Gut ein Jahr ist es her, da drohte der von einer sportlichen und persönlichen Krise geplagte Arkadij Naiditsch sogar unter die 2600-Elo-Marke abzurutschen. Seitdem geht es in die andere Richtung. Jetzt ist Naiditsch nach einer starken Vorstellung in der französischen Liga schon wieder der höchstplatzierte Deutsche in der Weltrangliste. Während Alexander Donchenko und Matthias Blübaum aus den Live-Top-100 gefallen sind, bewegt sich Naiditsch zurück in Richtung 2700 Elo.
Allerdings wird der beste deutsche Schachspieler seit Robert Hübner nicht wieder unter deutscher Flagge spielen, zumindest nicht so bald. „Der deutsche Verband will mich nicht, damit habe ich mich jetzt abgefunden“, sagte Naiditsch auf Anfrage dieser Seite. Seit Monaten gebe es keinen Kontakt. Von seiner ursprünglichen Absicht, sich sein schachliches Deutschsein auf dem Rechtsweg zu erkämpfen, hat Naiditsch Abstand genommen.
Die Kuriosität eines deutschen Staatsbürgers, der nicht unter deutscher Flagge spielen darf, lässt sich seitens der deutschen Verbandsführung vergleichsweise leicht aussitzen. Von all den Kuriositäten der jüngeren Vergangenheit wird diese intern am wenigsten hinterfragt. Die Funktionäre, egal wo sie sonst stehen, sind viel zu sehr vereint in ihrer Furcht vor dem Unruhestifter, als dass sie sich auf den besten Spieler einlassen würden, den das deutsche Schach seit Jahrzehnten hervorgebracht hat.
Angesehener, weil pflegeleichter, ist der im deutschen Schach verbreitete Prototyp der stillen Zugmaschine, die für ihre Interessen idealerweise überhaupt nicht eintritt. Der aller Voraussicht nach bald nach Uruguay wechselnde Georg Meier kann ausführlich berichten, wie mit Schachmeistern verfahren wird, die diesem Prototyp nicht entsprechen.
Auch Arkadij Naiditsch (kolportierte Selbsteinschätzung: „Dortmunder Straßenjunge“) repräsentiert das Gegenteil. Der 35-Jährige sagt, was er sieht, fordert, was er will – und erliegt gelegentlich seiner Neigung, übers Ziel hinauszuschießen. Als er und die anderen Nationalspieler vor gut zehn Jahren nicht länger für ein Butterbrot spielen wollten, war Naiditsch derjenige, der mit einem international beachteten offenen Brief kundtat, was er beim deutschen Verband erlebt.
Unbeteiligte mögen Naiditschs Schreiben als gelungene Polemik amüsiert zur Kenntnis nehmen – und registrieren, dass Naiditschs Aufbegehren zu verbesserten Bedingungen führte, unter denen die Nationalmannschaft 2011 Europameister wurde. Funktionärsseitig gilt der bald nach dem Titelgewinn beschlossene Ausschluss Naiditschs weiter, das Beleidigtsein hält bis heute an. Einer der im Schreiben Verspotteten ließ damals sogar gerichtlich feststellen (und Naiditsch dafür bezahlen), dass seine tatsächlichen Urlaubsgewohnheiten sich von denen unterscheiden, die Naiditsch suggeriert.
Misstrauische Abwehrhaltung
Was sich Naiditsch am 13. Februar 2021 auf Twitch leistete, geht über eine Polemik hinaus. Seine spontane Sondersendung „Ich gegen den DSB“ war gespickt mit persönlichen Attacken und, anders als das Schreiben von einst, frei von komischen Zwischentönen. Angefeuert vom Chat, redete sich Naiditsch in Rage.
Die verbreitete Sichtweise, dass Naiditsch sich mit dieser 80-minütigen Tirade den Weg zurück zum deutschen Verband endgültig selbst verbaut hat, ist gleichwohl falsch. Diese Tür war stets geschlossen, die Bereitschaft, dem bösen Briefschreiber von einst zehn Jahre später einen Neuanfang zuzugestehen, nie vorhanden.
Vielleicht hätte diese Bereitschaft behutsam erzeugt, ein Wechsel vorsichtig-diplomatisch angebahnt werden können. Stattdessen fiel Team Naiditsch mit der Tür ins Haus, und das erzeugte in erster Linie eine Abwehrreaktion..
Als am 7. Dezember 2020 Naiditschs Baden-Badener Mannschaftsführer Sven Noppes per E-Mail an den DSB den Wechsel einzutüten versuchte, assistierte sogleich der beim DSB längst in Ungnade gefallene, aber noch im Amt und daher in Noppes‘ E-Mail-Verteiler befindliche Leistungssportreferent Andreas Jagodzinsky („…wäre eine enorme Verstärkung…“). Trotz dieser beiden Vorlagen bedurfte es zweimaliger Nachfrage Naiditschs bei Ullrich Krause, bis dieser sich überhaupt zurückmeldete – um die Sache zu verschieben: Er müsse jetzt den Hauptausschuss vorbereiten, danach könne man reden. Der DSB-Präsident hatte zu diesem Zeitpunkt schon die misstrauische Abwehrhaltung eingenommen, die er bis zum Ende des Vorgangs acht Wochen später beibehalten sollte.
