Glückliche Deutsche in Barcelona: Nisipeanu im Aufwind vor der Olympiade

Beim Schach sei kein Glück im Spiel, glauben vor allem solche Leute, die kein Schach spielen. Ihnen dient Schach als Metapher für den reinen, von Emotionen befreiten intellektuellen Wettstreit, den der überlegene Geist gewinnt. Aber wer einmal während einer Partie seine Pumpe hat pochen spüren, seine Bedenkzeit wegticken sehen, wer sich im Variantengestrüpp verheddert hat ohne Ahnung, was zu tun ist, der sieht die Angelegenheit ein bisschen anders.

Schachturniere können glücklich laufen oder unglücklich. Ein Beispiel für ein glücklich gelaufenes Schachturnier machte zu Ostern weit über Schachkreise hinaus Schlagzeilen: Vincent Keymer gewann das superstark besetzte Grenke-Open, und das zumindest nominell mit einer Weltklasseperformance. Aber wer sich Keymers Partien aus Karlsruhe anschaut, der sieht, dass es dort für einen fraglos famosen Schachspieler obendrein glücklich gelaufen ist. Mal wollten die Gegner zu viel, mal verhedderten sie sich, mal befiel sie die Schachblindheit.

Vincent Keymer war jetzt Teil der großen deutschen Delegation, die beim Sants Open in Barcelona (Endstand bei chess-results.com) auf Punkte-, Norm- und Preisgeldjagd ging (dass es für die dritte GM-Norm nicht reichte, wissen unsere Leser längst). Nicht nur für ihn, auch für einige Landsleute sah es früh danach aus, als seien sie Teil eines Turniers, das speziell für deutsche Teilnehmer glücklich läuft. Hier zwei der deutlichsten aus einer Reihe von Indizien:

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Lacasta Palacio, Joaquim – Keymer, Vincent, Sants Open, Runde 1

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Schwarz hat zwar noch ein Materialplus, aber er driftet schon seit einigen Zügen ohne rechten Plan gegen einen nominell unterlegenen Gegner. Hier ist die Partie endgültig gekippt. Weiß kann nun 31.bxa6 ziehen und steht auf Gewinn. Stattdessen  – gab Weiß auf! (Oder hat er die Bedenkzeit überschritten? Die Notation gibt keinen Aufschluss.)

Keymers Lauf ging dann weiter, hielt sogar bis in die vierte Runde, in der es eigentlich ein Glück war, dass ihm der russische Großmeister Anton Demchenko eine zweifelhafte Eröffnung vorsetzte und damit sehr bald sehr schlecht stand. Aber dann, so ein Pech, verlor Keymer erst den Faden und dann die Partie.

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In der vierten Runde trennten sich die Wege: Vincent Keymer (unten rechts) verlor am ersten Brett gegen Anton Demchenko eine überlegene Stellung, während am zweiten Brett Liviu Dieter Nisipeanu (rechts neben Demchenko) mit Hilfe seines Gegners ein nicht zu gewinnendes Turmendspiel gewann. (Foto: Veranstalter)

Ein ähnliches Glück wie Keymer in Runde eins widerfuhr der deutschen Nummer eins Liviu Dieter Nisipeanu gegen den spanischen Großmeister Narciso Dublan in Runde vier. Zwar hatte sich Nisipeanu mit Schwarz Vorteil erkämpft, aber für einen Sieg sollte es nicht reichen – theoretisch.

Narciso Dublan, Marc – Nisipeanu, Liviu Dieter, Sants Open, Runde 4

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Weiß hält die Stellung remis, wenn er sich zuerst darum kümmert, per 49.Tf1 oder 49.Tf2 den Vormarsch des schwarzen Freibauern zu stören. Zugleich muss sein König in Reichweite des eigenen Freibauern bleiben, um dessen Vormarsch zu unterstützen. Für Großmeister eine lösbare Aufgabe, sollte man meinen. An jedem anderen Tag würde Narciso Dublan die Partie wahrscheinlich zum Remis führen.

Am 20. August 2018 zog er 49.h6??, ließ den gegnerischen Bauern laufen und verlor seinen eigenen aus den Augen. Nach 49…a2 50.Tf1 Tc6 51.Th1 Txh6 war der weiße Freibauer weg, der schwarze lief durch – und danach lief auch Nisipeanu durch zum Turniersieg, begünstigt durch eigenes gutes Spiel und durch den glücklichen Umstand, dass zumindest ein weiterer Gegner einen schlechten Tag erwischt hatte (siehe weiter unten). Am Schluss endete dann noch die Stichkampf-Blitzschach-Lotterie zu Nisipeanus Gunsten.

