Kapitän Gustafsson

Sonst hätte ich es nicht gemacht.“ Jan Gustafsson glaubt, dass die deutsche Nationalmannschaft bei der Schacholympiade 2022 vorne mitspielen kann. Der Hamburger Großmeister will seinen Teil dazu beitragen. Am gestrigen Mittwoch verkündete der Deutsche Schachbund, dass der ehemalige Nationalspieler die Mannschaft als Kapitän und Coach anführen wird.

Seine erste Entscheidung hat Käpt’n Gustafsson schon getroffen, eine einfache: Dmitrij Kollars wird als fünfter Spieler neben den vier via Elo nominierten Keymer, Blübaum, Svane und Nisipeanu mit nach Chennai fahren. Jede andere Entscheidung wäre kaum zu rechtfertigen gewesen. Kollars befindet sich seit geraumer Zeit im Aufwind, die Nominierung per Elo hat er um drei Punkte verpasst, und er ist Teil der Generation, die in der kommenden Dekade eine der hoffnungsvollsten deutschen Nationalmannschaften seit langem bilden wird.

Die Spieler für die Nationalmannschaft stehen fest. Die Brettreihenfolge muss Kapitän Jan Gustafsson noch festlegen. Im Video: ein Blick auf die Leistungsentwicklung der fünf Nationalspieler (und eines Nationalspielerkandidaten, der nicht dabei ist).

Für Gustafsson markiert das Anheuern als Teamchef nach einer Dekade der Trennung die Rückkehr zum organsierten Schach. 2011 bei der Mannschaftseuropameisterschaft war er Teil des Teams, das überraschend den Titel gewann. Zuletzt 2012 in Istanbul war Gustafsson als Spieler Teil der deutschen Delegation bei einer Schacholympiade. Als Nummer fünf der Mannschaft trug er mit 5,5 Punkten aus 7 Partien zum zwölften Platz bei.

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Bis dahin war seine eigene Attitüde zum professionellen Schach wie sein Verhältnis zum Schachbund gespalten. Der „ewige Student“ tat sich schwer damit, sein ungeheures schachliches Potenzial mit der Arbeit zu unterfüttern, die nötig gewesen wäre, um in die erweiterte Weltklasse aufzusteigen. Stattdessen: Poker. Als sich in den frühen 2000ern diese Goldgrube offenbarte, begann Gustafsson sogleich, darin zu schürfen. Erst in den späten 2000ern, als Poker ausgetrocknet war, versuchte es der heute 42-Jährige eine zeitlang ernsthaft als Schachprofi und Unternehmer in eigener Sache.

Auch als solcher kann Gustafsson seinen Schützlingen bei der Schach-Olympiade einiges beibringen: Seine mehr als zehn Jahre alte Website inklusive Blog/Tagebuch und “Jan buchen”-Option ist immer noch ansehnlicher als die Ruinen, die anno 2022 den Nationalspielern Keymer und Kollars als Visitenkarte in eigener Sache dienen sollen. Deren drei Mitspieler Matthias Blübaum, Rasmus Svane und Liviu Dieter Nisipeanu sind für Interessenten, die sie buchen wollen, sogar vollständig unsichtbar.

Eine tragische Figur der Schacholympiade 2022 steht schon fest. Alexander Donchenko (hier beim Grand Swiss in Riga), unlängst noch die deutsche Nummer eins, bei der Europameisterschaft 2021 noch die Nummer zwei des deutschen Teams, hat als Folge eines schachlichen Dürrejahres dutzende Elopunkte eingebüßt. Nun, da abgerechnet und für Olympia nominiert wird, steht er bei 2599. Das reicht bei weitem nicht. | Foto: Anna Shtourman/FIDE

Schachunternehmer Gustafsson stellte damals fest, dass als Nationalspieler bei einem vom Breitensportgedanken geprägten Verband nicht viel zu verdienen ist, schlimmer noch: absurd wenig. 2010 war Gustafsson Teil des Quartetts von Nationalspielern, die vor der Schacholympiade dagegen aufbegehrten, dass diejenigen, die am Brett den bedeutendsten Teil der Arbeit erledigen, zugleich diejenigen sind, die mit einem Taschengeld abgespeist werden.

Arkadij Naiditsch schrieb seinerzeit einen offenen Brief, eine Polemik, die international die Runde machte, die ihm persönlich aber außer einem Rechtsstreit mit dem heutigen DSB-Vizepräsidenten Sport Ralph Alt und einem bis heute anhaltenden Beleidigtsein deutscher Schachfunktionäre nichts einbrachte.

Auch Jan Gustafsson schrieb einen Brief, rhetorisch eher ungelenk, aber in der Absicht deutlich konstruktiver als der seines Großmeisterkollegen: Auf eigene Faust wollte Gustafsson einen Sponsor finden, der der Mannschaft relevantes Coaching und zumindest nennenswerte Spielerhonorare finanziert.

