Nach Schacholympiade und Schachgipfel im August/September folgten einige ruhige Wochen. Für Schachprofis eine Gelegenheit durchzuatmen und Kraft zu tanken. Die deutschen Kaderspieler und -spielerinnen stehen jetzt vor einem strammen Programm, das sich bis in den Frühling 2023 ziehen wird. Speziell auf Vincent Keymer warten Bewährungsproben auf allerhöchstem Level.
Ein Teil des deutschen Kaders ist in der vergangenen Woche beim stark besetzten El-Llobregat-Open schon in den Turnierbetrieb eingestiegen. Allerdings stand das Turnier im Zeichen zweier asiatischer Newcomer. Die Großmeister Jingyao Tin (Singapur) und Aditya Mittal (Indien) sowie der Iraner Amin Tabatabaei gewannen mit 7 Punkten aus 9 Partien. Einen halben Punkt dahinter: Rasmus Svane. Noch einen halben Punkt dahinter: Matthias Blübaum und Frederik Svane.
Rasmus Svane remisierte von Beginn an jede Schwarzpartie und gewann jede mit den weißen Steinen. Auf diese Weise erzielte er mit einem Sieg in der letzten Runde des Turniers seine beste Platzierung im Turnierverlauf, eine Art Schweizer Gambit mit einer starken Platzierung, aber auch einer für Svane-Verhältnisse durchwachsenen 2583-Performance.
Eigentlich spielte Matthias Blübaum das bessere Turnier. Mit 4,5/5 gestartet, stets ganz oben dabei, Performance 2679. Aber nach einer Niederlage in der Schlussrunde gegen Tabatabei fiel Blübaum ins Feld zurück. Außerdem dabei: Alexander Donchenko (5,5/9), Nikolas Lubbe (5), Bennet Hagner (5), Josefine Heinemann (4,5), Hanna Marie Klek (4), Melanie Lubbe (4). Josefine “Chancentod” Heinemann lässt in ihrem Blog das Turnier Revue passieren.
Jetzt geht es Schlag auf Schlag weiter: Zum Jahresausklang 2022 das Schachfestival in Sitges, die Europameisterschaft im Schnell- und Blitzschach in Polen, dann die Weltmeisterschaft im Schnell- und Blitzschach in Kasachstan. Nach Silvester beginnt das neue Jahr traditionell mit dem Tata Steel Chess in Wijk an Zee. Direkt danach der Frauen-Grand-Prix in München, gefolgt vom Weltklasseturnier „WR Chess Masters“ in Düsseldorf. Unmittelbar danach geht es in Serbien weiter: Anfang März steht die Europameisterschaft 2023 an. All diese Veranstaltungen werden mit deutschen Kaderspielern und -spielerinnen gespickt sein.
In Sitges beim „Chessable Sunway Sitges International Chess Festival“ vom 11. bis 22. Dezember werden Dmitrij Kollars und Frederik Svane mit von der Partie sein, außerdem ein Großteil des Frauenkaders: Josefine Heinemann, Jana Schneider, Lara Schulze und Studentinnenweltmeisterin Fiona Sieber.
Kollars hat im superstark besetzten Feld (Yu, van Foreest, Korobov, Iwantschuk) die Gelegenheit, dort anzuknüpfen, wo er vor einem Jahr aufgehört hat. In Sitges 2021 war Kollars erst im finalen Stechen zu stoppen gewesen. Es bedurfte des angehenden Schnellschachweltmeisters Nodirbek Abdusattorov, um diese Aufgabe zu vollbringen. Wenige Tage später gewann Abdusattorov ein weiteres Stechen: das um den Schnellschach-WM-Titel gegen Ian Nepomniachtchi.
Ein Teil derjenigen, die nicht in Sitges spielen, wärmt sich stattdessen in Katowice auf. Unter anderem Rasmus Svane, Alexander Donchenko, Daniel Fridman, Elisabeth Pähtz werden an der Europameisterschaft im Rapid und Blitz teilnehmen, eine Mammutveranstaltung. Allein beim Schnellschachturnier werden im Stadion von Katowice mehr als 1000 Spielerinnen und Spieler erwartet.
Von Sitges bzw. Katowice aus begibt sich der Schachtross weiter nach Kasachstan, wo zwei Weltmeistertitel zu vergeben sind. Aus Deutschland im Feld: Vincent Keymer, Matthias Blübaum, Rasmus Svane, Alexander Donchenko, Frederik Svane, Elisabeth Pähtz, Lara Schulze. Magnus Carlsen, Ian Nepomniachtchi und einige ganze Reihe weiterer Weltklassespieler werden Teil der Wettbewerbe sein, auch Hikaru Nakamura, der seinem Weltmeistertitel im Schach960 einen weiteren im Schnell- oder Blitzschach hinzufügen möchte.
Im internationalen Maßstab hat das Fehlen zweier und die Anwesenheit eines Großmeisters Spekulationen ausgelöst. Nodirbek Abdusattorov spielt nicht mit, er wird seinen Weltmeistertitel im Schnellschach nicht verteidigen. Außerdem fehlt der in den schnellen Disziplinen begnadete Alireza Firouzja. Die Nummer eins der Blitz-Weltrangliste wird 2022 nur drei klassische Turniere und ein Schnell- und Blitzschach-Event gespielt haben. Auch online ward er im ablaufenden Jahr kaum gesehen.
