Statt zwei großen Schachunternehmen wird es künftig wahrscheinlich eines geben. Ein Übernahmeangebot von chess.com für die Play-Magnus-Gruppe ist in Norwegen auf offene Ohren gestoßen. Noch bedarf es der Zustimmung der Aktionäre und einiger Formalitäten, bevor die große Schachvereinigung vollzogen wird. „Wir gehen davon aus, dass es noch sechs bis acht Wochen dauert“, teilt chess.com mit. Bis dahin würden beide Unternehmen unabhängig voneinander operieren.
13 Norwegische Kronen pro Aktie bietet chess.com an, deutlich über der Marktbewertung in der jüngeren Vergangenheit – und weit unter dem Allzeithoch der Aktie von 33 Kronen im Dezember 2021, dem ein kontinuierlicher Sinkflug folgte. Das jetzige Angebot von chess.com taxiert den Wert der Play-Magnus-Gruppe auf etwa 82,5 Millionen Dollar.
Die sich anbahnende Übernahme ist beiderseits von viel heißer Luft begleitet worden – und einem bizarren Video, in dem ein überdreht-unkomfortabler chess.com-Chef Daniel Rensch und ein wortkarg-unkomfortabler Magnus Carlsen dem von ihren Häusern verwendeten Vokabular zur bevorstehenden Übernahme ebenso wenig gerecht werden wie ihrer Absicht, einen leicht-locker-witzigen Clip zu produzieren.
„Excited“ und „thrilled“ gaben sich die Beteiligten in ihren offiziellen Mitteilungen, dem Schach stehe eine Entwicklung bevor, die nicht weniger als „amazing“ ist. Tatsächlich hat die Schachlandschaft ihre Vielfalt jetzt vollständig eingebüßt. Neben chess.com bleibt einzig die freie Seite Lichess als zweite große Schachplattform.
Mit bestens gefüllter Kriegskasse ausgestattet, hatte sich aus Play Magnus, basierend auf der gleichnamigen App, in den vergangenen Jahren die Play-Magnus-Gruppe entwickelt. Jedes hoffnungsvolle Start-up und mancher Etablierte aus der Schachszene ist zum Teil der norwegischen Gruppe geworden: Aimchess, Chess24, Chessable, Everyman Chess, GingerGM, iChess, New in Chess. Dazu kamen originäre Produkte: die Champions Chess Tour, die Magnus Chess Academy und die ambitioniert gestartete, aber bald eingestampfte Coaching-Plattform CoChess. Sie alle werden fortan unter dem chess.com-Dach beheimatet sein, Perspektive ungewiss.
Das Konzept, per Zukauf zu wachsen, hat die Play-Magnus-Gruppe in aller Konsequenz verfolgt, begleitet von stets selbstbewussten, optimistischen Mitteilungen zur eigenen Perspektive. Ob die Gruppe das Ziel, profitabel zu werden, erreicht hätte, wird nicht beantwortet werden. Sicher ist, dass die Gruppe in einem Maße Geld versenkt hat, dass ausgangs des Corona-Queen’s-Gambit-Schachbooms die Luft auszugehen drohte. Das vergangene Play-Magnus-Jahr war gekennzeichnet von Kürzungen und Sparmaßnahmen – um, so die offizielle Version bis vor kurzem, schon Ende dieses Jahres schwarze Zahlen zu schreiben.
Deutsche Schachfreunde bekamen den Sparzwang vor Augen geführt, als chess24 Ende März seinen deutschsprachigen Dienst einstellte. Florian Kugler, zuständig für deutsche Inhalte, musste gehen. Nicht nur das beliebte Format „Lubbes Lernstunde“ endete plötzlich und unerwartet.
Chess24-Vorturner Jan Gustafsson war derweil mehr und mehr auf seinem eigenen Kanal „Janistan TV“ zu sehen. Dort bittet er das geneigte Publikum um „Spenden für die Staatskasse“, anstatt an der Reichweite und am Umsatz des von ihm erdachten, gegründeten und 2019 an Play Magnus verkauften chess24 zu arbeiten. Der Grund für Gustafssons Fokus aufs neue eigene Projekt lässt sich im Bundesanzeiger sehen: chess24 wird liquidiert (ob die Marke weitergeführt wird, ist wahrscheinlich ungeklärt).
Sogar die neben der Carlsen-Tour erfolgreichste Play-Magnus-Unternehmung Chessable musste den Gürtel enger schnallen. Von einem der „härtesten Tage der Unternehmensgeschichte“ sprach Chessable-Chef Geert van der Velde, nachdem er am 23. Juni dieses Jahres 29 Voll- und Teilzeitmitarbeitern gekündigt hatte.
