Sreyas und die Flaggenfrage

Die Flaggen- und Föderationsfrage ist im internationalen wie im deutschen Schach nicht neu. International machte zuletzt Alireza Firouzja mit seinem Wechsel nach Frankreich Schlagzeilen, davor der Armenier Levon Aronian, der nun für die USA spielt. National möchte sich Georg Meier die deutsche Schachverwaltung nicht länger antun, darum spielt er jetzt für Uruguay. Arkadij Naiditsch wiederum hätte gerne wieder für Deutschland gespielt, aber die deutsche Schachverwaltung möchte sich Arkadij Naiditsch nicht antun.

Die nächste Flaggen- und Föderationsdebatte im deutschen Schach läuft schon, noch weitgehend unter dem Radar. In welchem Maße sie Schlagzeilen machen wird, hängt davon ab, wie gut derjenige wird, der seit drei Jahren in Hannover dank niedersächsischer Mittel und Trainer sein Schach vervollkommnet, aber unter indischer Flagge am Brett sitzt. Die Chance, dass Sreyas Payyappat sehr gut wird, ist nicht eben klein.

“Supergroßmeister” wolle er werden, hat der 13-Jährige jetzt sogar dem SPIEGEL erklärt. Nicht auszuschließen, dass er das schafft. Aber auch gut möglich, dass er das nicht schafft.

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Ruhig bleiben!” möchten wir der versammelten Journaille zurufen. Wenn die über hoffnungsvolle deutsche Schachspieler:innen berichtet, dann hagelt es Klischees, das im Schach-Zusammenhang in kaum erträglichem Maß überstrapazierte vom “Genie” allen voran. Vorgestern erst ist Elisabeth Pähtz im TV zum Genie erklärt worden. Jan Gustafsson, ein Genie, Markus Kappe, ein Genie, Vincent Keymer, sowieso, Hussain Besou, das Genie aus dem Flüchtlingsheim. Und so weiter und so fort.

Zum Genie hat Sreyas Payyappat noch keine Berichterstatterin erklärt, aber es ist abzusehen, dass das bald passiert. Der junge Mann wird gerade erst entdeckt. Und es gibt ja noch andere Klischees, das “Jahrhunderttalent” zum Beispiel. Als solches, obendrein als “eines der größten Talente der Welt” wurde er in der niedersächsischen Presse schon vorgezeigt. Im aktuellen Spiegel-Bericht sehen wir stattdessen das allgegenwärtige “Wunderkind” – und einen mehr als kühnen Vergleich: Hätte ihm nicht die Pandemie dazwischengefunkt, Sreyas Payyappat wäre nominell jetzt schon so gut wie Magnus Carlsen als 13-Jähriger, heißt es dort.

Wenn es gut läuft, kann Sreyas Payyappat gestandene IM wie Nikolas Lubbe besiegen. Wenn nicht, kann er Turniere mit einer Performance unter 2000 abschließen.

Ruhig bleiben! Magnus Carlsen war als 13-Jähriger auf dem Sprung, die 2400 hinter sich zu lassen. Sreyas Payyappat, Elo 2250, liegt gleich mehrere Spielstärkeklassen dahinter. Und das ist, Pandemie hin, Pandemie her, in erster Linie eine Folge enormer Ergebnisschwankungen. Mal pflügt er mit 6,5/7 durch ein Turnier wie die Deutsche U12-Meisterschaft oder jetzt die Bezirksmeisterschaft in Hannover, Performance 2555. Mal kehrt er mit 4,5/10 von einem Open zurück wie jetzt aus Sitges, Performance 1995.

Die Wirklichkeit stellt sich so dar, dass Sreyas Payappat neben den gleichaltrigen Leonardo Costa (Elo 2393) und Marius Deuer (Elo 2356) zu den Ausnahmetalenten der hoffnungsvollen Generation gehört, die hinter Vincent Keymer heranwächst. Wohlwollend betrachtet, ist er knapp auf Augenhöhe mit diesen beiden, denen der Deutsche Schachbund jetzt ein exklusives Extra-Förderprogramm geschustert hat. Objektiv betrachtet, ist bei jungen Spielern trotz allen Talents generell überhaupt nicht abzusehen, wohin die Reise geht.

Screenshot via Schachbund

Schauen wir nur auf den chinesischen Großmeister Wei Yi. Als 15-Jähriger überschritt er die 2700, der jüngste Spieler jemals auf diesem Level – plötzlich erlosch die Rakete. Oder schauen wir auf US-Großmeister Sam Shankland, über Jahre ein veritabler 2600-GM, aber eben nicht mehr als das, aus dem am Ende seines dritten Lebensjahrzehnts plötzlich ein 2700er wurde. Oder ziehen wir noch einmal Vincent Keymer heran: Der 17-Jährige weiß gewiss um sein außergewöhnliches Potenzial, aber bis wohin ihn das führen mag, das fragt er sich selbst (ebenso wie Sreyas Payappats Landsleute Praggnanandhaa, Nihal Sarin, Gukesh und wie sie alle heißen).

