“Bis mindestens Oktober”: FIDE hält den Carlsen-Niemann-Bericht unter Verschluss

Seit Februar ist die Untersuchung des Schach-Weltverbands FIDE zu Magnus Carlsens Betrugsvorwurf gegen Hans Niemann beendet. Im April sollte der Bericht und gegebenenfalls daraus folgende Disziplinarmaßnahmen gegen beide Großmeister veröffentlicht werden. Das hat sich nun erledigt. „Wir werden bis mindestens Oktober abwarten, ob sich im Zivilverfahren zwischen den Parteien Entwicklungen ergeben“, hat FIDE-Geschäftsführerin Dana Reizniece-Ozola laut New York Times erklärt. Vieles deutet darauf hin, dass die FIDE die Ergebnisse ihrer Untersuchung unter Verschluss hält, um einen Konflikt mit Magnus Carlsen und chess.com zu vermeiden.

Terrence Oved | via oved.com

Terrence Oved, Anwalt von Hans Niemann, sieht die FIDE als Partei im Rechtskonflikt zwischen seinem Mandanten und den Beklagten. Oved führt an, dass der Schach-Weltverband mit zwei ehemaligen Play-Magnus-Töchtern vertraglich verbunden ist: Chessable und Chess24. Chessable sponsert FIDE-Veranstaltungen, chess 24 habe 2021 Übertragungsrechte für FIDE-Veranstaltungen bis 2026 gekauft. Seitdem chess.com im Herbst 2022 die Play-Magnus-Gruppe übernommen hat, sind beide Play-Magnus-Töchter Teil des von Niemann beklagten US-Schachkonzerns.

Mit bestens gefüllter Kriegskasse hatte Play Magnus über Jahre jede halbwegs perspektivreiche Schachfirma eingekauft. Mit der Übernahme der Play-Magnus-Gruppe durch chess.com gehört dieses Sammelsurium von Start-ups und Etablierten nun dem US-Schachkonzern. Wettbewerb gibt es im Schach seitdem praktisch nicht mehr.

„Angesichts der tief verwurzelten finanziellen Verbindungen zwischen FIDE, Chess.com, Play Magnus und Magnus Carlsen stärkt die plötzliche Weigerung der FIDE, die Ergebnisse ihrer unabhängigen Untersuchung offenzulegen, unsere Überzeugung, dass diese Ergebnisse sehr positiv für Niemann sind“, schrieb Oved der New York Times. Er vermute stark, „dass dieser Skandal noch tiefer geht als erwartet“.

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Nicht Präsident Arkady Dvorkovich oder jemand anderes aus der FIDE-Chefetage habe entschieden, die Veröffentlichung zu verschieben, sondern die Ethik- und Disziplinarkommission, entgegnete FIDE-Sprecher David Llada auf Anfrage der US-Tageszeitung. Die Mitglieder dieser Kommission agierten professionell, im besten Interesse der FIDE, der Schachgemeinschaft und mit einem Höchstmaß an Unabhängigkeit, sagte Llada.

„Im besten Interesse der FIDE“ mag der Schlüssel zur plötzlichen Geheimhaltung sein. FIDE-Generalsekretär Emil Sutovsky hat in der jüngeren Vergangenheit angedeutet, dass er einen Konflikt zwischen dem Weltverband und dem Schach-Monopolisten chess.com befürchtet – und dass dieser schlecht für die FIDE enden könnte. Im besten, existenziellen Interesse der FIDE wäre, eine Auseinandersetzung zu vermeiden.

FIDE-Generalsekretär Emil Sutovsky, in Sorge um die Ambitionen von chess.com: “Schließe nicht aus, dass die Situation eskaliert.” | Foto: Anna Shtourman/FIDE

Gegenüber der russischen Zeitschrift Sport-Express hat Sutovsky eingeräumt, chess.com sei in der stärkeren Position. „Wir versuchen, Gemeinsamkeit mit chess.com herzustellen. Das scheint uns das natürlichere und fortschrittlichere Vorgehen zu sein, als Ressourcen und Kräfte für eine Konfrontation aufzuwenden.“ Allerdings ist sich Sutovsky nicht sicher, in welche Richtung sich chess.com entwickeln will. „Wenn ihre Ambitionen den Punkt erreichen, an dem sie versuchen, die FIDE vollständig zu überschatten, dann schließe ich nicht aus, dass die Situation eskalieren wird.“

Die FIDE, chess.com und die Carlsen-Niemann-Geheimakte.

