Jeder der acht Teilnehmer des Schach-Kandidatenturniers in Berlin kämpft um die Chance seines Lebens, ein WM-Match gegen Magnus Carlsen. Zu den Besten der Welt gehören die acht Kandidaten jetzt schon, aber Weltmeister, das wäre noch einmal eine ganz andere Liga. Und in der spielt beim Schach immer nur einer.
Seit seinem Triumph im WM-Kampf gegen Visvanathan Anand 2013 ist Carlsen Multimillionär geworden. Bei Heimspielen von Real Madrid tritt er den Anstoß, mit Liv Tyler steht er vor der Kamera, das zweite norwegische Fernsehen überträgt seine Partien live. Magnus Carlsen ist ein Weltstar.
Egal, wer in Berlin gewinnt und den Weltmeister fordert: Carlsen wird Favorit sein, der Gegner kein Fallobst
Verdient hat er das. Am Brett ist Carlsen der Beste (der Konstanteste vor allem), aber sportlich ist der Unterschied bei weitem nicht so groß wie das Prestige- und Einkommensgefälle. Egal, wer das Kandidatenturnier gewinnt und sich Ende des Jahres in London zum WM-Match stellt: Carlsen wird Favorit sein, der Gegner kein Fallobst.
In der Weltrangliste drängeln sich hinter Magnus Carlsen die 2.800-Elo-Spieler. Der Abstand zum Feld ist zwar auf gut 30 Punkte geschrumpft, trotzdem sägt niemand ernsthaft an Carlsens Stuhl. Statt einer klaren Nummer zwei gibt es im Schach eine Handvoll Kandidaten, die Carlsen in einem Match besiegen könnten, wenn es sehr gut läuft. Auf dem Nummer-Zwei-Spot der Elo-Liste wechseln sie sich ab, während Magnus knapp darüber thront.
Jetzt müssen die Kandidaten klären, wer die Chance seines Lebens bekommt. Einen klaren Favoriten gibt es nicht, weil das Feld so ausgeglichen ist. Nur zwei der acht Kandidaten, der Chinese Ding Liren und der Russe Sergej Karjakin, waren noch nie die Nummer zwei der Welt.
Kandidat mit Heimspiel
Levon Aronian (35), Armenien, Elo 2.794
Niemand wird so häufig als Favorit genannt wie Levon Aronian, und wahrscheinlich hätte kein anderer bessere Chancen, Carlsen zu schlagen, als der armenische Volksheld, der lange in Berlin gelebt hat. “Die Welt ist ein besserer Ort, wenn Aronian in Form ist”, sagt Gary Kasparow über den wahrscheinlich kreativsten Spieler des Schachzirkus. Carlsen hat mehrfach bekundet, dass er Aronian als Matchgegner am ehesten fürchten würde.
Wären da nur nicht Levs Nerven. Auch bei den Kandidatenturnieren 2013, 2014 und 2016 war Aronian Favorit, und jeweils gelang es ihm nicht, zu seiner Form zu finden. Nach Berlin kommt er allerdings mit Rückenwind. Aronian ist frisch verheiratet, und er hat nach längerer Durststrecke ein überragendes Jahr 2017 hinter sich. Außerdem war zu hören, dass er sich dieses Mal physisch so intensiv vorbereitet hat wie nie, um Kraft raubende 14 Partien gegen die Besten der Welt durchzustehen.
Gottes Kandidat
Wesley So (24), Elo 2.799, USA
Vor zwei Jahren trauten ihm Beobachter den direkten Durchmarsch auf den Schachthron zu, so steil ging es für Wesley So nach oben. Großmeister war der Philippino zwar schon, als er begann, in den USA zu studieren, aber eine Profikarriere sah seine Lebensplanung nicht vor. Doch die bessere Trainings-Infrastruktur, dazu die Hilfe von erfahrenen Coaches, führten dazu, dasss Wesley So seine Lebensplanung umkrempelte. Bis auf Rang zwei der Weltrangliste führte sein Aufstieg, aber dann ereilte ihn das Schicksal, das zuletzt jeden getroffen hat, der den Nummer-Zwei-Spot erklomm: eine Formkrise.