Zumindest eine Teilschuld daran, dass nie offen und konstruktiv geredet wurde, tragen Naiditsch, Noppes und Jagodzinsky selbst. Wie diese drei in Kenntnis ihres Verhandlungspartners die Sache angefasst haben, war alles andere als ein diplomatisches Meisterstück. Jagodzinsky wusste längst, dass er im Krause-Fenner-Gut-Böse-Schema auf die Seite der Bösen geraten war, er konnte ahnen, dass seine Fürsprache der Sache eher nicht dient. Naiditsch/Noppes insistierten derweil wiederholt, den Wechsel zurück zum DSB möglichst schnell zu beschließen. Obendrein „drohten“ sie Krause, Naiditsch wolle seinen Wechsel zum deutschen Verband bald öffentlich verkünden – und zwar selbst.
Die Angst unseres Führungsduos vor unkontrollierter Öffentlichkeit, und dann auch noch der aus Funktionärssicht größte Problembär des deutschen Schachs vor der Tür: Natürlich fühlte sich Krause unter Druck gesetzt.
Krause reagierte, wie er nun einmal reagiert, wenn er etwas Kritisches wittert. Der Vorgang wurde in den kleinstmöglichen E-Mail-Verteiler mit nur zwei Beteiligten verlegt, damit ja nichts nach außen dringt. In den folgenden Wochen las Naiditsch in seinem Austausch mit Krause nach eigener Aussage ausschweifende technische Ausführungen, aber nicht ein offenes Wort – inklusive der Absage bar jeder Erklärung:
„Das Präsidium hat nicht zugestimmt. Für Ihre schachliche Karriere viel Erfolg, Grüße, Ullrich Krause“, schrieb der DSB-Präsident dem Europameister und Träger der goldenen DSB-Ehrennadel am 8. Februar 2021. Seitdem: Funkstille.
Allem Anschein nach haben Naiditsch und Noppes tatsächlich geglaubt, ein Verband, der fast ein Jahr braucht, um zu verstehen, dass ein Onlineschachboom Chancen fürs Schach birgt, lasse sich von heute auf morgen zu der Einsicht bewegen, dass auch ein unbequemer 2700-Großmeister eine Chance für das Schach sein kann. Team Naiditsch hat die Blockadehaltung beim Verband selbst ausgelöst, indem es von jetzt auf gleich Nägel mit Köpfen machen wollte, anstatt die Sache behutsam anzubahnen.
In der Folge wurde beim DSB über mögliche Modelle eines Naiditsch-Neuanfangs nicht einmal nachgedacht, die Chance fürs deutsche Schach gar nicht erst gesucht. Abseits der Selbstverständlichkeit, dass ein Deutscher unter deutscher Flagge spielt, hätte der Verband ihm Kaderzugehörigkeit/Nationalmannschaft fürs Erste verweigern und ihm eine Bewährungszeit aufbrummen können. Und in gut vier Jahren wird Naiditsch 40, ab diesem Alter ist Kaderzugehörigkeit ohnehin nicht mehr vorgesehen (zumindest auf dem Papier, die DSB-Kader ignorieren diese Regel Jahr für Jahr).
Naiditschs anfänglicher ratloser Furor ist längst verraucht. Seinen ursprünglichen Plan, sich sein schachliches Deutschsein auf dem Rechtsweg zu erkämpfen, hat er fallengelassen. Seinen Lebensmittelpunkt hat Naiditsch endgültig nach Thessaloniki verlegt, wo er neben seiner Schachfirma auch in Sachen Schulschach tätig ist. Ein ausführliches Naiditsch-Porträt in griechischen Medien legt jetzt die Vermutung nahe, er könnte demnächst unter griechischer Flagge am Brett sitzen.
Naiditsch bestreitet das. Für Griechenland zu spielen, sei keine Option. Er habe aber einige Angebote anderer Föderationen. Wohin die Reise geht, das könne er noch nicht sagen. Sicher sei nur, es werde so bald keine schwarz-rot-goldene Flagge hinter seinem Namen stehen. Nach den Erfahrungen der jüngeren Vergangenheit „hat sich das für mich erledigt“.
Ich kann das den Groll gegenüber Krause (bei diesem Thema) in keiner Weise nachvollziehen. Es ist bekannt, wie sich Naiditsch bei seinem Abschied vom deutschen Schachbund verhalten hat. Wer verbrannte Erde hinterlassen hat, der darf sich nicht wundern, wenn man den verloreren Sohn nicht mit offenen Armen wieder empfängt. Und ob Naiditsch nun ein so großer Gewinn für das deutsche Schach ist, wage ich zu bezweifeln, Naiditsch ist dafür bekannt, stets große Risiken einzugehen, so dass seine ELO auch ebenso großen Schwankungen unterliegt. Das kann auch schnell wieder nach unten gehen.
