“2016 war ein Spaziergang. Das wird nicht wieder so einfach”, orakelte neulich in St. Louis US-Großmeister Hikaru Nakamura – und setzte wenige Tage vor Beginn der Schacholympiade zu einem Loblied auf die starke Konkurrenz an. Aber da kann er noch so viel loben: Die USA sind der klare Favorit im Schachwettstreit der 150 Nationen im offenen Turnier, und die Zahl der Mannschaften, die den USA Gold streitig machen könnten, ist überschaubar.
Allerdings besetzen die USA ihre ersten drei Bretter nicht mehr wie noch vor zwei Jahren mit Top-Ten-Spielern, da der potenzielle 2.800er Nakamura sich unlängst aus den Top Ten verabschiedet hat. Auf Rang 13 der Welt abgerutscht ist er allerdings wegen eines anhaltenden Durchhängers im Spiel gegen seinesgleichen. Welche Massaker Nakamura anzurichten pflegt, wenn ihm Normalsterbliche gegenübersitzen, lässt sich an drei Siegen in Serie beim Gibraltar Open ablesen.
“Captain America” an Brett vier
Gefühlt sind es eben doch drei Top-Ten-Spieler, die die USA aufbieten, angeführt vom WM-Herausforderer Fabiano Caruana. Und dahinter geht es ja noch weiter. Dass weder Caruana noch Wesley So noch Nakamura als amtierender US-Meister in die Olympiade gehen, verdanken sie Sam Shankland, der diese drei bei der nationalen Meisterschaft hinter sich ließ. “Captain America” nennen sie ihn auf der anderen Seite des großen Teichs mittlerweile. Sein außergewöhnlicher Höhenflug zuletzt hat Shankland auf 2.722 Elo und in die Top 30 der Welt katapultiert.
Wenn die formidablen US-Boys einen Wackelkandidaten in ihren Reihen haben, dann Ersatzmann Ray Robson. Dessen 2.688 Elo sind kein Problem, sein Stil könnte eines sein. Robson neigt dazu, sich in zweischneidige Abenteuer zu stürzen, dazu kommt die Grischukhaftigkeit seiner Zeiteinteilung. Im Vergleich mit den anderen Spitzenteams fallen die USA an Position fünf ein wenig ab.
Ohne die Nummer 11 und 16 der Welt: die Russen können es sich leisten – oder nicht?
Das gilt besonders für die beiden Hauptkonkurrenten: Russland und China. Während die USA ihre vier 2.700+-Spieler an die ersten vier Bretter setzen, genießen diese beiden Schachnationen den Luxus, aus mehr als fünf 2.700+-Spielern die fünf Kandidaten für ihre Nationalmannschaft picken zu können. Wie stark die Russen sind, lässt sich daran ablesen, dass sie die Nummer 11 und 16 der Welt zu Hause lassen und den WM-Herausforderer von vor zwei Jahren an Brett drei aufbieten. Auch ohne Alexander Grischuk und Peter Svidler sind die Russen die Nummer zwei der Setzliste.
An den ersten beiden Brettern von Mutter Russland stehen gleichwohl zwei große Fragezeichen, Vladimir Kramnik und Ian Nepomniachtchi. Wird Kramnik wieder den “drunk machine gunner” geben, der mal alles und jeden ummäht, dessen Schüsse aber gelegentlich nach hinten losgehen? Werden wir den Nepomniachtchi sehen, der in der ersten Hälfte der russischen Meisterschaft zwei Partien vergeigt und keine gewonnen hat, oder den, der nach drei Siegen am Stück das Turnier danach beinahe noch gewonnen hätte?
An den ersten beiden Brettern sind die Russen zu allem fähig, solide sind sie erst dahinter mit Karjakin, dem wiedererstarkten Jakovenko und Vitiugov. Aber eigentlich werden beim Schach Mannschaften genau andersherum aufgestellt: Vorne den halben Punkt sicher, vielleicht mehr, und hinten wird durchgepunktet. Wir können gespannt sein, ob sich das Abweichen der Russen von diesem traditionellen Konzept auszahlt oder rächt.