Am Start ist derweil Hans Niemann, was in norwegischen Medien sogleich Spekulationen ausgelöst hat. Der scheidende Weltmeister aller Klassen Magnus Carlsen wird in Kasachstan versuchen, zumindest einen der drei “kleinen” Weltmeistertitel zu holen. Aber sollten Niemann und Carlsen im Lauf der Wettbewerbe aufeinandertreffen, könnte das den Norweger den Titel kosten. Er würde wahrscheinlich die Partie verweigern und eine kampflose Null kassieren.
Für Vincent Keymer markiert die Rapid- und Blitz-WM den Auftakt von acht Wochen der Wahrheit, in denen er durchgehend Gegner von internationaler und Weltklasse vorgesetzt bekommt. Die beiden Weltmeisterschaften versteht der 18-Jährige eher als Trainings- und Übungsturnier, um Wettkampfpraxis in den schnellen Disziplinen zu sammeln. Danach wird es ernst, und es kommt knüppeldick.
Tata Steel Chess! Beim „Wimbledon des Schachs” in Wijk an Zee, ein 13-rundiger Marathon vom 13. bis 29. Januar, darf die deutsche Nummer eins anno 2023 erstmals im Meisterturnier mitspielen. Ihn erwarten 13 Widersacher, von denen jeder mindestens auf Augenhöhe sein wird, einige darüber. Abgesehen vom Grenke Classic 2019, wird Wijk an Zee 2023 Keymers erstes Superturnier sein.
Traditionell heben sich die Veranstalter von anderen ab ab, indem sie im holländischen Küstenort nicht nur die üblichen Verdächtigen aus den Top 10 der Weltrangliste versammeln, sondern stets einer Reihe von Talenten die Gelegenheit geben, sich mit der Elite zu messen. Und so repräsentiert Keymer einen von einer Handvoll von Teenagern, die es mit Magnus Carlsen, Ding Liren, Fabiano Caruana und anderen Großmeistern des Elitekalibers zu tun bekommen.
Nicht nur die Stärke des Felds zeichnet Wijk an Zee traditionell aus, auch die Dauer des Turniers. Fast drei Wochen in einem windigen, kalten Örtchen abgeschottet zu sein, ist eine weitere Herausforderung für die Teilnehmer. Keymer kann sich bei Alexander Donchenko erkundigen, wie damit am besten umzugehen ist. Donchenko, der 2021 ins Meisterturnier gerutscht war, hat hinterher bereut, ohne Begleitung angereist zu sein. 2023 ist Donchenko wieder dabei: als Teil des stark besetzten B-Turniers, dessen Sieger 2024 in der A-Gruppe spielen darf. Top-Favorit auf den Sieg ist Donchenko nicht. Mit 2636 Elo belegt er den vierten Platz der Setzliste.
In den ersten beiden Februarwochen wird der Fokus deutscher Beobachter auf dem Grand Prix der Frauen in München liegen. Elisabeth Pähtz wird dort ihr erstes Rundenturnier als GM spielen, und Kronprinzessin Dinara Wagner steht vor der Herausforderung, ihre couragierte Leistung beim ersten von vier Grand-Prix-Turnieren im September 2022 in Astana zu bestätigen oder noch zu übertrumpfen.
Als nominell krasse Außenseiterin war Wagner in ihr erstes Weltklasseturnier überhaupt gegangen, hatte zum Auftakt zwei Niederlagen kassiert – und drehte dann auf. In der letzten Runde gelang ihr gar ein Sieg auf Bestellung gegen Polina Shuvalova (Elo 2510), der ihr die erste IM-Norm, ein Eloplus von mehr als 30 Punkten und den geteilten sechsten Platz unter zwölf Elitespielerinnen bescherte. Theoretisch ist für Wagner sogar noch das Kandidatenturnier in Reichweite, und praktisch sitzt sie in der deutschen Rangliste jetzt Elisabeth Pähtz im Nacken.
Mitte Februar darf Vincent Keymer wieder ran, und die Aufgabe wird ähnlich schwierig sein wie zuvor in den Niederlanden. Eine ganze Reihe der Wijk-Teilnehmer sieht sich in Düsseldorf wieder. „WR Chess Masters“ heißt das vom Düsseldorfer Unternehmer Wadim Rosenstein erdachte Superturnier, das erste auf deutschem Boden nach fast vier Jahren, und eine weitere Chance für Keymer, sich mit den Allerbesten und den allerbesten Supertalenten des Schachs zu messen. Der Wettbewerb vom 15. bis 26. Februar soll unter anderem Rosenstein-Schützling Ian Nepomniachtchi als Vorbereitung auf sein WM-Match gegen Ding Liren dienen.
Ob Keymer sich wenige Tage danach direkt nach Serbien begibt? Fraglich. Aber Europameister Matthias Blübaum wird die Reise nach Vrnjacka Banja höchstwahrscheinlich antreten, er hat ja einen Titel zu verteidigen. Will er sich auch nach dem 14. März 2023 noch „amtierender Europameister“ nennen, muss Blübaum das Turnier als erster Spieler der Geschichte zum zweiten Mal in Folge gewinnen.
Wohin der Schachzirkus vor Anbruch des Frühsommers dann weiterzieht, ist noch ungewiss. Vielleicht nehmen sich alle anderen eine Auszeit, während vom 7. bis 30. April Ding und Nepo in Mexiko City um den WM-Titel spielen? Oder, wer weiß, vielleicht erlebt währenddessen das Grenke-Open zu Ostern eine Wiederauferstehung. Die Entscheidung über dieses potenzielle Ostergeschenk fürs Schach solle im Dezember fallen, heißt es.
Gerade ist er Vize Weltmeister geworden… das fängt doch schon mal gut an 😉
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