Schon jetzt gebe es gelegentliche Auseinandersetzungen, sagte Sutovsky. „Aber bisher konnten wir die per Verhandlung ausräumen.“ Im vergangenen Jahr etwa hatte chess.com eine eigene Weltmeisterschaft gegründet und diese auch so genannt – mutmaßlich ein Versuch zu testen, ob und wie die FIDE reagiert, wenn ihr jemand die WM-Exklusivität streitig macht. Die FIDE protestierte, und diesmal ruderte chess.com noch zurück, anstatt den Konflikt auszufechten: Die „chess.com World Championship“ wurde zwei Tage nach ihrer Verkündung in „chess.com Global Championship“ umbenannt.

Wie die Sache wohl ausgegangen wäre, hätte chess.com aus seiner „stärkeren Position“ heraus auf einer eigenen Weltmeisterschaft insistiert? Es liegt nahe zu vermuten, dass das bei der FIDE niemand herausfinden möchte.

Die “chess.com World Championship” hieß nur zwei Tage so. Nach einem Protest der FIDE ruderte chess.com diesmal noch zurück. Der Wettbewerb wurde in “Global Championship” umbenannt.

An der Person des chess.com-Botschafters Magnus Carlsen lässt sich aus Perspektive der FIDE ein weiterer Grund festmachen, Auseinandersetzungen aus dem Weg zu gehen. „Nichts ist gut daran, wenn der beste Spieler nicht an der Weltmeisterschaft teilnimmt“, hat Sutovsky vor dem WM-Match im Gespräch mit der Sportschau gesagt. Nicht nur der FIDE-Generalsekretär hofft, dass Carlsen das Kandidatenturnier 2024 in Kanada (für das er als Weltranglistenerster per Rating qualifiziert sein wird) zum Anlass nimmt, in den WM-Zyklus der FIDE zurückzukehren.

Eine FIDE-Untersuchung, die Carlsen schlecht aussehen lässt, wäre dem Ansinnen, ihn zur Rückkehr zu bewegen, nicht dienlich. Noch ärger wäre in diesem Sinne, die FIDE müsste Carlsen auf Grundlage des Berichts wegen unsportlichen Verhaltens rügen oder bestrafen. Also lässt der Weltverband seinen Bericht lieber in der Schublade verstauben, um sich keinen Ärger mit den beiden größten Playern im Schach einzuhandeln?

Die FIDE hofft, dass Magnus Carlsen doch in den WM-Zyklus 2023/24 einsteigt. Eine WM ohne den besten Spieler sei nicht gut, erklärte Sutovsky in der Sportschau. Carlsen hat allerdings unlängst erklärt, die Chance auf eine Rückkehr sei denkbar klein, kleiner als ein Prozent.

Der ganze Bericht bleibt vorerst geheim. Ein entscheidendes Detail, das in dieser Verschlusssache steht, ist dennoch bekannt: Es gibt keinen Beweis, der Carlsens Betrugsvorwurf gegen Niemann untermauert. Der Informatik-Professor und FIDE-Anti-Cheating-Experte Kenneth Regan hat dieses Untersuchungsergebnis mehrfach öffentlich durchblicken lassen, laut New York Times zuletzt am vergangenen Mittwoch: „Eindeutig nein“ antwortete Regan auf die Frage, ob er einen Beweis für falsches Spiel seitens Niemann gefunden hat.

Carlsen hatte seinen Verdacht seinerzeit allenfalls vage begründet: „Ich glaube, dass Niemann mehr – und in jüngerer Zeit – betrogen hat, als er öffentlich zugibt“, schrieb Carlsen auf Twitter. Er sei während der Partie in Saint Louis misstrauisch geworden, weil Niemann nicht besonders angespannt wirkte und ihn dennoch „auf eine Weise überspielte, wie es meiner Meinung nach nur eine Handvoll Spieler kann“.

Der Tenor derjenigen Fachleute, die diese wahrscheinlich bestuntersuchte Partie jemals unter die Lupe genommen haben, lautet anders. Nicht Niemann habe gespielt wie eine Maschine, sondern Carlsen seien erstaunliche Fehler unterlaufen. „Und am Ende ist Carlsen meinem Eindruck nach einfach eingebrochen“, hat Exweltmeister Viswanathan Anand zu Protokoll gegeben. Bis dieser Tenor nun offiziellen Charakter bekommt, werden Monate vergehen.

https://twitter.com/OpTic/status/1648457809804296192
Magnus Carlsen spielt Schach, betanzt von den Botez-Schwestern.

