Warum Maxime Vachier Lagrave sich in Wijk an Zee so schwer tut? Weil ihn das Kandidatenturnier beschäftigt. Zur Halbzeit führt der Franzose beim Ringen der WM-Kandidaten und hat damit beste Aussichten, Magnus Carlsens nächster Herausforderer beim gerade angekündigten WM-Match zu werden. Aber nun frage sich MVL, ob der Wettbewerb jemals beendet wird.
Das ist eine der Einsichten, die Alexander Grischuk jetzt beim Banter Blitz auf chess24 mit den Zuschauern teilte. Unser Autor Martin Hahn fand Grischuks Ausführungen so bemerkenswert, dass er die zentralen Aussagen des WM-Kandidaten aufgeschrieben hat.
Was denkst du über die aktuelle Form von Magnus beim Turnier in Wjik?
Meine Gedanken dazu sind nicht besonders originell. Seine Form ist schrecklich. So schlecht war er schon seit Jahren nicht mehr in Form. Aber wie man sieht, selbst in dieser Form hat er plus 1, liegt nicht allzu weit hinter der Spitze zurück. Daran sieht man, was für ein großartiger Spieler er ist. Sogar in schlechter Form ist er immer noch sehr gut.
Und über Esipenkos Sieg gegen Carlsen?
(Klick auf einen Zug öffnet das Diagramm zum Nachspielen)
Eine sehr schöne Partie von Andrey Esipenko. Nachdem Andrey die Bauern geschlagen hat mit dieser Springer-b5-Kombination, war ich trotzdem nicht sicher, ob er gewinnt. Weil ich weiß, wie „schlüpfrig“ Magnus Carlsen ist und wie schwierig es ist, ihm den Gnadenstoß zu versetzen. Aber Andrey hat einen hervorragenden Job gemacht – mit diesem Turmschwenk, Tg5, Tg3, das hat er sehr gut gemacht.
Hast du die Partie Wojtaszek gegen Caruana gesehen?
Ja natürlich, ich habe alle Partien vom Tata Steel gesehen. Ich weiß nicht, die Leute reden so viel über dieses …Lxc3. Aber ich bin mir sicher, das war heimische Vorbereitung. Ja, es ist natürlich ein imposanter Zug. Aber er war halt vorbereitet. Ich bin bloß ein bisschen überrascht, wieviel Aufmerksamkeit diese Partie erhält.
Was denkst du über Alireza Firouzja?
Ja, er ist sehr beeindruckend. Er wird definitiv ein Topspieler werden.
Wie läuft deine Vorbereitung für das Kandidatenturnier?
(lacht) Das ist schwierig zu beantworten (lacht weiter), denn es ist völlig unklar, ob das Kandidatenturnier jemals beendet wird. Ich denke, die Situation mit dem Kandidatenturnier ist der Hauptgrund, warum Maxime Vachier-Lagrave gerade so hart zu kämpfen hat in Wjik, das ist für ihn natürlich sehr schwierig. Er ist der Co-Leader im Turnier, aber es ist unklar, ob es je beendet wird.
Wird in Zukunft hauptsächlich Schach960 gespielt werden?
Ich würde das sehr begrüßen. Ich spiele wirklich sehr gern Fischerrandom. Ich sehe keine wirklichen Nachteile gegenüber klassischem Schach. Warum es nicht öfter gespielt wird, weiß ich nicht, ein tolles, fantastisches Spiel. Bei Topturnieren sehe ich keine wirklichen Nachteile, wenn man Schach960 spielen würde. Man würde die Spieler nicht weiter dazu veranlassen, Nonstop-Eröffnungs-Vorbereitung zu machen, davon hat niemand etwas. Jetzt arbeiten wir, um neue Züge zu finden, und es bedeutet sehr harte Arbeit, um mit einem neuen Zug daherzukommen. Und das bringt dann nur immer für eine Partie etwas.
Okay, den einzigen Nachteil von Schach960 sehe darin, wenn man sich eine Partie vom Blatt weg, also ohne Brett anschaut. Denn die Ausgangsposition ist immer unterschiedlich. Deswegen muss der Betrachter der Züge zunächst die Ausgangsposition studieren. Aber ich denke, das ist nur ein kleiner Nachteil.
