Fast einen Monat nach der außergerichtlichen Einigung mit chess.com und Magnus Carlsen hat sich Hans Niemann an der Seite seines Anwalts Terrence Oved jetzt erstmals einem Interview gestellt. Als Gast bei “Piers Morgan uncensored” wollte Niemann gerne ausführlich über seine Rolle als Opfer einer Kampagne sprechen – und wie stark er daraus hervorgegangen ist. Dazu kam es nur bedingt. Moderator Piers Morgan interessierte sich in erster Linie für den Aspekt, der diese Kuriosität aus der Schachnische zu einem Debattenthema der allgemeinen Öffentlichkeit gemacht hat: die Analperlen.
Zur Sprache kam auch die Causa Vladimir Kramnik vs. Hans Niemann, die sich in den vergangenen Tagen munter weitergedreht hat. Nach dem Narrenmatt-Vorfall wollte es das Schicksal, dass sich die beiden in der Qualifikationsrunde zum gerade laufenden Turnier der Champions Chess Tour begegnen. Niemann gewann das Zwei-Partien-Match 2:0, verbannte Kramnik in die dritte Division und qualifizierte sich selbst für die zweite (wo er in dieser Woche auf Vincent Keymer treffen könnte).
Diese neuerliche Niederlage gegen den US-Boy quittierte Kramnik mit einem neuerlichen Rückzug von chess.com: Die mit Betrügern durchsetzte Plattform tue nichts gegen “diese kleinen Gauner”, so steht es bis heute in Kramniks Profil. Auch dieser Rückzug hält ihn nicht davon ab, auf chess.com weiterzuspielen, zuletzt am gestrigen Montag.
Zum Auftakt der Division III bezwang Kramnik den aserischen GM Vugar Asadli. 1,5:0,5, unterlag dann dem peruanischen GM Jose Eduardo Martinez Alcantara 0:2. Im Verlierer-Bracket des doppelten K.o.-Systems muss Kramnik heute seinen Landsmann Maxim Matlakov schlagen, will er nicht ausscheiden. Niemann unterlag zum Auftakt der Division II (4-Partien-Matches) dem Polen Jan-Krzysztof Duda 1,5:2,5. Er trifft jetzt auf den Aseri Eltaj Safarli.
Beide, Niemann und Kramnik, absolvieren parallel einen Wettbewerb am Brett und einen online: Niemann spielt als Erstgesetzter die Junioren-WM in Mexiko (an zwei gesetzt: Frederik Svane), Kramnik ein Schnellturnier in Amsterdam. Trotz der Vorgeschichte lassen beide durchblicken, dass zwischen ihnen alles in Ordnung ist. Was Kramnik von sich gibt, nimmt Niemann so ernst, wie es angemessen ist, und Kramnik hat zuletzt Niemann sogar zum Schach nach Amsterdam eingeladen. Wegen der Junioren-WM hat Niemann die Einladung ausgeschlagen.
Seitdem Niemann wieder offen spricht, hat er durchblicken lassen, dass er unverändert auf einer schwarzen Liste internationaler Turnierveranstalter geführt wird. Dennoch steht ihm sein erstes Weltklasse-Rundenturnier nach dem Sinquefield-Cup 2022 bevor: Am 5. Oktober beginnt in Saint Louis die extrem stark besetzte US-Meisterschaft, wo Niemann unter anderem auf Fabiano Caruana und Levon Aronian treffen wird.
Das Gespräch mit Piers Morgan, übersetzt, gekürzt, redaktionell bearbeitet:
Hans, warum hast du deinen Anwalt mitgebracht?
Nach dem rechtlichen Verfahren und der Einigung könnten Rechtsfragen auftauchen. Die kann mein Anwalt besser beantworten. Ich bin Terry und seinem Team dankbar für ihre Arbeit, dafür, dass sie an mich geglaubt und mir geholfen haben. Terry ist nicht nur mein Anwalt, er ist mein Freund und Vertrauter.
Die Anschuldigung lautete, du habest dir vor der Partie gegen Magnus Carlsen Analperlen eingeführt, die Signale von deinem Trainer empfangen. Was war deine Reaktion darauf?
Nach einem Sieg des Betrugs beschuldigt zu werden, war anfangs entmutigend. Aber es ist nun einmal passiert. Ich habe daraus gelernt und blicke nach vorne.
Was hast du gelernt?
Die Sache hat mich stärker und entschlossener gemacht. Als die Medien mich attackierten und sich die Welt um mich herum umkrempelte, das war eine intensive Erfahrung. Ich habe gelernt, mit Druck umzugehen und unter all dem Druck trotzdem Leistung am Brett zu bringen.
Um es klarzustellen, du hast nicht betrogen.
Natürlich nicht.
Aber du hast zugegeben, in der Vergangenheit betrogen zu haben. Liegt es dann nicht nahe, dass die Leute denken, du würdest so weitermachen?
