Die WM-Kandidaten stehen fest: zwei Favoriten, sechs Außenseiter, eine tragische Figur

Am Ende entschied ein Match zwischen dem Russen Ian Nepomniachtchi und dem Chinesen Wei Yi, ob der Franzose Maxime Vachier-Lagrave oder der Russe Kirill Alekseenko ins Kandidatenturnier einziehen würden. Das Finale des Grand Prix in Jerusalem spiegelte einmal mehr, wie undurchsichtig die Qualifikation für das wichtigste Schachturnier überhaupt verlaufen war.

Die tragischste Figur des Kandidatenzyklus ist leicht auszumachen: Wie vor zwei Jahren ist MVL so knapp gescheitert, wie es nur geht. Im World Cup wie im Grand Prix hat er ganz vorne mitgespielt, in der Weltrangliste steht er beständig eher unter den Top 5 als unter den Top 10, und doch hat es wieder nicht gereicht. Nur wenn noch einer der jetzt feststehenden acht Kandidaten zurückzieht, würde MVL dank seiner konstant hohen Elozahl nachrücken.

Wie 2018 auch 2020 die tragische Figur des Kandidatenzyklus: Maxime Vachier-Lagrave wird zuschauen müssen, wenn im März/April in Jekaterinenburg der WM-Herausforderer von Magnus Carlsen gekürt wird. (Foto: FIDE/World Cup)

Im März/April 2020 werden die acht Kandidaten klären, wer Ende 2020 Magnus Carlsen herausfordert. 14 Partien werden in Jekaterinenburg zu absolvieren sein, jeder gegen jeden, und das doppelrundig. Von der jüngsten Vier-Jahres-Sperre der Welt-Anti-Doping-Agentur WADA gegen Russland ist das Kandidatenturnier nach Darstellung der FIDE nicht betroffen, sodass dieser Spielort feststehen sollte.

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Wo das WM-Match 2020 stattfindet, ist offen. Anfang November ist die Ausschreibung abgelaufen. Am Rande des Grand Prix in Hamburg verkündete FIDE-Präsident Arkadi Dvorkovich, er wolle bald bekanntgeben, ob Dubai oder Buenos Aires den Zuschlag bekommen, die einzigen verbliebenen Bewerber am Ende eines rumpelig verlaufenen Prozesses. Die „bald“ angekündigte finale Entscheidung dieses Prozesses steht immer noch aus.

Favoriten unter sich: Ding Liren und Fabiano Caruana (rechts) haben sich als Nummer zwei und drei der Welt etabliert. Wer von diesen beiden die Nummer zwei und wer die Nummer drei ist, ist nicht so klar. (Foto: Lennart Ootes/Grand Chess Tour)

In einer Hinsicht wird sich das Kandidatenturnier 2020 von dem 2018 unterscheiden: Vor zwei Jahren konnte jeder gewinnen, dieses Mal gibt es zwei Favoriten und sechs Außenseiter. Fabiano Caruana und Ding Liren haben sich als klare Nummer zwei und drei der Welt etabliert (welcher dieser beiden die Nummer zwei und welcher die Nummer drei ist, ist hingegen nicht so klar). Der US-Amerikaner und der Chinese gelten als die einzigen Kandidaten, die mehr als eine kleine Außenseiterchance hätten, ein Match gegen Magnus Carlsen zu gewinnen.

Caruana und Ding waren auch diejenigen, die als erste Kandidaten feststanden, bevor sich das Feld nach und nach füllte. Caruana als WM-Herausforderer 2018 war seit seiner Niederlage im WM-Match gesetzt. Bald gesellte sich dank seiner hohen Elozahl Ding Liren dazu, neben Caruana und Carlsen der einzige Spieler im internationalen Schachzirkus, der konstant jenseits der 2800 unterwegs ist.

Eher Privatier als Schachspieler: Teimour Radjabov hatte anfangs kokettiert, aber wird wohl beim Kandidatenturnier am Brett sitzen. (Foto: Schacholympiade Batumi 2018)

Der World Cup im September 2019 sollte zwei weitere Kandidaten gebären, die beiden World-Cup-Finalisten nämlich. Etwas überraschend erreichte der ehemalige Schach-Wunderknabe Teimour Radjabov das Finale – und irritierte mit der Aussage, er wisse noch gar nicht, ob er zum Kandidatenturnier antrete, er sei ja kein Profi mehr. Das hat er mittlerweile relativiert, und wir dürfen davon ausgehen, dass Radjabov in Jekaterinenburg am Brett sitzen wird.

Regelgerechter Rückzug?

Der andere Finalist war Ding Liren. Der stand als Kandidat längst fest, aber nun änderte sich sein Kandidatenstatus. Statt als Elo-Qualifikant würde er als World-Cup-Finalist beim Kandidatenturnier spielen. Der Elo-Spot für Jekaterinenburg wurde frei, und der gehörte (mit knappem Vorsprung vor MVL) dem Niederländer Anish Giri, der beim World Cup in der dritten Runde ausgeschieden war, aber hinter Ding Liren auf Rang zwei der Elo-Wertung lag.

Bloß keine Elopunkte riskieren: Seine Qualifikation fürs Kandidatenturnier verdankt Anish Giri dem Umstand, dass Ding Liren das World-Cup-Finale erreicht hat. (Foto: World Cup 2019)

Kaum hatte Ding Liren das World-Cup-Finale erreicht, zog Anish Giri seine Anmeldung für das Grand Swiss auf der Isle of Man zurück. Hätte er dort schlecht gespielt und Elopunkte verloren, hätte das seine Qualifikation fürs Kandidatenturnier gefährdet.

