“Ob sich mein Leben wiederholt?”: Gata Kamsky im Interview

Als Zwölfjähriger besiegte er 1986 den ehemaligen WM-Kandidaten Mark Taimanov. Der Ansturm des Wunderkinds aus Südwestsibirien auf den Schachthron hatte begonnen. Zehn Jahre später saß er tatsächlich Anatoli Karpov gegenüber, ein Match über 20 Partien, und auf dem Spiel stand nicht weniger als der Weltmeistertitel. Kamsky verlor – und zog sich vom Schach zurück.

FIDE-WM-Match 1996: Gata Kamsky (links), der 1989 mit seinem Vater in die USA ausgewandert war, gegen Anatoli Karpov.

Seit 2004 ist die ehemalige Nummer vier der Welt wieder da, er wollte wieder nach ganz oben und hätte es beinahe geschafft: 2007 gewann er den World Cup, warf unter anderem Magnus Carlsen aus dem Turnier und spielte gegen Veselin Topalow ein Match darum, wer Weltmeister Visvanathan Anand herausfordern darf.

Heute ist Gata Kamsky ein Schachreisender. Der Liebe wegen ist er 2015 aus den USA nach Sibirien gezogen, etwas später des Schachs wegen nach Sankt Petersburg, weil das näher an der europäischen Turnierszene liegt.

Werbung

In Deutschland werden wir ihn demnächst womöglich regelmäßig sehen: Gata Kamsky erwägt sehr stark, sich in Deutschland niederzulassen. Was ihn nach Deutschland zieht (und vieles mehr), hat er uns am Rande der 23. Offenen Internationalen Bayerischen Meisterschaften am Tegernsee erzählt.

Bei den Offenen Internationalen Bayerischen Meisterschaften 2019 ist Gata Kamsky (hinten rechts) an eins gesetzt. Aber gleich in der ersten Runde ließ er einen halben Punkt gegen ein zwölfjähriges Talent aus Indien. (Fotos: Thomas Müller/Tegernseer Tal Tourismus)

Du bist ganz schön herumgekommen zuletzt, hast in den Niederlanden gespielt, in Spanien, auf der Isle of Man, jetzt hier am Tegernsee. Wann hast du zuletzt dein Zuhause gesehen?

Das ist ein bisschen her. Ich war ja schon während des Sommers viel unterwegs. Nächsten Monat bin ich wieder daheim, hoffe ich. Aber so ist halt meine Arbeit. Ich bin froh, dass meine Frau mit mir reist. So muss ich sie nicht vermissen.

„Halt meine Arbeit“ klingt ein wenig lieblos. Ist Schachprofi kein Traumjob?

Wenn du jung bist, ist das etwas anderes. Du reist, siehst die Welt, das fühlt sich traumhaft an. Aber jemand wie ich braucht zwischendurch Erholung. Ich möchte an meinen Büchern arbeiten und natürlich meiner Frau mit ihrem Schach helfen. Sie ist Großmeisterin, aber ihr Rating soll ein bisschen steigen. Da ist es nicht ideal, immer unterwegs zu sein. Natürlich sehen wir viel, unternehmen viel gemeinsam, es hat auch positive Seiten. Erstaunlicherweise war ich in 30 Jahren als Schachprofi noch nie in Bayern.

Turnierdirektor Sebastian Siebrecht hat Gata Kamsky erfolgreich an den Tegernsee eingeladen. Wie das ablief, hat uns Siebrecht unlängst berichtet.

Ach, was.

In Deutschland natürlich, allein schon wegen der Bundesliga. In Berlin war ich oft, Baden-Baden, Karlsruhe. Aber Bayern, das hat sich irgendwie nie ergeben.

Was sagst du zum Tegernsee?