Aus meiner Sicht hat Krause hier alles richtig gemacht.
Darf ich mal eine ganz andere Frage stellen? Arkadij Naiditsch wechselte 2015 nach Aserbeidschan, weil Schachspieler dort besser unterstützt, besser behandelt und besser bezahlt werden. Diese Motivation kann ich nachvollziehen. Warum – um Himmels Willen? – will er jetzt erneut wechseln – und zwar genau dahin, wo er so schlecht unterstützt, behandelt und bezahlt wird? Und komme mir jetzt bitte keiner mit der Staatsbürgerschaft: Zum einen spielt die im Schach für eine Föderationszugehörigkeit kaum eine Rolle – und “in das Geburtsland zurückwechseln” würde bei Naiditsch Lettland bedeuten. Kann es sein, dass er sich mit dem aserbadschanischem Verband genauso überworfen hat… Weiterlesen »
Schade, dass er von Rechtsmitteln letztlich doch Abstand genommen hat (wenn auch natürlich eine verständliche Entscheidung). Wäre mal interessant gewesen, wie ein Gericht diese ganze Posse bewertet.
Absolut richtige Entscheidung des DSB, sich diesen notorischen Quertreiber nicht wieder ins Boot zu holen. Herr Naiditsch hat seine Unfähigkeit zur Eingliederung in bestehende Strukturen bereits oft genug unter Beweis gestellt, und konstruktive Kommunikation ohne persönliche Angriffe kann er auch nicht. Warum soll sich der DSB einen solchen Klotz ans Bein binden?
Hallo zusammen, ich finde das Verhalten des DSB-Präsidiums nachvollziehbar und korrekt. Für eine nachhaltige Leistungssteigerung des deutschen Spitzenschachs gibt es andere Handlungsfelder und Möglichkeiten (Nutzen des Online-Booms, Einbinden von online in systematisches Training u.a.). Ich wäre sehr interessiert interessiert, welche Initiativen der DSB hier durchführt / plant. Für solche Massnahmen ist generell transparentes Handeln mit einem zeitgemässen Verhaltenskodex notwendig. Wildwest in Kommunikation und Handeln, “Kommunikation unter dem Tisch” und Online-Hasstiraden sind keine Methoden mehr in 2021.
(zumindest auf dem Papier, die DSB-Kader ignorieren diese Regel Jahr für Jahr)
hätte schormann richtig recherchiert, wäre ihm bekannt, dass die regel vor ewigkeiten gekippt wurde
Die Kernfrage für das überleben vom Schachsport ist sicher nicht die Naiditsch Diskussion, sondern welche weitere Schäden richtet die nahende
4. Pandemie welle an . Gibt es Pläne in der Schublade ?
Naiditsch ist ja eher ein Outlaw als ein Teamplayer. Wie wäre es denn, wnn man aus der Not eine Tugend machte und ein Uhrensimultan veranstaltete: Naiditsch an vier Brettern gegen die deutsche Nationalmannschaft, wahlweise die der Männer oder die der Frauen?
Das würde es bestimmt in die grossen Medien schaffen.
Ingo Althöfer
[…] für 50 Euro Bearbeitungsgebühr) zum rumänischen Verband wechseln können, eine Parallele zum Fall Naiditsch, der ebenfalls zum November gratis den Verband wechseln würde, wenn er bis dahin keine […]
[…] unterkühlt und nicht existent, wie sich zuletzt am Scheitern des Baden-Badener Versuchs, Naiditsch zum deutschen Verband zurückzuholen, ablesen […]
[…] Die Flaggen- und Föderationsfrage ist im internationalen wie im deutschen Schach nicht neu. International machte zuletzt Alireza Firouzja mit seinem Wechsel nach Frankreich Schlagzeilen, davor der Armenier Levon Aronian, der nun für die USA spielt. National möchte sich Georg Meier die deutsche Schachverwaltung nicht länger antun, darum spielt er jetzt für Uruguay. Arkadij Naiditsch wiederum hätte gerne wieder für Deutschland gespielt, aber die deutsche Schachverwaltung möchte sich Arkadij Naiditsch nicht antun. […]
Ich hab sein Problem nie verstanden. Es steht ihm doch frei, sich in einem deutschen Schachverein anzumelden, dann ist er Teil des DSB-Spielbetriebs. Er kann die Föderation wechseln, dann steht auch die entsprechende Flagge neben seinem Namen. Hindert ihn jemand daran?
Was halt nicht geht, ist, sich in eine Mannschaft einzuklagen (die man vorher sogar aus eigenen Stücken verlassen hat). Wer in der Nationalmannschaft spielt, entscheidet der zuständige Trainer/ Referent/ Beauftragte. Das dürfte in allen Sportarten so ein.
Damit ist doch eigentlich alles geklärt, oder?