Ob die vollständig überwunden ist, darüber gaben Sos Resultate in der zweiten Hälfte 2017 nicht eindeutig Auskunft. Sicher ist jedenfalls, dass der unlängst in den USA eingebürgerte Großmeister den mächtigsten aller Sekundanten an seiner Seite hat: Gott. Das Kreuz trägt Wesley So stets auf der Brust, und in Interviews nach gewonnenen Partien lässt er kaum eine Gelegenheit aus, dem Herrn für seine Hilfe zu danken.
Putins Kandidat
Sergej Karjakin (28), Elo 2.763, Russland
Als Sergej Karjakin beim Kampf um die Krone 2016 Magnus Carlsen unerwartet in Bedrängnis brachte, gewann er mit seiner Objektivität und Authentizität weltweit viele Sympathien. Das nutzte sein findiger Manager, um Karjakin der Putin-Regierung als offenen Unterstützer anzudienen und den Status als “WM-Herausforderer” zu vergolden. Seitdem ist Karjakin bei der Arbeit stets in einem etwas zu kleinen Sakko mit etwas zu vielen Reklame-Stickern zu sehen, und er muss von seinen russischen Großmeisterkollegen manchen Spott dafür einstecken. WM-Herausforderer oder nicht, im riesigen Schachreich ist Karjakin einer von vielen, aber eben der einzige, der massiv Öffentlichkeit bekommt.
Gegen Carlsen glänzte Karjakin, indem er tat, was er am besten kann: solide stehen, nichts anbrennen lassen, auf Chancen warten und sie kühl nutzen, sobald sie sich bieten. Das entnervte sogar den Weltmeister, und das könnte seine Chance in Berlin 2018 sein. Wenn sich wie schon 2016 keiner der Kandidaten zu brillanter Form aufschwingen kann, wenn die Nerven zu flattern beginnen, je näher die Entscheidung rückt, dann steigen Karjakins Chancen.
Abstinenter Kandidat
Shakhriyar Mamedyarov (32), Aserbaidschan, Elo 2.809
“Das ist nur ein Formhoch.” “Der bricht bald ein.” Solche Kommentare waren zuhauf zu hören, als Shakhriyar Mamedyarov ab Ende 2016 auf dem Brett ein Massaker nach dem anderen anrichtete und Turnier um Turnier gewann. “Shakh” brach nicht ein. Sein Höhenflug katapultierte ihn auf einen Rekord-Elo von 2.809 und Platz zwei der Weltrangliste, 34 Punkte hinter Magnus Carlsen.
Zu erwarten war das nicht, schließlich ist der Aserbaidschaner mit 32 Jahren nicht gerade ein Newcomer, obendrein pflegt er den risikoreichsten Stil aller Kandidaten, der ihm in seiner Karriere neben reihenweise spektakulären Siegen auch manche Tracht Prügel eingebracht hat, speziell gegen Top-Ten-Spieler, die sich nicht so leicht in den von Mamedyarov ausgelegten Fallstricken verfangen. Und so pendelte er jahrelang stets um 2.750 Elo, bis eben vor etwa eineinhalb Jahren sein Höhenflug begann, der ihn nun nach Berlin führt. Neulich wurde Mamedyarov gefragt, was er verändert hat. “Ich trinke nicht mehr”, antwortete er schmunzelnd.
Kandidat von gestern
Vladimir Kramnik (42), Elo 2.800, Russland
An Erfahrung ist Vladimir Kramnik allen Konkurrenten weit voraus. Der Russe hat alles gewonnen, gegen jeden gespielt. Weltmeister wurde er schon vor 18 Jahren, nachdem er Gary Kasparow vom Thron gestoßen hatte. Die Nerven werden in seinem Fall kein Faktor sein, mangelhafte Vorbereitung auch nicht. Kramnik gilt immer noch als einer der akribischsten Arbeiter im Schach. Außerdem hat er den Niederländer Anish Giri, selbst ein potenzieller Kandidat, an seiner Seite, und der gilt als wandelndes Lexikon der Eröffnungstheorie.