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Andreas Heimann (Foto: Grenke Chess Open)

Neben Nisipeanu spielte auch Großmeister Andreas Heimann ein exzellentes Turnier. Beide waren bis zur letzten Runde ganz vorne zu finden, aber für ein ordentliches (Nisipeanu) bzw. moderates (Heimann) Preisgeld würden beide noch einen vollen Punkt brauchen. Doch ausgerechnet am Finaltag – so ein Pech! – bescherte ihnen die Auslosung die schwarzen Steine, und mit denen gewinnt es sich bekanntlich nicht so leicht.

Am Brett von Andreas Heimann passierte dann dieses:

Escalante Ramirez, Brian Sebastian (2.438) – Heimann, Andreas (2.590)
Barcelona, 26. August, Caro-Kann (Zweispringer-Variante)

1. e4 c6 2. Nf3 d5 3. Nc3 Nf6

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Löst speziell auf der GM-Ebene mehr und mehr 3…Lg4 als Hauptzug gegen das Zweispringersystem ab.

4. e5 Ne4 5. Ne2 Qb6 6. d4

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Schwarz ist so glücklich, auf e4 einen Springer einpflanzen zu können, dass er dafür auf die Entwicklung des Lc8 verzichtet. Speziell nach 6…Lg4? 7.Sfg1 hätte Schwarz schon erhebliche Probleme.

6. …e6

Weiß hat dem Se4 alle potenziellen Rückzugsfelder genommen. Nun muss er den Eindringling einer verschärften Befragung unterziehen.

7. Nfg1

Droht Figurengewinn.

(7. Ng3 Alternativ kann Weiß argumentieren, dass ein Tausch auf g3 eher ihn begünstigt. 7…c5 8. Bd3 Nxg3 9. hxg3 cxd4 ist das kritische Abspiel.)

7… f6 8. f3 Ng5

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9. h4?

Schwächt sich und treibt zugleich den Sg5 von seiner exponierten Durchgangsstation auf ein besseres, zentraleres Feld. Nicht gut.

(9. exf6 gxf6 10. f4 wäre die kritische, originelle Stellung, die wir unlängst intensiv betrachtet haben. Gleichwohl bleibt die Frage offen, ob an dieser Stelle 10…Sf7 oder 10…Se4 besser ist.)

9… Nf7 10. f4 c5 11. c3 Nc6 12. Nf3 Be7 13. g4 cxd4 14. cxd4 fxe5 15. dxe5

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Weiß hat Raumvorteil, ist aber am Königsflügel meilenweit von einem Angriff oder Durchbruch entfernt, während seine Lebensader g1-a7 sperrangelweit offen steht.

Raumvorteil ist nur dann ein Vorteil, wenn die Seite mit Raum nicht überdehnt, so dass keine Gefahr besteht, Opfer eines Konters zu werden. Auch das haben wir neulich anhand der Werke der Herren Gelfand und Flores Rios beleuchtet und in Anlehnung an eine andere Sportart das Schachkonzept “Außenstürmer abtauschen” eingeführt. Klar, dass sich dieses Rezept, Kontern beim Schach vorzubeugen, noch nicht bis Katalonien oder gar Peru herumgesprochen hat. Señor Escalante Ramirez wandelt bereits am Abgrund.

15…O-O

16. Qd3?

(16. Qb3 muss Weiß ziehen, um die Außenstürmer Damen abzutauschen und seine überdehnte Ruine womöglich noch zu stabilisieren.)

16… Bd7

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17. a3

(17. Be3 Qxb2 18. Rb1 hatte Weiß wahrscheinlich geplant, aber das führt zu einem schnellen Ende: 18…Ncxe5! 19. fxe5 Nxe5 20. Nxe5 Bb4+ und aus.)

17… Be8

Will das kommende Springeropfer auf e5 mit …Lg6 kombinieren.

(17… Bc5 -+ ist direkter und kräftiger. Mit Macht drohen nun die thematischen Opfer auf e5 nebst Öffnung der f-Linie und Exekution des weißen Monarchen. Einen Läufer auf g6 braucht Schwarz dafür nicht, der kann ja auch über b5 eingreifen (wie in der Partie), eine Folge des weißen Fehlers 16.Dd3. Schachfreund Computer hält die schwarze Stellung schon für locker gewonnen.)

18. h5

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Glaubt dem Schwarzen, dass …Lg6 die Hauptdrohung war.