Auch China musste einen 2.700er zu Hause lassen
Wer bei den Chinesen das erste Brett hütet, ist offensichtlich. Ding Liren, Nummer vier der Welt und Chinas erster 2.800er, blickt auf fast 80 Partien ohne Niederlage gegen erlesene Gegnerschaft zurück. Mehr als 110 wäre Weltrekord. Ein gutes Drittel der Strecke bis zu diesem Ziel kann er bei Olympia zurücklegen, aber als Hürde wird mancher Top-Ten-Spieler in seinem Weg stehen, wenn die Chinesen, wie zu erwarten ist, von Anfang bis Ende ganz oben mitspielen.
Wie die Russen mussten die Chinesen einen 2.700er zu Hause lassen. Getroffen hat es Wang Hao, einst die chinesische Schachsensation, dann als Trainer der neuen Generation abgetaucht, aber jetzt wieder am Brett, und das sehr erfolgreich. Eine schmerzliche Entscheidung, aber wen sonst hätten sie draußen lassen sollen? Yu Yangyi, der mit seinen 2.765 Elo mittlerweile als zweiter Chinese deutlich vernehmbar an die Tür der Top Ten klopft? Das einstige Wunderkind Wei Yi, der unlängst in einem Wettkamp den Ex-Europameister Ernesto Inarkiev deklassiert hat? Den supersoliden Carlsen-Besieger Bu? Oder Li Chao, der mehr als alle anderen auf Erfahrung im Kampf gegen stärkste internationale Konkurrenz verweisen kann?
USA, Russland und China vorne, dahinter eine Lücke – wahrscheinlich
Nominell stehen Aserbaidschan und Indien knapp hinter diesen großen Dreien, aber wer die Namen der Spieler gegenüberstellt, der wird wahrscheinlich zu dem Schluss kommen, dass hinter den ersten drei Mannschaften eine Lücke klafft. Mit Shakhryiar Mamedyarov hat Aserbaidschan ein erstes Brett von Weltklasseformat und mit Teimour Radjabov dahinter immerhin den Weltmeister im schnell remis machen. Für die Performance der Mannschaft wird viel davon abhängen, ob am dritten Brett der stets kompromisslose Arkadij Naiditsch durchzieht oder durchhängt. Ist ersteres der Fall, ist auch mit Aserbaidschan zu rechnen.
In Indien ist der Jubel groß, weil nach langen Jahren Visvanathan Anand wieder das erste Brett Indiens hütet. Traditionell bestechen die Inder bei Mannschaftswettbewerben mit ihrem Teamgeist, der sie häufig über der Erwartung spielen lässt. Und das wird nötig sein, wollen die Inder aufs Treppchen oder gar nach ganz oben.
Nichts gegen Harikrishna, Vidit, Adhiban, aber Nepomniachtchi, Karjakin, Jakovenko klingt eine halbe Klasse besser. Und die Inder werden früh genug mehr als eine Schacholympiade gewinnen. Dem Team steht ein Generationswechsel bevor: Wenn bald all die jungen Leute aus Indien, die jetzt schon die Jugendweltranglisten anführen, bei den Großen mitspielen dürfen, dann wird Indien noch stärker sein.
Aufregend: Irans Youngster
So viel Geduld wie ihre indischen Kollegen müssen die iranischen Youngster nicht aufbringen, weil sie keine Etablierten aus dem Weg räumen müssen. Aus dem Nichts entstand der seit einigen Jahren zu beobachtende iranische Schachaufschwung. Jetzt schickt der Iran seine Jugendmannschaft um den gerade gekürten Juniorenweltmeister Parham Maghsoodloo zur Schacholympiade, das aufregendste Team aus der zweiten Reihe.
Apropos Weltmeister, da war doch was? Magnus Carlsen wird in Batumi nicht mit von der Partie sein, ebenso wie Jon-Ludvig Hammer, der zweitbeste Spieler Norwegens, der, wie es heißt, einem alten Freund bei der Vorbereitung auf ein Schachmatch helfen muss und darum verhindert ist. Und so schickt auch Norwegen eine junge Mannschaft nach Batumi, die das Turnier nicht gewinnen, aber zeigen wird, was im Carlsen-Sog zwischen Oslo und Nordkap heranwächst.