Die Initiativen der einzelnen Spieler versandeten. Deutschland fuhr ohne die Top-GM Naiditsch, Gustafsson, Georg Meier und Daniel Fridman zur Schacholympiade 2010 – und landete unter ferner liefen. Trotzdem, ein Muster: Es muss kräftig krachen und zur Katastrophe kommen, dann bewegt sich was beim Schachbund.

Gustafsson und seine drei Kollegen von damals dürfen für sich in Anspruch nehmen, mit ihrem Aufbegehren 2010 eine Entwicklung ausgelöst zu haben, von der seitdem alle Nationalspieler profitieren. Zwölf Jahre später muss Teamkapitän Gustafsson nicht fürchten, dass ein Topspieler das Mitspielen verweigern könnte. Die Grundlagen dafür hat er seinerzeit selbst gelegt.

Wie viel schachliches Potenzial in Gustafsson steckt, lässt sich anno 2022 an der deutschen Rangliste ablesen. Als alter Sack und Gelegenheitsschächer steht er mit veritablen 2639 Elopunkten auf Rang vier – vor zwei Nationalspielern, die er in Indien als Coach betreuen wird.

Im Gespräch mit DSB-Öffentlichkeitsarbeiter Paul Meyer-Dunker konnte sich Gustafsson den Hinweis nicht verkneifen, er hätte sich ja auch selbst nominieren können. Das stimmt freilich nicht ganz: Obwohl er in der nationalen Rangliste stets weit oben steht, ist Gustafsson ist seit Jahren nicht mehr Teil des DSB-Leistungskaders, aus dem sich die Nationalmannschaften rekrutieren.

Nach der Vertragsunterzeichnung mit DSB-Präsident Ullrich Krause (r.) gab Jan Gustafsson DSB-Mitarbeiter Paul Meyer-Dunker ein Interview.

Das Honorar-Theater 2010 mag der Anfang vom Ende des spielenden Schachprofis Gustafsson gewesen sein, der Anlass, sich anderweitig umzuschauen, auch wenn er in den beiden Folgejahren in die Nationalmannschaft zurückkehrte. 2011 verdiente er sich als Europameister sogar die goldene Ehrennadel des DSB.

Deutschland, Europameister 2011 mit (v.l.) Arkadij Naiditsch, Georg Meier, Daniel Fridman, Jan Gustafsson und Bundestrainer Uwe Bönsch (stehend). Anders als Großmeister Bönsch, der seine Aufgabe seinerzeit als eine administrative interpretierte, will Jan Gustafsson den Spielern schachlich zuarbeiten. | Foto: DSB

Eigentlich ist Jan Gustafsson viel zu vielseitig, um sich als Profi mit Scheuklappen an den Schläfen hinters Schachbrett zu klemmen. Nur war ihm das wahrscheinlich lange nicht klar. Est als er beim Schach zum gefeierten Kommentator aufstieg, dann zum Präsentator und gefragten Gesprächspartner in der Gaming- und Popkultur-Szene, mag ihm aufgegangen sein, welche anderen Talente in ihm schlummern .

Im Gespräch mit dem Spiegel vor zwölf Jahren sagte er noch, es sei schade, dass er nie etwas anderes so gut können wird wie Schach. Aber seitdem ihm aus seiner Idee, Schachvideos zu produzieren, vor acht Jahren das Standbein chess24 erwachsen ist, hat sich Gustafsson als entertainender Schachtausendsassa mit Weltmeister-Gütesiegel neu erfunden. Jetzt wirkt es auf Beobachter, als sei der ziellos suchende Langzeitstudent von einst angekommen. Auch als Vater einer Familie.

Ein bisschen Turnierschach spielt er ja noch: einmal im Jahr das Thailand Open, außerdem in der Bundesliga für die OSG Baden-Baden (die daraus, eine unrühmliche Konstante des Grenke-Schachs, genauso wenig macht wie die SF Deizisau aus Vincent Keymer).

Sein Faible für Eröffnungsgefrickel verwirklicht Gustafsson auf allerhöchstem Level als Zuarbeiter von Magnus Carlsen und sein Faible für Popkultur sowie sein humoristisches Talent auf diversen Bewegtbildkanälen, sei es bei chess24, bei den Rocket Beans und deren Ablegern oder auf seinem eigenen Sender Janistan TV. Das neueste Projekt: der „Chicken Chess Club“, ein Podcast mit seinen Carlsen-Teamkollegen Laurent Fressinet und Peter Heine Nielsen. Jan Gustafsson ist der sichtbarste deutsche Schachspieler, der wirksamste Botschafter des Schachs, der an den Rändern der Schachblase und außerhalb davon dem Spiel ein verschmitztes Gesicht gibt.

Warum der Chicken Chess Club in Deutschland so oft gehört wird? Die Antwort heißt “Gustafsson”.

Ja, hat er denn angesichts all seiner Engagements überhaupt Zeit, die deutsche Nationalmannschaft durch ihr wichtigstes Turnier seit 2018 zu coachen?