Der chess.com-Bericht, in dem ich beschuldigt werde, in über 100 Partien betrogen zu haben, ist verleumderisch. Der wahre Grund, warum sie mich gesperrt haben, war chess.coms Übernahme von Magnus Carlsens Play-Magnus-Gruppe. Damit sich der neue Botschafter des Unternehmens nicht zum Gespött macht, musste chess.com dessen Anschuldigungen bestätigen.
Terrence: Der Bericht bestand aus 51 Seiten, und am Ende dieser 51 Seiten gab es nicht den kleinsten Beweis für Magnus‘ Anschuldigungen. Den gibt es immer noch nicht.
Ein 12-Jähriger macht einen Fehler, lernt seine Lektion, okay. Warum macht er als 16-Jähriger dasselbe nochmal?
Auch beim zweiten Mal war es ein dummer, kindischer Fehler. Ich war 16, musste für meinen Unterhalt aufkommen, fühlte mich unter Druck und wollte, dass mein Rating auf der Website steigt. Du musst den Unterschied zwischen diesen Onlinepartien verstehen, die absolut bedeutungslos sind, in denen es um nichts geht, und Wettkampf am Brett unter Turnierbedingungen. Das sind zwei unterschiedliche Welten.
Du hast jetzt online Vladimir Kramnik besiegt. Kramnik sagte danach, er wollte nicht mehr auf chess.com spielen, es gebe „zu viele offensichtliche Betrüger“, und es werde nichts getan, um die Plattform „von diesen kleinen Gaunern zu säubern“ – harte Worte.
Nachdem ich ihn geschlagen hatte, hat er ein Video veröffentlich, das, nun ja, ein bisschen verwirrend war. Aber vor ein paar Tagen habe ich privat mit Kramnik korrespondiert. Er sagte, er habe kein Problem mit mir und habe dieses Video nicht als Anschuldigung gemeint.
Aber genau das hatte er angedeutet.
Kramnik hat mich nach Amsterdam eingeladen, um gemeinsam zu trainieren und über Schach zu sprechen. Es wäre es doch seltsam, wenn er mich gleichzeitig öffentlich des Betrugs beschuldigt. Nach außen sieht die Sache vielleicht merkwürdig aus, aber seine Einladung scheint ein klares Zeichen zu sein. Leider kann ich sie wegen der gerade laufenden Junioren-WM nicht annehmen. Aber ich hoffe, Kramnik bei anderer Gelegenheit zu treffen und die Dinge mit ihm genauer zu erörtern.
Die Leute fragen sich, wie du Magnus Carlsen besiegen konntest.
Meine Spielstärke habe ich immer wieder bewiesen. Auf chess.com hatte ich bis zu der kurzen Sperre auf höchstem Level gespielt, einige der besten Spieler der Welt besiegt. Mein Rating am Brett ist sogar gestiegen, nachdem die Sache losgebrochen war. Darüber, dass Carlsen gegen mich verloren hat, reden wir heute nicht, weil das so außergewöhnlich war, sondern nur, weil es sich um den Fall eines aggressiven Platzhirschs handelt, der seine Geschäftsinteressen bedroht sah.
Ist Magnus Carlsen ein Bully?
Offensichtlich. Er hat sein Imperium benutzt, seine Verbindungen zu chess.com, die Tatsache, dass eine Übernahme im Gange ist. Er hat alle Beteiligten dazu gebracht, mich anzugreifen. Dagegen habe ich mich gewehrt. Jetzt freue ich mich, wieder beim Schach gegen ihn anzutreten und das zu tun, was ich am besten kann.
Was ist mir der 100-Millionen-Dollar-Klage?
Terrence: Wir haben uns geeinigt.
Hat die Gegenseite dafür bezahlt?
Terrence: Darüber können wir nicht sprechen.
Okay, es interessiert mich wirklich. Wie kann man widerlegen, dass man Analperlen zum Betrug benutzt hat?
Das war doch nie eine ernste Sache, nur etwas, das die Medien aufgegriffen haben.
Ich frage mich ja nur, wie man das widerlegen kann. Wurdest du einer Leibesvisitation unterzogen, wurden Körperöffnungen untersucht?
Bei Turnieren gibt es Sicherheitskontrollen, sehr gewissenhafte Kontrollen. Metalldetektoren, Scanner, sowas.
Würden die auch Analperlen aufspüren?
Ich weiß nicht, Piers, ich habe keine wirkliche Ahnung…
Würdest du dich einer Leibesvisitation unterziehen, um das Gerücht zu widerlegen?
Terrence: Anscheinend ist dieses das Hauptthema deiner Neugierde. Aber dein Gast ist heute ein 19-jähriger Champion, der den Weltmeister und dessen Entourage besiegt hat, das Opfer des größten Cybermobbingfalls in der Schachgeschichte, jemand, der darüber besser geworden ist anstatt bitter. Darüber möchte er sprechen, und du fragst nur zu Analperlen. Wir kennen die Antwort auf deine Frage nicht, Piers. Lade doch die Analperlenleute in deine Show ein, die können es erklären.
Das mache ich vielleicht. Ich liebe übrigens Schach.