MVLs Reaktion auf Twitter, nachdem Anish Giri seine Teilnahme am Grand Swiss abgesagt hatte.

Ob es den Regeln entspricht, einzig aufgrund derartigen Kalküls zurückzuziehen? MVL deutete auf Twitter an, dass Giris Rückzug eben nicht mit den Regeln in Übereinstimmung zu bringen sei. Diese Einschätzung wäre von der FIDE zu bestätigen, die sich seitdem im „Fall Giri“ in Schweigen hüllt, was sich als stillschweigende Akzeptanz interpretieren lässt. Wir dürfen davon ausgehen, dass Anish Giri in Jekaterinenburg am Brett sitzen wird.

Entscheidung in Jerusalem

Caruana, Ding, Radjabov, Giri also. Den fünften Kandidaten sollte die große Lotterie auf der Isle of Man hervorbringen, das Grand Swiss, ein Schweizer-System-Turnier unter Beteiligung der gesamten Weltklasse, dessen Sieger Kandidat würde. Dort setzte sich der Chinese Wang Hao durch.

Sieger der großen Lotterie: Wang Hao gewann das Grand Swiss. (Foto: Isle of Man Chess)

Zwei weitere Plätze würden bei der Grand-Prix-Serie vergeben, die jetzt mit dem vierten Grand-Prix-Turnier in Jerusalem endete. Der in der Grand-Prix-Wertung mit komfortablem Vorsprung auf MVL führende Alexander Grischuk war nicht mit von der Partie. Als in der ersten Runde MVL den Tiebreak benötigte, um Veselin Topalov auszuschalten, war schon klar, dass Grischuk durch ist.

Alexander Grischuk dominierte die ersten drei Grand-Prix-Turniere so sehr, dass er beim vierten tiefenentspannt zuschauen konnte. (Foto: World Chess)

Nur mit einem Turniersieg in Jerusalem konnte Ian Nepomniachtchi MVL überholen. Und dieser Sieg gelang ihm, nachdem er im Halbfinale erst MVL höchstselbst und im Finale schließlich Wei Yi besiegt hatte.

Die Sinnhaftigkeit einer Wildcard

Caruana, Ding, Radjabov, Giri, Wang Hao, Grischuk, Nepomniachtchi, das sind sieben. Bleibt die Wildcard.

Um die Sinnhaftigkeit einer Wildcard für das größte und wichtigste Schachturnier nach dem WM-Match wird seit Monaten eine Debatte geführt, und das umso intensiver, seitdem sich abzeichnet, dass ausgerechnet der sportlich verdienteste Spieler sie nicht bekommen kann – weil er kein Russe ist. MVL bleibt auch bei der Vergabe des Freiplatzes außen vor.

Mit seinem Sieg in Jerusalem beförderte Ian Nepomniachtchi auch seinen Landsmann Kirill Alekseenko ins Kandidatenturnier. (Foto: World Chess)

Andrej Filatov, Chef des Russischen Schachverbands (in dessen Hoheitsgebiet das Kandidatenturnier ausgerichtet wird), hat im Herbst bekanntgegeben, dass die Wildcard an einen Russen gehen soll. Sollten mehrere russische Spieler für die Wildcard infrage kommen, würde ein Match oder ein Turnier veranstaltet, dessen Sieger einen Platz im Kandidatenturnier bekommt.

Mit dem Sieg Nepomniachtchis in Jerusalem bleibt ein russischer Spieler, der die Voraussetzungen erfüllt: Kirill Alekseenko, Elo 2704, Nummer 37 der Welt, Nummer 10 in Russland. Beim Grand Swiss war Alekseenko Dritter geworden (hinter Wang Hao und Caruana). Damit ist er der einzige russische Spieler, der in einem Turnier des Kandidatenzyklus die Qualifikation um einen Platz verpasst hat und damit die Bedingung für einen Freiplatz erfüllt.

Überraschungskandidat: Kirill Alekseenko, Nummer zehn Russlands, wird aller Voraussicht nach vom russischen Schachverband nominiert. (Foto: Isle of Man Chess)

Eine offizielle Bestätigung gibt es noch nicht, aber wir dürfen davon ausgehen, dass Kirill Alekseenko als Wildcard des Ausrichters am Kandidatenturnier teilnehmen wird.

Kanonenfutter? Eher nicht. Sein Abschneiden beim Grand Swiss deutet an, wozu Alekseenko in der Lage ist. Gata Kamsky sagte neulich im Gespräch mit dieser Seite, er sehe in dem 22-Jährigen einen potenziellen Weltklassespieler.

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Thomas Richter
Thomas Richter
4 Jahre zuvor

Was den klaren Favoritenstatus von Caruana und Ding Liren betrifft: vielleicht hilft ein Blick auf die Geschichte der modernen Kandidatenturniere: Das erste Mal konnte sich der “haushohe Favorit”, Fan- und Medienliebling Carlsen nur mühsam, und nur aufgrund kontroverser Tiebreak-Regeln durchsetzen. Das zweite Mal gewann mit Anand ein krasser Außenseiter. Das dritte Mal gewann mit Karjakin ein Spieler, den nur wenige auf der Rechnung hatten (neben mir selbst und dem voreingenommenen Shipov immerhin auch ein gewisser Magnus Carlsen). Nur zuletzt 2018 in Berlin gab es einen klaren Favoritensieg. Zu MVL (den ich als Spieler und Mensch schätze): Warum sollte ein Spieler,… Weiterlesen »

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