Spitzenklasse ist nicht Kramniks Problem, aber er ist eben schon 42 Jahre alt, allemal jenseits des Zenits. Gary Kasparow verkündete jetzt, das Kandidatenturnier 2018 werde Kramniks “Schwanengesang”. Sein Landsmann sei schlicht zu alt, um über 14 Partien auf allerhöchstem Level zu bestehen. So eine Ansage seines Lieblingsgegners dürfte Kramnik allerdings eher anspornen.
Der wütende Kandidat
Fabiano Caruana (25), Elo 2.784, USA
Neben Lev Aronian ist Fabiano Caruana derjenige, von dem es heißt, er sei nun einfach mal an der Reihe. Das hieß es aber schon beim Kandidatenturnier 2016. Dort lag Caruana vor der letzten Partie nach Punkten gleichauf an der Spitze mit Sergej Karjakin, musste aber mit Schwarz gewinnen, weil Karjakin nach Feinwertung führte. Caruana legte die Partie riskant an und wurde ausgeknockt, bevor er den Konter setzen konnte, auf den er gehofft hatte. Dieser unglückliche Turnierverlauf ärgert ihn bis heute, er könnte gar an seiner Stabilität gerüttelt haben.
Natürlich ist Fabiano Caruana Weltklasse, aber der Caruana, der 2014 in St. Louis sieben Partien am Stück gegen stärkste Gegnerschaft gewann (unter anderem Magnus Carlsen), ist seitdem nicht wieder aufgetaucht. Trotzdem siegte er im Dezember 2017 beim London Chess Classic (vor Carlsen, So, Aronian, Karjakin), ein deutliches Zeichen, dass in Berlin 2018 mit dem Amerikaner zu rechnen ist.
Chinas erster Kandidat
Ding Liren (25), Elo 2.769, China
In Wirklichkeit gibt es zwei Ding Liren: Denjenigen, der sich gegen Spieler jenseits der Top 20 stets in halsbrecherische Verwicklungen stürzt, und denjenigen, der gegen die Besten der Welt solide seinen Laden zusammenhält. Wer den Aufstieg des Chinesen verfolgt hat, der erkannte ihn kaum wieder, als er die ersten Male zu Top-10-Turnieren eingeladen wurde. Vielleicht ist der Schachprofi Ding Liren der missverstandendste aller Kandidaten. “Solider Spieler”, ist jetzt überall zu hören. Von seinem Mut, seiner Risikofreude und seiner (Rechen)Stärke in dynamischen Stellungen sprechen die wenigsten.
Es spricht aber auch nicht viel dafür, dass Ding Liren ausgerechnet im wichtigsten Turnier seiner Karriere Brücken hinter sich abbricht und genau so spielt, als säßen ihm normalsterbliche 2.600-Großmeister gegenüber. Andererseits: Wer weiß? Das “dark horse” im Feld ist Ding Liren allemal. Zu verlieren hat er nichts und zu gewinnen eine Menge. Als erster chinesischer Teilnehmer eines Kandidatenturniers ist er schon jetzt so weit gekommen wie kein Landsmann vor ihm.
Der Zeitnot-Kandidat
Alexander Grischuk (34), Elo 2.767, Russland
An den aufregendsten Video-Sequenzen aus Berlin wird mit Sicherheit Alexander Grischuk beteiligt sein. Wie immer wird seine Bedenkzeit bis auf ein paar Sekunden heruntergelaufen sein, und dann wird er Zug um Zug aufs Brett knallen, nachdem er kurz nach der Eröffnung in langes Grübeln verfallen war. Grobe Fehler wird er trotzdem nicht begehen. Was andere schon vom Zusehen nervös macht, ist für Alexander Grischuk Routine.
Über Grischuks Zeiteinteilung ist schon viel lamentiert worden, viele Beobachter sehen sie als größte, womöglich einzige Schwäche des Russen. Aber er kann halt nicht anders. Klassisches Schach mit langer Bedenkzeit findet Grischuk ohnehin nicht allzu attraktiv, ihm wäre es lieber, der akute Zeitdruck beginne schon bei Zug eins. Und so schafft er sich diesen Druck eben künstlich. Davon abgehalten, einer der dominierenden Spieler des 21. Jahrhunderts zu sein, hat ihn dieses vermeintliche Manko nie.
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