Betrüger weiter kommunizieren und ihm damit Gelegenheit geben, mich weiter zu betrügen. Mir erscheint das alles hochgradig irrational und ich vermute Gründe, die sich mir… Weiterlesen »