18… Rc8

Turm auf die offene Linie, schon klar. Nur ist die c-Linie nicht, wo die Musik spielt. An dieser Stelle könnten der Betrachter und seine Engine befürchten, dass Schwarz beginnt zu driften.

(18…Bc5 ist einmal mehr direkter und kräftiger.)

19. Rh2?!

(19. Be3 ist noch eine letzte Chance, in der Partie zu bleiben. 19…Qxb2 20. Rb1 Qxa3 21. Qxa3 Bxa3 22. Rxb7 macht aus Sicht des Weißen natürlich keinen großen Spaß, aber wenigstens lebt er noch. Weiß hat jetzt ein wenig Gegenspiel und im kommenden Endspiel sogar den besseren König, während Schwarz sich erst einmal darum kümmern muss, seine verstreuten Leichtfiguren harmonisch hinzustellen.)

19… Bc5

Na, also. Gleich schlägt es auf e5 ein, und dagegen gibt es keine Verteidigung.

20. b3

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Käme Weiß zu Lb2, er könnte weiter davon träumen, die Partie zu retten.

20… Ncxe5!

Rumms!

21. fxe5 Bb5 22. Qd1

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22… Nxe5!

Und gleich noch einmal!

23. Nxe5 Bf2+ 24. Rxf2 Qxf2+ 25. Kd2 Bxe2 26. Qxe2 Qd4+ 27. Nd3

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Bevor Schwarz sich auf a1 bedient, geht er Bauernsammeln.

27… Qc3+ 28. Kd1 Qxb3+ 29. Ke1 Qc3+ 30. Kd1 Qxa1 31. Qxe6+ Kh8

Materiell geht es sogar noch für Weiß, aber mit einem auf offenen Linien im Zentrum unter Feuer stehenden König lässt es sich nicht überleben.

32. Be2 Rfe8 33. Qxd5 Qb1 34. Qf3 Qb3+

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Der Lc1 fällt, und Weiß gab auf.

0-1

Der junge peruanische IM Escalante Ramirez ist gewiss ein exzellenter Schachspieler, der reihenweise exzellent vorgetragene Partien spielt. Aber an diesem Tag eben nicht. Stattdessen verhalf er seinem Gegner zu einem glänzenden Sieg, und so gelang Andreas Heimann (nach dem Open in Dresden unlängst) ein weiteres starkes Turnier: 7,5 aus 10.

Ähnliches passierte am Brett von Liviu Dieter Nisipeanu, der nicht viel tun musste, um mit Schwarz schnell überlegen zu stehen, und dann sicher den vollen Punkt einfuhr:

Sochacki, Christophe (2.455) – Nisipeanu, Liviu Dieter (2.657)
Barcelona, 26. August 2018, Königsindischer Angriff

1. Nf3 d5 2. b3 Bf5 3. Bb2 e6 4. g3 h6 5. Bg2 Nf6 6. O-O Be7 7. d3 O-O 8. Nbd2 Bh7

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Weiß hat sich so flexibel hingestellt, er kann sich nun auf vielerlei Weise aufbauen. Am gebräuchlichsten an dieser Stelle ist 9.c4 im Sinne von Richard Reti. Aber Weiß kann auch e4 anstreben und eher im Geiste des Königsindischen Angriffs spielen. Oder er spielt 9.Se5, gefolgt von f4. Oder er macht erst einmal gar nichts: 9.e3, 10.De2 und gucken, was so passiert.

9. e4

Dieses jedenfalls kann er direkt ziehen und muss es nicht per 9.De1 oder 9.Te1 vorbereiten: 9…dxe4 10.Se5 (oder 10.Se1), und danach kann Weiß auf e4 zurückschlagen.

9… a5

Thematisch.

10. e5 Nfd7

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Aber der Weiße sollte nun seinen d3-Bauern tunlichst ebendort belassen, damit der Lh7 neutralisiert bleibt.

11. d4?!

“Unforced error”, würden sie beim Tennis sagen. Jetzt ist es schon angenehm für Schwarz.

11… Na6

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Immerhin arbeitet für den Weißen noch der Faktor, dass die schwarzen Springer kaum ins Zentrum wirken. Darum könnte der nachhaltigste Plan sein, nun sofort (oder nach a3 und Tc1) per c2-c4 selbst Spiel am Damenflügel zu suchen, bevor der Schwarze per …c7-c5 die weiße Konstruktion unter Druck setzt.

12. Ne1 c5 13. c3

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So jedenfalls bekommt Schwarz sofort Ziele, gegen die er spielen kann, während Weiß unzureichend koordiniert herumsteht.