Die Gegend ist besonders, die Häuser auch, sehr farbenfroh, das kommt mir gar nicht so deutsch vor. Ich weiß noch nicht genau, wie ich das einordnen soll, aber mir gefällt es hier, das kann ich schon sagen. Die ersten Tage mit Sonnenschein haben wir besonders genossen, tagsüber war es schön warm. Dann haben wir gestaunt, wie schnell es abends kalt wird. Wie in Sibirien! In Süddeutschland! Das konnte ich kaum fassen. Hoffentlich haben wir genug warme Sachen dabei. Als wir gepackt haben, war ja noch Spätsommer.

Nach Elo bist du hier der Favorit. Was erwartest du?

Ach, mal schauen. Ich bin ein bisschen müde nach den Strapazen zuletzt, aber ich werde meine Arbeit so gut machen, wie ich kann, und dann werden wir sehen, wofür das reicht. Mit gefällt, dass ich hier viele intensive Partien um mich herum erlebe. Und viele junge Spieler sehe. Mehr Frauen könnten noch da sein, das würde mir auch gefallen.

Wer so spielt, der kann es mit jedem aufnehmen.

Dir saß in der ersten Runde ein Zwölfjähriger gegenüber, und du hast einen halben Punkt abgegeben. Wie kam das?

Gegen starke Inder zu spielen, passiert dir im internationalen Turnierschach oft. Und dieser Junge ist ein starker Spieler. In jedem Zug hat er den zweiten, dritten Engine-Vorschlag gespielt. Unabhängig vom Rating, wer so spielt, der kann es mit jedem aufnehmen. Im Nachhinein habe ich Partien von ihm angeschaut und festgestellt, dass die Partie gegen mich wohl außergewöhnlich gut war für sein bisheriges Level. Trotzdem, ein großes Talent.

In der international besetzten Bundesliga spielst du für Deizisau, eine der Mannschaften mit den wenigsten Legionären. Wie kommt das?

Meine Frau spielte schon für den Club in der Frauenbundesliga, daher die Verbindung. Der Deizisauer Manager hat mich gefragt, ob ich nicht auch für den Verein spielen will. Wir waren noch in der zweiten Liga, als ich eingestiegen bin. Peter Leko an eins, ich an zwei, dahinter einige junge Leute…

…Deutsche vor allem.

Wir sind aufgestiegen, letztes Jahr hatten wir eine gute Saison in der Bundesliga. Ich habe mit Schwarz MVL geschlagen…

…und neben dir saß Peter Leko, der Fabiano Caruana geschlagen hat.

Wir alten Männer können noch ein bisschen spielen, das haben wir an diesem Tag gezeigt! (lacht)

“Wir alten Männer können noch ein bisschen spielen”: Als bei der Bundesliga-Endrunde 2019 in Berlin Deizisau auf Baden-Baden traf, besiegten die Weltklassespieler von einst (links) die Weltklassespieler von heute (rechts) mit 2:0. (Foto: Maria Emelianova/chess.com)

Eigentlich wollte ich dich zum US-Schach befragen. Du spielst unter amerikanischer Flagge.

Aber ich habe nicht in den USA gelebt, seitdem ich 2015 mit meiner Frau zusammengezogen bin.

WGM Vera Nebolsina, Ehefrau von Gata Kamsky. (Foto: Thomas Müller/Tegernseer Tal Tourismus)

Oh?

Sie lebte in Sibirien, ich bin zu ihr gezogen und habe mich wieder dort niedergelassen, wo ich einst geboren wurde. Ende 2018 sind wir nach Sankt Petersburg gegangen, eine Kulturstadt, näher an Europa, das passte besser. Seitdem frage ich mich, ob sich mein Leben wiederholt. Geboren in Sibirien, nach Leningrad umgezogen, dann in die USA. Und jetzt genau denselben Weg zurück. Wir planen übrigens, nach Mitteleuropa zu ziehen.

Wisst ihr schon wohin?

Im Moment tendieren wir zu Deutschland. Ich mag Deutschland. Hier laufen die Dinge sehr methodisch, das ist gut. Meine Frau spricht Deutsch, sie hat hier gelebt, kennt Land und Leute. Gerade hat sie ihre B2-Sprachprüfung bestanden und könnte jetzt in Deutschland studieren. In welcher Stadt wir leben werden, wird wahrscheinlich davon abhängen, welche Universität sie besucht.