Dass Gustafsson diese Zeit hat, hängt auch mit einer Zäsur bei chess24 zusammen. Darüber wird an dieser Stelle noch zu berichten sein, vorab so viel: chess24 hat Ende März den deutschsprachigen Betrieb auf Website, YouTube, Twitch, Facebook, Instagram eingestellt, und der einst für deutschsprachige Inhalte verantwortliche Florian Kugler ist nicht mehr Teil des chess24-Teams. Zur Schacholympiade 2022 wird es bei chess24 wahrscheinlich keinen deutschsprachigen Stream geben, und wenn doch, dann sicher nicht mit Gustafsson.

Der bringt nun in Chennai seine Sichtbarkeit fürs deutsche Schach ein. Mit Gustafsson als Coach wird der Auftritt der deutschen Mannschaft international und national der meistverfolgte jemals sein, ein Grund, warum Gustafssons Verpflichtung ein Coup ist.

Langweilig: Als Coach der niederländischen Mannschaft war Gustafsson 2018 gezwungen, während der Runden untätig im Spielsaal herumzusitzen. Lieber hätte er geschlafen, um nachts fit zu sein für die Eröffnungsarbeit, die am nächsten Tag seinen Jungs am Brett helfen könnte. Gustafsson fürchtet, dass auch 2022 eine Anwesenheitspflicht für die Kapitäne während der Matches gilt, eine Regel, die der Trainertätigkeit zuwiderläuft. | Foto: FIDE

Nachdem der Schachbund 2018 aus dem sensationellen Lauf der Nationalmannschaft bei der Schacholympiade so gut wie gar nichts gemacht hat (ein Grund, warum diese Seite entstand), ist er kurz vor seinem 150-jährigen Bestehen erstmals zu der Einsicht gelangt, dass es Sinn ergibt, die Spitzensportler als Aushängeschilder des Sports zu nutzen. Ihnen den bekanntesten deutschen Schachspieler als Coach zur Seite zu stellen, wird den Werbeeffekt fürs Schach noch steigern.

Wenn der für diesen Werbeffekt zuständige Mitarbeiter nicht vorher seinen Job verliert, wird die Schacholympiade 2022 nach dem Testlauf Europameisterschaft ein Reichweiten- und Interaktionsfeuerwerk fürs deutsche Schach. In welchem Maße der Coach allein durch seine Bekanntheit dazu beitragen wird, ließ sich schon am Tag von Gustafssons Engagement erahnen. Die dazugehörigen Posts und Tweets des DSB in den Sozialen Medien wurden zigfach kommentiert und geteilt, sie sind wahrscheinlich die meistgesehenen in der Geschichte des Schachbunds.

Der andere Grund, warum Gustafssons Verpflichtung ein Coup ist, ist schachtheoretischer Natur. Er habe ja „diese Dateien“, deutete er im DSB-Interview an. Gemeint sind Eröffnungsdateien, basierend auf seiner Forschungsarbeit für Magnus Carlsen und für seine eigenen eöffnungstheoretischen Werke, die bei Chessable und chess24 erschienen sind. Zugang zu diesen Dateien könnte der deutschen Mannschaft im Konzert der Schachnationen einen wertvollen Erkenntnisvorsprung verschaffen.

https://youtu.be/cHp4m0a21CY
Ullrich Krause und Jan Gustafsson sprachen von der “jungen” Nationalmannschaft. Das stimmt nur zu vier Fünfteln. Der Rumäne Liviu Dieter Nisipeanu, der während der Schacholympiade 46. Geburtstag feiern wird, stieß 2014 dazu, nachdem dem Schachbund Arkadij Naiditsch abhanden gekommen war. Seitdem obliegt es “Beton-Dieter” Nisipeanu, am ersten Brett den Laden dicht zu halten, eine Aufgabe, der er 2021 bei der Europameisterschaft erstmals nicht gewachsen war. 2022 wird aller Voraussicht nach Vincent Keymer den Job am Spitzenbrett übernehmen.
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Schachus
Schachus
1 Jahr zuvor

wann kommt denn nun der Bericht über die Zäsur bei c24?

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[…] Seitenschach (@Seitenschach) May 5, 2022 Im Mai anlässlich der Präsentation von Jan Gustafsson als Kapitän der Herren bestand die offensichtliche Gelegenheit zu erklären, warum der Russe Yuri […]

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Andreas Lange
1 Jahr zuvor

… “Bewegtbildkanäle” …
Das ist schon Lyrik! Danke!

Last edited 1 Jahr zuvor by Andreas Lange
Walter Rädler
Walter Rädler
1 Jahr zuvor

Tolle Mannschaft und guter Trainer, denen ich natürlich ganz feste die Daumen drücke. Perspektivisch schaut es für deutsche Verhältnisse ganz gut aus, da die Mannschaft noch extrem jung ist.
Übertriebene Hoffnungen habe ich ehrlich gesagt nicht, freue mich aber um so mehr, wenn sie was reißen! Ein Reichweiten- und Interaktionsfeuerwerk fürs deutsche Schach wäre eine feine Sache, bislang überzeugt es mich leider nicht so sehr. HIerzu würden mich Meinungen interessieren.