Natürlich kann man bei anderen Turnieren bis zu einer bestimmten Spielstufe, zum Beispiel bei Kinderturnieren, weiter klassisches Schach spielen. Das Problem mit der Eröffnungs-Übervorbereitung besteht ja nur beim Großmeisterschach. Ich hoffe wirklich, die Zukunft des Schachs liegt im Schach960. Zumindest ein Teil der Zukunft. Aber ich sage nicht, es sollte von nun an nur noch Schach960 geben.
Was denkst du über Onlineturniere?
Grundsätzlich stimme ich mit Hikaru Nakamura überein. Er sagte kürzlich, die Zukunft des Schachs sei online. Ich stimme in dem Sinne zu, dass vielversprechend aussieht, was gerade passiert. Andererseits ist das Betrügen ein großes Problem. Ich sehe nicht, wie man das wirklich kontrollieren kann. Kontrolle ergibt keinen großen Sinn, man kann zum Beispiel einfach einen kleinen Stöpsel im Ohr tragen. Wir haben jetzt bei Online-Turnieren diese ganzen Kameras. Aber wenn jemand wirklich betrügen will, kann er das trotzdem tun. Das ist ein großes Problem beim Onlineschach.
Ich habe ein paar Ideen, wie man diesem Problem begegnen könnte: mit hybriden Turnieren. Man könnte Turniersäle in großen Städten einrichten, zum Beispiel in Moskau, Paris, London, New York, Los Angeles, und überall werden Schiedsrichter eingesetzt. MVL spielt in Paris, ich spiele in Moskau, Nakamura spielt in New York, chinesische Spieler spielen in Peking oder Shanghai. Überall wachen Schiedsrichter, niemand kann Ohrstöpsel benutzen. Natürlich wäre das alles sehr teuer und aufwändig. Aber auf diese Weise könnte man wirklich ernsthafte Turniere spielen.
Welcher ist dein Lieblingsschachspieler?
Als Lieblingsspieler würde ich Viktor Kortschnoi bezeichnen, als besten Garri Kasparow. Falls Magnus Carlsen seine Spielstärke weitere Jahre konservieren kann, wird er Kasparow in meinem Ranking überholen, aber bis dahin bleibt es Kasparow.
Was denkst über Kramniks WM-Sieg gegen Kasparow?
Es war eine Errungenschaft von Vladimir Kramnik, dass er dieses Match gewonnen hat, insbesondere, dass es so überzeugend geschah. Das hatte natürlich so niemand erwartet. Weder Wladimir noch Garri noch die Zuschauer. Es war eine Kombination aus sehr schwacher Form von Kasparow und großartigem Spiel und Vorbereitung von Kramnik. Er hat Garri nur sehr wenig Chancen gegeben.
Nun, ein paar Chancen gab es für Kasparow schon. Kramniks großartige Entscheidung, die Berliner Variante spielen, hat im Prinzip die komplette Eröffnungsvorbereitung von Kasparow gekillt. Aber wenn Kasparow in einer besseren Form gewesen wäre, hätte es trotzdem anders ausgehen können. Kasparow hatte gute Chancen, zumindest eine Partie zu gewinnen. Vielleicht auch mehr als eine.
Trainierst du es, den Gegner beim Online-Blitz über die Zeit zu heben („Flagging“)?
Ich gehöre vielleicht zur zweiten oder dritten Kategorie der Flagger. Der beste ist Nakamura, dann Firouzja. Auch Magnus ist natürlich fantastisch im Flaggen, vielleicht hat inzwischen auch Daniel Naroditsky diese Kategorie erreicht. Das ist die Elite-Liga der Flagger.
Darunter gibt es noch „Premium-Flagger“ und „gute“ Flagger. Ich sehe mich zwischen „Premium“ und „gut“.
Was ist dein Lieblingsschachbuch?
Schwierig, eines auszuwählen, darum möchte ich das Lieblingsbuch meiner Kindheit nennen. Es ist von Awerbach/Beilin. Ich bin nicht sicher, ob es jemals auf Englisch erschienen ist. Auf Russisch heißt es „Eine Reise zum Königreich des Schachs“. Das war mein erstes Schachbuch, und ich habe es sehr, sehr gemocht.