Behutsamer Generationswechsel in Deutschland
Und Deutschland? Spielt auch mit, wird als Nummer 16 der Setzliste mit den Medaillen nichts zu tun haben. Eine Platzierung unter den ersten Zehn wäre riesig. Die Fans daheim würden sich freuen, wäre das eine oder andere Match gegen einen der Topfavoriten zu verfolgen.
Der Generationswechsel läuft in Deutschland eher behutsam, an den Brettern der Nationalmannschaft ebenso wie in der Elo-Rangliste. Dort hält sich mit Jan Gustafsson ein Schachspieler im Halbruhestand hartnäckig auf Position zwei. Auch der wird in Batumi dabei sein, aber als Coach der holländischen Auswahl.
Traditionell verwaltet Liviu-Dieter Nisipeanu Brett eins für Deutschland. Wer ihn die vergangenen beiden Jahre beobachtet hat, der musste befürchten, dass ihm seine in reiferen Jahren entdeckte Qualität, gegen Weltklasseleute nichts anbrennen zu lassen, abhanden gekommen ist. Aber Nisipeanu hat zuletzt zwei starke Open gespielt, so dass ein schachlicher Aufwind die deutsche Nummer eins nach Batumi trägt.
Neben Georg Meier und Daniel Fridman, den üblichen Verdächtigen, kann sich auch der erst 21-jährige Matthias Blübaum schon zum schachlichen Establishment in Deutschland zählen. Vor einen Jahr stand er bei 2.650 Elo und ließ hoffen, da wachse ein deutscher 2.700-GM heran. Zuletzt ging die Reise eher Richtung 2.600, und das ist etwa das Level, auf dem noch eine Reihe anderer ehemaliger Prinzen mit den Hufen scharrt. Einer von denen ist in Batumi dabei: Auch Rasmus Svane hat zuletzt starke Open gespielt, und wir dürfen gespannt sein, wie er sich schlägt – und wie er sich mit Bundestrainer Dorian Rogozenco verträgt. Dessen Eröffnungsratschläge hatte Svane bei der Europameisterschaft ignoriert, was zu einem öffentlichen Tadel führte.
Österreich im Aufschwung
Im Aufschwung befindet sich das österreichische Schach, was nicht nur daran abzulesen ist, dass die Österreicher erstmals alle vier Bretter mit Großmeistern besetzen können. Wien buhlt um die WM 2020, der Bundespräsident hat die Mannschaft nach Batumi verabschiedet – im Alpenland bewegt sich was. 2016 reichten den Österreichern zwei Großmeister in der Mannschaft, um am Ende vor Deutschland zu landen. Das zu wiederholen, wäre für den 35. der Setzliste ein Riesenerfolg.
Knapp dahinter auf Rang 39 rangieren die Schweizer: Die Etablierten Sebastian Bogner und Yannick Pelletier an eins und zwei sowie Florian Jenni an fünf umrahmen die Youngster Nico Georgiadis und Noel Studer an drei und vier. Georgiadis hat zuletzt beim Bieler Schachfestival mit gleichermaßen furchtlosem wie unternehmungslustigem Schach geglänzt. Wer weiß, vielleicht kann er diese Attitüde auf seine Kollegen übertragen.
Wo Olympia gucken?
Playchess/Chessbase: Alle Partien live, deutschsprachiger Live-Kommentar mit Großmeister Klaus Bischoff, der als ehemaliger Nationalspieler besonders genau hinschauen wird, was seine deutschen Großmeisterkollegen anstellen.
chess24: Alle Partien live, offizieller Kommentar-Stream eingebettet, außerdem spanischer Live-Kommentar. Eventuell Deutsch, das ist laut chess24 noch offen.
Am Bodensee sind wir hin- und hergerissen, wo wir Olympia gucken sollen. Einerseits freuen wir uns auf den Genuss, auf chessbrahTV Yasser Seirawan endlich wieder frei von allen Fesseln über Schach sprechen zu hören, anstatt ihn auf dem St.-Louis-Schachkanal eingezwängt in ein Korsett aus sinnfreien Rubriken zu sehen.
Olympia wird er mit dem niederländischen GM Robin van Kampen kommentieren, weil die Stamm-Brahs Eric Hansen und Aman Hambleton für die kanadische Nationalmannschaft am Brett sitzen. Seirawan wird oft plaudernd abschweifen, Anekdoten von Kortschnoi und Karpov erzählen, die Partien aus Batumi an der Eröffnungstheorie der 80er-Jahre messen, und wir werden das lieben – einerseits.