Chess.com war zu Beginn nicht mehr als der bestmögliche Domainname, unter dem sich ab 2007 das einzige Angebot des Unternehmens fand: eine Möglichkeit für Besucher, gegeneinander Schach zu spielen. Aus diesem Start-up ist binnen 15 Jahren ein Unternehmen gewachsen, das 2022 die Ressourcen hat, sich für einen hohen achtstelligen Betrag den einzigen kommerziellen Konkurrenten einzuverleiben.
Möglich war dieses Wachstum auch, weil diejenigen, die Wettbewerber hätten sein können, die Gelegenheit nicht sahen bzw. nicht in der Lage waren, sie wahrzunehmen. Einen Coup wie „Pogchamps“ zu erfinden, war keine Raketenwissenschaft. Rocket Beans TV zeigt mit seinem erfolgreichen „Zugzwang“, dass Promischachformate auch auf nationaler Ebene funktionieren können.
Während chess.com sein Wachstum ab 2007 mit kontinuierlichem Social-Media-Marketing befeuerte, haben sich der einst dominierende Internet Chess Club (ICC) oder die deutsche Plattform Playchess auf ihrem Kundenstamm ausgeruht. Das Ergebnis: Es gibt jetzt nur noch eine große kommerzielle Spielplattform. Wäre daneben nicht Lichess quicklebendig, niemand würde dem Branchenprimus mit seinen an die 100 Millionen Mitgliedern inhaltlich zusetzen und ihn zu Innovationen zwingen.
Was bei chess.com die Basis des Erfolgs ist, war bei Play Magnus von Beginn an Gegenstand von Fehlplanung. Wie soll ein Schachkonzern lebensfähig sein, wenn er seinen Kunden keine attraktive Option gibt, unter dem eigenen Dach das zu tun, was Schachspieler tun – Schach spielen? Aber in der eigenen Schachplattform, die ein zentrales Projekt hätte sein sollen, war von Beginn an der Wurm drin. Die Geschichte von chess24 ist auch die Geschichte des kontinuierlichen Scheiterns des Schachspielangebots der Play-Magnus-Gruppe.
Vom Relaunch der angejahrten chess24-Website war jahrelang die Rede, von dem der Spielplattform auch. Mancher avisierte Termin ist verstrichen, ohne dass sich die angekündigten Änderungen eingestellt hätten. Jetzt erst, drei Jahre nach der Akquisition und kurz vor der Liquidierung, sieht chess24 zumindest in Teilen wahrscheinlich so aus, wie es gedacht war. Die von drei Redakteuren beackerte „News Wall“ zum Beispiel ist ein gelungenes Projekt, das nicht nur Schachseiten vom Bodensee gut zu Gesicht stehen würde, auch solchen aus Übersee.
Zuletzt erweckte auch chess.com den Eindruck, als würde es dort nicht ganz rund laufen. Sein Erfolgsmodell “pogchamps” hat chess.com so stark zu melken versucht, dass im vierten Durchgang im September 2021 das Publikum ausblieb. Weniger (und größere Abstände) wäre mehr und vor allem nachhaltiger gewesen. Gier?
Zwar stieg im Januar der Investor General Atlantic ein, danach: Flops. Das mit einigem Getöse verkündete Verifzierungsprogramm sah in erster Linie aus wie ein Versuch, sich zusätzliche Einnahmequellen zu erschließen. „Bevorzugte Anti-Cheating-Kontrolle“ für verifizierte Mitglieder legte außerdem nahe, dass das Anti-Cheating-Team der rasant gewachsenen Seite mit den Millionen täglich auf chess.com gespielten Partien überfordert ist. Mittlerweile hat chess.com das Verifizierungsprogramm stillschweigend für unbestimmte Zeit auf Eis gelegt.
Mit seiner „chess.com World Championship” hat sich chess.com nicht nur Hohn und Spott von Lichess eingehandelt. Obwohl das Unternehmen der FIDE als Sponsor eng verbunden ist, war der Start einer eigenen Weltmeisterschaft offenbar nicht mit dem Weltverband abgesprochen. Kaum 48 Stunden nach der Ankündigung ruderte chess.com zurück. Der mit einer Million Dollar dotierte Wettbewerb heißt jetzt „Global Championship“ (Rasmus Svane ist als einziger Deutscher für die finalen Play-Offs qualifiziert).
Zuletzt: neue, nicht nur in Deutschland höhere Preise für bezahlte Mitgliedschaften. Ein erstaunlicher Zeitpunkt zu verkünden, dass es nun leider, leider für die meisten Mitglieder etwas teurer wird – trotz des gerade erfolgten Einstiegs neuer Investoren, trotz einer seit Pandemiebeginn etwa verdreifachten Mitgliederzahl.