Der am Anfang seiner Karriere stehende Hans Niemann ist der Gelackmeierte, während Magnus Carlsen am Ende seiner Schachkarriere bei Poker und Party mit den Botez-Schwestern nachholt, was ihm während seiner fast zehnjährigen Regentschaft als Weltmeister versagt war. Wie sich die nach Einschätzung der Niemann-Anwälte „ungeheuerliche Diffamierung“ ihres Mandanten auf die Karriere des 19-Jährigen auswirkt, lässt sich am Turnierkalender dieser Wochen ablesen: Hans Niemann bekommt keine Einladungen zu Rundenturnieren mehr, sämtliche Veranstalter sind eingeknickt.

2022 hat Niemann das Capablanca-Memorial auf Kuba gewonnen, 2023 spielt er dort nicht (stattdessen Rasmus Svane). 2022 hat Niemann beim Stepan-Avagyan-Memorial in Armenien den vierten Platz belegt, 2023 spielt er dort nicht (stattdessen Frederik Svane).

Auch das derzeit in Schweden laufende TePe Sigeman, das Niemann 2022 gewonnen hat, findet 2023 ohne ihn statt. Die Schweden haben stattdessen Jorden van Foreest eingeladen, den Sieger von 2021. Pikant in diesem Zusammenhang: Hauptsponsor Johan Sigeman, Jurist, ist stellvertretender Vorsitzender der Ethik- und Disziplinarkommission der FIDE, die jetzt beschlossen hat, die Ergebnisse der FIDE-Untersuchung zu Carlsen vs. Niemann vorerst nicht zu veröffentlichen.

“So klein war Magnus Carlsen, als er hier zum ersten Mal mitgespielt hat”: TePe-Sigeman Hauptsponsor und FIDE-Komissionsvorsitzender Johan Sigeman schwelgt zur Eröffnung des 2023er-Turniers in Erinnerungen. Der Vorjahressieger Hans Niemann ist 2023 nicht eingeladen, stattdessen der Sieger von 2021, Jorden van Foreest. | Foto: David Llada/TePe Sigeman

Umso bemerkenswerter die Leistungsentwicklung von Hans Niemann, der mehr als jeder andere Schachspieler unter Beobachtung und unter Druck steht, sobald er am Brett sitzt. In Ermangelung von Alternativen spielt Niemann jetzt kaum lukrative und nur an der Spitze stark besetzte offene Turniere, aktuell in Baku/Aserbaidschan. Trotz dieser widrigen Umstände wird er immer besser. Als Magnus Carlsen im September 2022 den Skandal losbrach, stand der US-Amerikaner mit 2688 Elo auf Rang 49 der Weltrangliste. Im Mai 2023 steht er mit 2708 auf Rang 31.

Während in Astana Ding Liren und Ian Nepomniachtchi um den WM-Titel spielten, spielte Hans Niemann 400 Meter entfernt ein Open. Zwischen den Runden schaute er beim WM-Match zu. | Foto: Maria Emelianova/chess.com
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Manfred
Manfred
10 Monate zuvor

Die Machtkonzentration bei chess.com ist wirklich erschreckend. Ich ziehe mich von dieser Plattform jetzt endgültig zurück und lösche meinen Account.

Manfred Menacher
Manfred Menacher
10 Monate zuvor

Die FIDE knickt vor großen Namen ein. Hoffentlich nicht auch die Justiz.
Im Grunde hat Carlsen mit seiner falschen Verdächtigung ohne tatsächlichen Anhaltspunkt die Karriere von Niemann zerstört oder zumindest sehr beeinträchtigt. Traurig ist auch, dass die Veranstalter vor den großen Namen einknicken und Niemann nicht mehr einladen zu großen Rundenturnieren obwohl gerade er Schachfans anzieht und diese sehen wollen wie er abschneidet und welche Partien er spielt.

Stefan Junker
Stefan Junker
10 Monate zuvor

Ich ignoriere Magnus Carlsen, ich ignoriere Chess.com und die FIDE hat für mich auch keine Bedeutung. Klingt ohnehin fast wie FIFA, da wundert nichts mehr.

Ludger Keitlinghaus
Ludger Keitlinghaus
10 Monate zuvor

Vieles deutet darauf hin, dass die FIDE die Ergebnisse ihrer Untersuchung unter Verschluss hält, um einen Konflikt mit Magnus Carlsen und chess.com zu vermeiden. [Artikeltext]”
So ist es wohl, rechtlich sind Beweisführungen anzutreten, was hier wohl nicht gelingt.

Ken Regan {1] st aus diesseitiger Sicht zu “locker”, sicherlich liegt sog. Evidenz vor, ansonsten wäre Magnus Carlsen sparsamer, geblieben.

[1]
Ich habe mir einige Texte von ihm durchgelesen, sehr viele, Ken ist anscheinnd nicht gedanklich böse genug, as to say.

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