Die neben dem Talent wichtigste Zutat ist bei Sreyas Payyappat fraglos vorhanden: die Liebe zum Spiel und die Freude daran, es zu erforschen. Und seitdem vor zwei Jahren IM Denes Abel den jungen Autodidakten entdeckt und unter seine Fittiche genommen hat, kann der Sechstklässler auf Ressourcen zurückgreifen, die ihn voranbringen werden. Die herausragende dieser Ressourcen: Rustam Kasimdzhanov, Trainer von Weltrang, unter dessen Anleitung der niedersächsische Kader studiert und trainiert.

Kasimdzhanov ist angetan speziell von Sreyas Payyappats taktischem Scharfblick und dessen Rechenstärke. Ob das nun GM-Material ist oder Super-GM-Material, wird die Zeit zeigen. Auf jeden Fall sollen Sreyas Payyappat nicht die Ressourcen ausgehen, hat Niedersachsens Schachpräsident Michael S. Langer jetzt dem SPIEGEL versichert: “Wir werden ihn weiter fördern, unabhängig von den Farben der Nationalflagge.”

Die ihn anstarrenden Kuscheltiere der Gegner machten ihm Angst, hat Sreyas Payyappat jetzt dem SPIEGEL erklärt. Diese Angst hielt ihn bei der Deutschen Meisterschaft U12 allerdings nicht davon ab, mit 6,5/7 durch den Wettbewerb zu pflügen. | Foto: Deutsche Schachjugend

Für den Moment ist die indische Flagge auch von Vorteil: Sreyas Payyappat ist ein gern gesehender Gast bei deutschen Normturnieren, die ein gewisses Kontingent Spieler anderer Föderationen benötigen, um für alle Teilnemer Normen möglich zu machen. Gleichwohl verknüpft Langer seine Absichtserklärung mit einer Erwartungshaltung: “Sreyas soll irgendwann für Deutschland spielen.”

Wie der Umworbene das sieht, ist nicht bekannt. Wahrscheinlich beschäftigt es ihn nicht übermäßig. Sreyas Payappat ist 40 Stunden pro Woche damit beschäftigt, besser im Schach zu werden.

Seine Eltern sehnen sich derweil nach der Heimat. “Wir wissen noch nicht, ob wir für immer in Deutschland bleiben werden«, sagt Mutter Smitha, die ebenso wie Vater Sreejith indische Freunde vermisst. “Für Sreyas sehen wir über unsere Gefühle hinweg.” Payyappats leben dem SPIEGEL-Bericht zufolge mittlerweile in erster Linie deshalb in Hannover, weil sie glauben, dass ihr Junge hier die beste Ausbildung bekommt.

(Titelfoto: Deutscher Schachbund)

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Amontillado
Amontillado
2 Jahre zuvor

In Indien schießen in den letzten Jahren ja reichlich Talente aus dem Boden, da sollte man meinen, dass die indische Schachausbildung so schlecht nicht sein kann.

Würde mich mal interessieren, warum genau die Eltern glauben, dass er hier die beste Ausbildung bekommen kann. Mehr/bessere Schachlehrer? Leichterer Zugang zu Turnieren? Finanzielle Gründe? Fokussiert man sich in Indien vielleicht verstärkt auf die Talente ersten Ranges und die anderen müssen hintanstehen? Wäre mal interessant.

Gerald
Gerald
2 Jahre zuvor

Ein nicht ganz einfaches Thema. Prinzipiell bin ich kein Staatenfanatiker. Ob Alireza für den Iran, unter neutraler Flagge oder für Frankreich spielt, ist mir egal. Allerdings gebe ich zu, dass ich die Entwicklung von Vincent Keymer ein bisschen intensiver im Vergleich zu ähnlichen Talenten beobachte, weil er aus Deutschland kommt. Was mir etwas Bauchschmerzen bereitet, ist, wenn begrenzte nationale Fördermittel in Spieler fließen, die wahrscheinlich gar nicht für diese Nation spielen wollen. Man würde z. B. als dt. Staat auch keine US-Arbeitsplätze eines US-Unternehmens mit nationalen Geldern finanzieren. Andererseits kann man einen 12-jährigen auch nicht vertraglich verpflichten, für den Verband… Weiterlesen »

Peter Kalkowski
Peter Kalkowski
2 Jahre zuvor

Je länger die Eltern zu Gunsten der Ausbildung den Jungen in einem Land mit völlig anderer Kultur fördern wollen, wird es schwer ihn in seinem “Heimatland” zu integrieren. Was die Eltern hier entbehren wird in Indien der Junge entbehren. Allerdings in sechs Jahren kann der Sohnemann selbst entscheiden wo die Reise hin geht und sich die Flagge/Föderation aussuchen. Wir sind ja auch nicht zimperlich und haben unsere Nationalmannschafts-Legionäre nicht nach der Frage wo sie ausgebildet wurden gekauft. Es ist international ein geben und nehmen und eine frage der Finanzen. Die Karriere für ein Schachspieler kann kurz sein von daher Spielt… Weiterlesen »

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