Obwohl chess.com im Wesentlichen organisch gewachsen ist, ist das Unternehmen nicht neu im Übernahmebusiness. Aber anders als die wahllosemsig sammelnden Norweger haben die Amerikaner stets gezielt zugegriffen, um ihr Portfolio so zu erweitern, wie es gerade nötig war.
Die Geschichte der chess.com-Übernahmen beginnt 2009, als chesspark.com mit all seinen Spielern in chess.com aufging. Damit war ein Konkurrent vom Markt. 2013 kam chessvibes.com dazu, eine vom Journalisten Peter Doggers betriebene Nachrichtenseite. Doggers ist seitdem für die Nachrichten auf chess.com zuständig. Sein erstes großes Projekt kurz nach der Übernahme: Berichterstattung zum WM-Match Carlsen-Anand 2014.
Auch die Übernahme von chessbomb.com 2018 stand im Zeichen eines bevorstehenden WM-Matches, außerdem im Zeichen des Wettbewerbs mit chess24, das sich neben chessbomb als führende Übertragungsseite zu etablieren drohte. Die Partieliveübertragungen auf chess.com basieren seitdem auf der chessbomb-Technik.
Dass die Übernahme der Play-Magnus-Gruppe 2022 eine gezielte war, wird niemand bestreiten. Nur sind die Gründe andere, als es die Beteiligten verlauten lassen. Renschs „Schach in neue Höhen führen“ (was immer das bedeuten mag) wird weniger der Antrieb gewesen sein als die günstige Gelegenheit, sich des letzten Wettbewerbers zu entledigen.
(Titelfoto via chess.com/Gotham Chess)
Ich hoffe, die Marktposition der „Magnus Group“ wird nicht zu groß werden, weil das prinzipiell nicht gut ist für einen freien und fairen Wettbewerb und die positive Weiterentwicklung der einzelnen Plattformen. Ich wünsche und hoffe, das wenigstens „Lichess“ so bleibt wie es ist! Wenn nach Bezahlung meiner Strom- und Gasrechnung noch was übrig bleiben sollte, werde ich dieses Jahr noch einen Betrag dorthin spenden, weil mir diese Plattform es wert ist und ich möchte, dass sie uns auf Dauer erhalten bleibt!
Danke für die vielen Info. Einiges davon wußte ich nicht. Z.b. dass Chess24 bereits liquidiert wurde und das bedeutet, dass es chess24 nicht mehr lange geben wird. Egal ob mit oder ohne Chess.com.
Angesichts der Auflösungserscheinungen bei chess24 und den harten Sparmaßnahmen bei chessable erscheint das Übernahmeangebot in einem ganz anderen Licht. Ein scheinbar günstiger Moment.Und scheinbar ist es dem Management der MPG nicht schwer gefallen, dem Angebot zuzustimmen.
Wenn man selbst abzusaufen droht, greift man gern zum Rettungsring.
Stefan Löffler zum gleichen Thema in der FAZ. Interessanter Aspekt, der hier nicht vorkommt: Der Druck, den der neue Monopolist auf die FIDE ausüben kann.
https://www.faz.net/aktuell/sport/mehr-sport/chess-com-kauft-magnus-carlsens-play-magnus-gruppe-18271452.html?GEPC=s3
Chessbase wird hier gar nicht erwähnt? Sie haben tendenziell “die Zeichen der Zeit nicht erkannt” bzw. ruhten sich zuviel auf alten Lorbeeren aus. Aber sie sind nun womöglich der einzige Konkurrent des amerikanischen Monopolisten – wenn man mal z.B. russische Seiten außen vor lässt.
[…] Firma das ganze Geld her für eine Übernahme von Play Magnus? Einiges dazu findet man bei den Perlen vom Bodensee. Wer Weiteres weiß – bitte […]
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[…] Ende des WettbewerbsNur ein vorläufiges Ende des Wettbewerbs? Fürs Schach wäre es gut, gäbe es mehrere relevante kommerzielle Player. […]
Magnus Carlsen strebt jetzt endgültig die Rente an. Weltmeister auf Abruf und auch keine Ambitionen mehr als Schach-Unternehmer.
Wirklich eine schöne Darstellung, vielen Dank!
Am Ende des Tages ist das dann auch ein ganz normales Beispiel Wirtschaftsgeschichte.
Ich finde es super, wie sich der Markt entwickelt hat. Die Angebote für den Nutzer sind ja nun wahrlich vielfältig und jeder hat was dabei, ob auf chess.com oder lichess oder kleineren Seiten wie chesstempo. Allein, was die Trainings- und Analysemöglichkeiten angeht ist das Kostenlosangebot heute ja zB besser als die ganzen teuren Lösungen vor zB 10 Jahren.
Schach wird E-Sport Mainstream und das ist ein fantastischer Trend.