Habt ihr euch schon Hochschulen angeschaut?

Ging nicht, wir waren ja so viel unterwegs. Auf der Isle of Man bin ich auch noch krank geworden.

Ausgerechnet.

Ja, bei so einem wichtigen Turnier! Eigentlich war ich ambitioniert, wollte mich während des Turniers in Form bringen. Aber in der ersten Hälfte war ich malade, ich konnte kein Schach spielen. Und dann war es gelaufen.

Wenn Gata Kamsky krank ist und nach eigener Aussage “nicht Schach spielen kann”, dann steht am Ende immer noch eine Turnierleistung von knapp 2650: Kamsky beim Grand Swiss auf der Isle of Man. (Foto: John Saunders)

Deine Frau hat auch mitgespielt, wie kam das bei einem Turnier voller 2700er?

Sie hatte sich über chess.com qualifiziert. Aber das Turnier war einfach zu stark.

Starke Gegner können dir ja helfen zu wachsen.

Nicht wenn der Abstand zu groß ist. Auf der Isle of Man spielten noch an den zehn hinteren Brettern 2600er, und sie mit ihren gut 2200 saß mittendrin. Das bringt nichts.

Was hältst du vom Format Grand Swiss?

Bei so einem Turnier schwingt die Idee des „American Dream“ mit. Jeder kann es schaffen, jeder kann um die Weltmeisterschaft kämpfen. Guck dir Alekseenko an, den kannte kaum jemand, aber er hätte es als Dritter beinahe geschafft.

Beinahe WM-Kandidat: Kirill Alekseenko. (Foto: Maria Emelianova/chess.com)

Wegen dieses dritten Platzes könnte er sogar die Wildcard fürs Kandidatenturnier bekommen.

Ich weiß schon lange, welches Potenzial dieser Bursche hat. 2016 haben wir in Sankt Petersburg in einem Turnier gespielt. Er hat gewonnen, ich wurde geteilter Zweiter. Seitdem ich ihn dort erlebt habe, ist mir klar, dass da wieder ein großes Talent heranwächst. Jetzt wäre er beinahe WM-Kandidat geworden.

Um den Weltmeister herauszufordern, fehlt aber noch ein Level. Und er ist 24. Glaubst du, dass er noch einen Sprung machen kann?

Wer weiß das schon? Alekseev ist bei weitem nicht der einzige junge Russe mit Potenzial. Dubov zum Beispiel erinnert mich an Tal. Oder Artemiev. Der ist ein paar Jahre jünger, auch seinen Weg verfolge ich seit einiger Zeit mit Interesse. Magnus Carlsen wird ja bald 30. Je länger er den Titel hat, desto genauer sollten wir nach potenziellen Nachfolgern Ausschau halten.

Gerade erst hat Gata Kamsky eine zweibändige Biografie herausgegeben. Band eins, “Awakening”, behandelt die frühen Jahre bis zum WM-Kampf gegen Karpov 1996. Band zwei” “Return”, beginnt mit seiner Rückkehr zum professionellen Schach 2004. Ursprünglich war nur ein Buch geplant, aber im Lauf der Arbeit durchlebte Gata Kamsky seinen zweimaligen Ansturm auf den WM-Titel neu und so intensiv, dass der Verlag entschied, das üppige Werk zweizuteilen.
5 2 votes
Article Rating
Abonnieren
Benachrichtige mich bei
guest

4 Comments
Most Voted
Newest Oldest
Inline Feedbacks
View all comments
trackback

[…] to the next game against Rasmus Svane, which went some way to justifying Gata Kamsky’s comment in a recent interview with Conrad Schormann that, “Dubov, for example, reminds me of Tal”. This time it seems Dubov was playing more by […]

trackback

[…] Kamsky recently likened Dubov to a young Tal, and on the basis of his play in Batumi, it’s not hard to see why. Can such a style succeed at […]

trackback

[…] Gata Kamsky […]

trackback

[…] Gata Kamsky […]