Terrence: Du scheinst Analperlen mehr zu lieben.
Wegen dieses Aspekts bist du außerhalb der Schachwelt berühmt geworden, Hans. Der Verdacht stand im Raum, angeheizt vom Weltmeister, der nicht verstand, wie du ihn unter normalen Umständen besiegen konntest.
Magnus Carlsen verliert gelegentlich gegen starke Großmeister. Es ist keine Sensation, wenn ich ihn in einer einzelnen Partie besiege. Viele Spitzengroßmeister sind sehr, sehr gut, die Unterschiede und Margen sehr klein. In einer Partie kann alles passieren.
Wenn du wieder gegen Magnus Carlsen spielst, wirst du ihn – in Ermangelung einer besseren Formulierung – in den Hintern treten?
Die Partie im September 2022 wird nicht die letzte gewesen sein, in der ich ihn schlage. Weißt du, ich lasse einfach mein Schach für sich selbst sprechen.
Ich kenne Piers Morgan nicht, aber nach diesem Interview scheint klar, dass es ihm nicht um die Sache geht, sondern lediglich um seine Einschaltquote. Bedauernswert schlechter Journalismus. Diese Partie ging klar an Hans Niemann.
Welche Geschäftsinteressen von Carlsen sollen angeblich bedroht worden sein? Gegen einen GM zu verlieren, das sagt Niemann selbst, ist für Carlsen ganz normal. Wo bitte ist also welches Geschäftsinteresse bedroht? Niemann widerspricht sich selbst.
Das ist eine weitere Unlogik neben den unzähligen Indizien (Centipawnanalyse! usw) die dafür sprechen.
Mich erinnert das stark an die Lance Armstrong Zeit im Radsport. Es gab ständige starke eindeutige Indizien, alle wussten es, und es konnte nie bewiesen werde, wurde totgeschwiegen und vom Akteur selbst immer abgestritten.
Ich glaube nicht, dass Magnus Carlsen beim Sinquefield Cup 2022 berechnend vorgegangen ist, sondern einfach nur frustriert von der Situation war. Es ist nämlich nicht möglich gutes Schach gegen eine Person zu spielen, von der man annimmt sie benutze möglichweise eine Engine. Viele Entscheidungen im Spitzenschach werden von psychologischen Erwägungen geleitet. Und hier befindet sich der Spieler gegen eine Engine in einem Vakuum, welches er nur mit purer Variantenberechnung bei jedem einzelnen Zug füllen könnte. Das ist aber für einen Menschen unmöglich, weil er nicht genug Zeit und Energie dafür hat. Das Niemann in dieser Partie nicht betrogen hat, scheint… Weiterlesen »
In der Video-Unterschrift zur Junioren-WM wurde Rasmus mit Frederik verwechselt:
Erst gestern, 27. 9. 23, Seite 16, schreibt die SZ über die Geschäftsinteressen von ‘World Chess’, ein Unternehmen, das Schach fernsehtauglich, also dramatisch gestalten möchte, indem sie den Spielern etwa deren Herzfrequenz erfasst und live einblendet. Das hätte mich sehr interessiert, wie der Puls in oben erwähnter Partie bei Carlsen wohl in die Höhe geschnellt ist. Ja, das könnte dem Schachspiel eine pikante Note hinzufügen, den Gladiatorenaspekt hervorheben und unter Hinzuziehung eines Lügendetektors gleich auch noch besagtes Cheating minimieren. Ich hätte da noch mehr Ideen, aber die sind nicht kommentartauglich. Vielleicht endet das Traditionsschach irgendwann einmal wie Wrestling in der… Weiterlesen »
Zuerst wollte man ihn zerstören, jetzt waren Magnus’ Geschäftsinteressen bedroht…
Ob er betrogen hat oder nicht oder ob ihm Unrecht geschehen ist, mag ich nicht zu beurteilen. Aber er scheint sich seine Parallelwelt zurecht zu zimmern…
Nebenbei: er hat die Klage fallen gelassen. Für mich ist das kein Patt, kein Remis, es ist ein Sieg für chess.com und Carlsen, das kann die Analperle Niemann drehen und wenden wie er will.
[Vorschlag: man möge den Blog umbenennen: Analperlen vom Bodensee]
Wer überhaupt ist dieser Niemann? Irgendeiner der beängstigend vielen völlig unbekannten Groß- und Gruselmeister. Ohne einen saftigen Skandal kennte man ihn auch jetzt noch nicht – ein Weg zum sich evtl. doch noch füllenden Konto. Und die Interessen des Herrn Carlsen? Noch nie gab es einen Weltmeister, der so uninteressantes Schach zog (um das Wort “spielen zu meiden) und im Stile des späten Flohr eben auch obsiegte. Als Flohr noch etwas riskierte, war der Mann ein Star, mit Straßenplakaten, nach ihm benannten Zigaretten – danach “risikoloses” Schach zu spielen begann, völlig uninteressant, völlig carlseniert. Im Interesse des Herrn Carlsen müsste… Weiterlesen »