Wenn wir über anspruchsvollere Schachbücher reden, die von Kasparow sind fantastisch: „Meine großen Vorkämpfer“. Auch „Die Schachmethode“ von Josif Dorfman ist ein Superbuch, ein bisschen wie Nimzowitschs Bücher. Aber ich denke, es ist viel besser. Dorfman ist ein viel stärkerer Spieler ist, als Nimzowitsch es war.
Wer war dein bis jetzt schwierigster Gegner?
Natürlich Garri Kasparow. Ich habe mehrere Unentschieden erreicht, aber ihn nie besiegt. Deshalb beneide ich die jungen Spieler gewissermaßen, die auf ihn erst in der jüngeren Vergangenheit getroffen sind, Jahre nach seinem Rücktritt. Jetzt ist Garri älter, und all diese Jungs schaffen es, ihn zu besiegen. Aronian, Caruana und so weiter haben nie gegen Garri in seiner Blütezeit gespielt. Höchstwahrscheinlich wissen sie nicht zu schätzen, wie großartig er war.
Welche Zeitkontrolle magst du am liebsten?
Eigentlich mag ich am liebsten Blitz, aber heutzutage ist das meine schlechteste Disziplin, gemessen an meinen Resultaten. Trotzdem genieße ich Blitzen immer noch am meisten. Meine beste Phase als Blitzspieler hatte ich vor ungefähr zehn Jahren. Insbesondere zwei Turnierleistungen überragen alle anderen: zum einen die Blitzweltmeisterschaft 2012 in Astana, Kasachstan. Von den drei Weltmeisterschaften, die ich gewonnen habe, war das die überzeugendste. Außerdem gibt es jedes Jahr eine Moskauer Blitzmeisterschaft. Bei einer erzielte ich einen Rekord, der wahrscheinlich nie gebrochen wird: 14 Partien gewonnen, 5 Remis – 16,5 aus 19.
Wie kommt’s, dass dein Englisch so gut ist?
Ich schätze, diese Frage ist sarkastisch gemeint (lacht). Ich denke nicht, dass mein Englisch gut ist. Insbesondere, was meinen Akzent betrifft. Tatsächlich rührt mein Akzent ein bisschen daher, weil ich auf eine Weise zu sprechen versuche, dass Russen mein Englisch verstehen – Russen, Franzosen, Italiener, Spanier und so weiter. Ich spreche kein Englisch für Amerikaner oder Engländer. Inzwischen wäre es für mich ein bisschen schwierig zu versuchen, mein Englisch umzustellen.
Welche Sprachen sprichst du?
Russisch und Englisch, das ist alles. Ich würde wirklich gerne Chinesisch können. Ich habe einst damit begonnen, es zu lernen, habe aber keinen Fortschritt gemacht. Dann hab ich’s wieder aufgegeben. Insbesondere nachdem ich David Navara habe sagen hören, dass er drei Jahre Chinesisch gelernt hat und auch keinen Fortschritte erzielt hat. Ich will keine drei Jahre auf diese Weise verplempern.
Wen magst du mehr: Stockfish oder Leela Zero?
Ich bin ein großer Fan von Stockfish, denn Stockfish gibt’s umsonst. Darüber hinaus ist Stockfisch auch am besten. Umsonst UND am besten – eine fantastische Kombination! Deswegen drücke ich auch eindeutig Stockfish die Daumen in diesen TCEC-Superfinals.
Ich habe es nie verstanden, warum es das beste Programm für umsonst gibt, während andere Programme viel schlechter sind, die etwas kosten. Wirklich total irre. Okay, Leela gibt es auch umsonst. Aber ich bin mit Stockfish groß geworden. Darum bin ich für Stockfish.
Unter seinem Pseudonym „Nathan Rihm“ hat Martin Hahn bereits zwei Gedichtbände veröffentlicht. Mehr über ihn auf der Nathan-Rihm-Fanpage bei Facebook. Kontakt: nathanrihm@gmx.de
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