Zweiklassengesellschaft

Einen Spieltag vor dem Ende der Vorrunde stehen die Halbfinalisten beim Magnus Carlsen Invitational fest. Nachdem Gast- und Namensgeber Magnus Carlsen sich seinen Platz im Halbfinale längst erspielt hatte, kamen nun Fabiano Caruana, Ding Liren und Hikaru Nakamura dazu. Für die drei Letztgenannten wird es in der letzten Runde vor allem darum gehen, ein Halbfinale gegen Carlsen zu vermeiden.

Grafik: chess24

Oder nicht? Seitdem Carlsen das Halbfinale sicher hat, hat er in den Daddel-Modus umgeschaltet. Gegen Giri stellte Carlsen einen Turm ein und verlor gar das Match, außerdem bereicherte er die Platte mit anti-sizilianischem Käse um den Versuch 1.e4 c5 2.Sf3 d6 3.d4 exd4 4.Sxd4 Sf6 5.Lc4?! – und schaffte es gegen Ian Nepomniachtchi, mit Weiß nach sieben Zügen auf Verlust zu stehen.

Nepo und die unforced errors

Eine Scheibe vom 250.000-Dollar-Preisgeldkuchen schneiden sich die Herren Supergroßmeister gerne ab, gleichwohl scheint keiner die Veranstaltung allzu ernst zu nehmen. Fabiano Caruana stellte gleich zu Beginn fest, das Niveau online sei deutlich niedriger als am Brett, und noch längere Partien als diese online zu spielen, könne er sich nicht vorstellen.

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Maxime Vachier-Lagrave, wie ihn die Künstlerin Rosemarie J. Pfortner sieht. Der Franzose hat jetzt auf seiner Website einen Tagebucheintrag veröffentlicht, der veranschaulicht, wie er in den vergangenen Wochen seine Schacharbeit ins Netz verlegt hat: “confined, but active“.

Maxime Vachier-Lagrave nutzt das Turnier derweil als Gelegenheit, sein Repertoire zu erweitern und einfach mal andere Stellungen zu üben. Mit Weiß zieht der Franzose 1.d4 statt 1.e4, mit Schwarz verteidigt er sich Slawisch statt Grünfeld-Indisch – und stellt wieder und wieder fest, dass er mit Weiß nichts rausholt und mit Schwarz in Schwierigkeiten gerät.

Ian Nepomniachtchi hat kaum Eröffnungsprobleme, aber erlaubt sich im Verlauf seiner Partien noch mehr unforced errors als die üblichen, ohne die er längst die 2800 Elo geknackt hätte. “Pro Match verschenkt Ian im Schnitt einen Punkt”, hat sein Landsmann und Kommentator Peter Svidler jetzt festgestellt.

Was heißt nochmal “Bürokratie” auf Englisch? Und wie schreibt man das?

In erster Linie ist das Turnier für die Teilnehmer ein Spaß am Rande, und für das Schach, speziell für Ausrichter chess24 eine Gelegenheit, dort zu fischen, wohin die Rute bislang nicht reichte. Zwar wird das Magnus-Turnier auf der Nachrichtenseite der größten Schachplattform chess.com totgeschwiegen, aber bei ChessBase scheinen die Macher der Websites zu dem Schluss gekommen zu sein, dass angesichts der Besetzung Berichterstattung Pflicht ist, auch wenn ein Mitbewerber die Sache veranstaltet. ChessBase hat sogar für seinen deutschsprachigen Twitch-Kanal den unverwüstlichen Klaus Bischoff aktiviert, um einen eigenen Livestream anbieten zu können.

Fehlt einem Online-Turnier die Seele?

Bedeutender als Präsenz bei anderen Anbietern aus der Schachnische ist für das in neun Sprachen sendende chess24, dass das Turnier außerhalb der Szene mehr Aufmerksamkeit bekommt als je ein Schachturnier zuvor. In Ermangelung anderen Sports (in Weißrussland soll noch Fußball gespielt werden, ansonsten: nix) sendet das eigentlich auf Fußball spezialisierte DAZN jeden Tag Schach. Der Sender übernimmt den englischsprachigen chess24-Stream.

Dazu die Bemühungen um den riesigen chinesischen Markt. Die Play-Magnus-Gruppe flankiert das Invitational mit dem Launch chinesischsprachiger Apps. Und so dürfen wir gespannt sein auf die Zuschauerzahlen, die dieses erste Online-Superturnier generiert. Wahrscheinlich die höchsten jemals.

Gefühlt anhand des täglichen Blick auf die Schach-Twittersphere, nimmt die Schachszene signifikant weniger Anteil am Magnus Carlsen Invitational als an Offline-Superturnieren. Vielleicht fehlen einem Online-Turnier Seele und Sinnlichkeit, verglichen mit einem, bei dem die Stars tatsächlich aufeinandertreffen (und die Sache ernster nehmen). Vielleicht liegt es auch daran, dass wir Fans uns erst an diese Turnierform gewöhnen müssen?

Der schachliche Erkenntnisgewinn mag sich in Grenzen halten, aber zuzuschauen, ist allemal ein Spaß. chess24 fährt ja auch auf den Kommentatorenplätzen das ganz große Gedeck auf: Svidler, Grischuk, Gustafsson, als Anspielstationen Lawrence Trent und Tania Sachdev (die beide ihre Rolle noch finden müssen), dazu die spielfreien Teilnehmer und der eine oder andere Überraschungsgast. Jan Gustafssons Tochter zum Beispiel, der es offenbar gar nicht gefällt, dass der Papa daheim jeden Tag hinter einer grünen Wand verschwindet, um über Schach zu sprechen.

https://twitter.com/chess24com/status/1255526678744440832
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