13… a4 14. f4 cxd4 15. cxd4 a3 16. Bc1 Nb4 17. Rf2 Qb6 18. Nb1

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Die gleichermaßen überdehnte wie unterentwickelte weiße Stellung ist sturmreif.

18… Nd3! 19. Nxd3 Qxd4 20. Bxa3 Bc5!

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Viel stärker, als sich auf a3 oder a1 zu bedienen. Schwarz hält alle Fesselungen aufrecht, ignoriert den hängenden Turm auf a1 und zwingt Weiß ihm zu helfen, den bislang unbeteiligten Sd7 ins Spiel zu integrieren.

21. Bxc5 Nxc5 22. Nb2

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Es ist an der Zeit, Material einzusammeln. Schwarz sieht voraus, dass er im 25. Zug noch einen entscheidenden Pfeil im Köcher haben wird.

22… Qxd1+ 23. Nxd1 Nxb3 24. axb3 Rxa1 25. Nbc3 d4

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Im kommenden Endspiel wird Schwarz dank einer Mehrqualität auf Gewinn stehen.

26. Ra2 Rc1 27. Nb5 Rxd1+ 28. Kf2 d3 29. Bxb7 Rb1 30. Nd4 Rd8 31. Ke3 g5 32. Bf3 Rf1 33. Bg2 Re1+ 34. Kd2 Rg1 35. Ke3 Rc8 36. Bc6 Rc1 37. Ra6 Rd8 38. Ra8 Rxa8 39. Bxa8 Re1+ 40. Kd2 Ra1 41. Bf3 gxf4 42. gxf4 Ra2+ 43. Kc3 Rxh2 44. b4 d2 45. b5 

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Sollte der weiße b-Bauer doch noch gefährlich werden?

45… Be4!

Nein. Stattdessen wird der schwarze d-Bauer das Rennen machen.

46. Bd1 Rh3+ 

Weiß gab auf.

0-1

Und so entpuppte es sich als Glück, in der letzten Runde gegen diese Gegner mit den schwarzen Steinen spielen zu müssen. Nisipeanu (8 aus 10) hat jetzt nach mageren Monaten und seinem desaströsen Auftritt bei den Dortmunder Schachtagen zwei starke Open in Folge gespielt und dürfte Selbstvertrauen getankt haben für die Schacholympiade, bei der er am Spitzenbrett der deutschen Mannschaft manchen Brocken wird aus dem Weg räumen müssen.

Neben diesen beiden feierte die deutsche Delegation weitere Erfolge, und in zwei Fällen hing das ebenfalls mit vollen Punkten in der letzten Runde zusammen:

FM Thomas Höfelsauer, FM Hans Möhn und Timo Küppers kamen mit einer IM-Norm im Gepäck aus Barcelona zurück. Herzlichen Glückwunsch!

Unter den GM-Norm-Jägern lag vor allem IM Maximilian Neef lange aussichtsreich im Rennen, aber ihm gelang der notwendige Sieg in der letzten Runde nicht. Schade. Nächstes Mal läuft’s bestimmt glücklicher 😉

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[…] Das Sants-Open in Barcelona ist fraglos ein großartiges Turnier, allein schon, weil es in Barcelona stattfindet, eine Stadt, die auch ohne Schach-Begleitprogramm eine Reise wert ist. Aus deutscher Sicht war das Turnier von besonderem Interesse, weil so viele Deutsche teilgenommen haben und am Ende sogar ein Mitglied der Delegation aus Alemania gewann. […]

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[…] zu lassen, abhanden gekommen ist. Aber Nisipeanu hat zuletzt zwei starke Open gespielt, so dass ein schachlicher Aufwind die deutsche Nummer eins nach Batumi […]

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[…] In der achten Runde am Dienstag treffen die Männer von Bundestrainer Dorian Rogozenco auf Spanien, eine ähnlich ausgeglichene und im Durchschnitt nominell sogar einen Hauch schwächere Mannschaft, Nummer 24 der Setzliste. Angesichts all der Kracher aus der Tabellennachbarschaft, die die Deutschen noch hätten ziehen können, ist das ein angenehmes Los, aber alles andere als ein Selbstläufer. Vielleicht hemmt die Spanier und beflügelt die Deutschen die Erinnerung, dass mit Liviu Dieter Nisipeanu unlängst in Barcelona ein Schachmeister aus Alemania eines der größten Open in Europa vor der versammelten spanischen Elite gewonnen hat. […]