Andererseits schickt auch die offizielle Seite ein veritables Kommentatorenteam vor. Ivan Sokolov versteht ähnlich viel vom Schach wie Seirawan, erklärt nicht so ausführlich-freundlich, stattdessen burschikoser und direkter, gelegentlich ohne Gnade gegenüber den Akteuren. Ihm zur Seite steht die sanfte Keti Tsatsalashvili, die ihn mal bremst, mal nachhakt und stets sicherstellt, dass sich Sokolov nicht in Subvarianten von Subvarianten verliert, um zu demonstrieren, wie hoffnungslos diese Angelegenheit nun wieder ist.
Nebenbei ein Olympia-Schmöker gefällig?
Über die meisten Schacholympiaden sind Bücher geschrieben worden, aber wenige rundum gelungene darunter, weil die meisten in allererster Linie möglichst bald nach dem eigentlichen Ereignis erscheinen sollten. Und das geht zu Lasten der Qualität. Wir wollten zumindest eines als Begleitlektüre empfehlen, und das erwies sich als erstaunlich einfach. In die engere Wahl waren eh nur zwei gekommen, nämlich das als historischer Schmöker überragende “Pawns in a greater game” über die Olympiade 1939 in Buenos Aires, dem aber der schachliche Stallgeruch fehlt.
Und so gehen wir mit “Magnificence in Bled“, in dessen Zentrum die jamaikanische Schach-Nationalmannschaft von 2002 steht. Der Teamcaptain Ian Wilkinson führt den Leser mitreißend durch das Abenteuer Olympia für seine Truppe von Außenseitern und deren Versuch, gelegentlich einem Goliath das Bein zu stellen. Mal verzweifelt, mal euphorisch, oft augenzwinkernd und immer anschaulich schreibt hier ein Coach, der auch als Fan zur Schacholympiade 2002 in Slowenien gereist war und genussvoll jede Minute in der Gegenwart der größten Meister des Spiels aufsaugt.
Vielleicht war es Wilkinsons Enthusiasmus, der dazu geführt hat, dass er einige dieser ganz Großen als Co-Autoren gewinnen konnte. Im Zentrum stehen zwar die jamaikanischen Abenteuer auf dem Brett und abseits davon, aber Großmeister wie Michael Adams, Peter Svidler, Judit Polgar und andere haben mit Analysen und Kommentaren zum schachlichen Gehalt des Werks beigetragen. Es gibt ja viele großartige Schachbücher, dieses ist eines davon, aber kaum ein anderes vereint Originalität und Substanz wie “Magnificence in Bled”. Unbedingte Leseempfehlung.
Dass Nakamura die Olympiade 2016 als “Spaziergang” bezeichnet, sagt vielleicht mehr über seine Arroganz als über die Realität. Es war knapp nach Tiebreak vor der Ukraine – in der letzten Runde entscheidend neben dem etwas glücklichen 2.5-1.5 der USA gegen Kanada das 2.5-1.5 von Deutschland gegen Estland an Tisch 28. Nakamura hatte sich auf Twitter beim deutschen Matchwinner Bluebaum bedankt. Nun hat die Ukraine den grossartig aufspielenden Volokitin (8.5/9) durch den unberechenbaren Ivanchuk ersetzt, der vor zwei Jahren lieber ein Dameturnier spielte. Auch damals waren USA, Russland und China DIE Favoriten (nach Eloschnitt klarer vor Aserbaidschan, bei denen Mamedyarov und… Weiterlesen »
[…] Spitzenbrett zum ersten Mal ein. Mit 3,5:0,5 fegten sie die Mitteleuropäer von den Brettern, eine Großmeistertruppe im Aufwind, die bequem im oberen Drittel der fast 200 Teams einzuordnen ist. Damit deuteten die Inder an, dass […]
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[…] jedem Brett ein Weltklassemann. China, Russland und Indien sollten bei der Schacholympiade in Georgien ganz vorne stehen. Aber nach fünf Runden müssen sich diese großen Drei hinter Deutschland […]
[…] überlegen. Sie treten im wesentlichen mit der Mannschaft an, die 2018 vor den USA und Russland die Schacholympiade gewonnen […]