Kandidatenturnier: Nakamuras Streaming-Deal und das vergebliche Werben der FIDE um Magnus Carlsen

Noch im Januar wollte die FIDE das Kandidatenturnier 2024 teilweise im Schnellschachformat austragen lassen. Auf diese Weise sollte in letzter Minute Magnus Carlsen zur Teilnahme bewegt werden. Das offenbart jetzt Hikaru Nakamura in einem Interview mit der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (für Abonnenten).

Der Modus sei in der Schwebe gewesen, bis Carlsen Mitte Januar offiziell sein Nichtantreten erklärt habe. „Sie wollten abwechselnd einen Tag mit einer klassischen Partie und am Tag darauf zwei Schnellpartien ansetzen. Ich wurde per E-Mail gefragt, ob ich bereit wäre, zwei Partien am Tag zu spielen“, sagt Nakamura.

FAZ-Autor Stefan Löffler im Gespräch mit Hikaru Nakamura, schon gekleidet im Dress des SC Viernheim, für den er tags darauf seine erste Bundesligapartie bestritt. | Foto: Conrad Schormann

Schon seit dem WM-Kampf zwischen Ding Liren und Ian Nepomniachtchi im Mai 2023 hatte Magnus Carlsen wiederholt angekündigt, dass er am Kandidatenturnier 2024 nicht teilnehmen wird. Nakamuras Aussagen werfen jetzt ein Licht darauf, was in den Monaten zwischen diesen Ankündigungen und der offiziellen Absage passiert ist.

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Der Schach-Weltverband navigiert durch eine Relevanzkrise, Ausgang ungewiss: Die FIDE steht im Wettbewerb mit chess.com um die Dienste der Elitespieler und westliche Sponsoren, ein Wettbewerb, der eskalieren mag, wie FIDE-General Emil Sutovsky schon im vergangenen Jahr erklärt hat. In der Causa Carlsen vs. Niemann inklusive butterweichem, verspätetem Urteil hat sich die FIDE stark zurückgehalten, um keinen Konflikt mit Carlsen zu riskieren, auf dessen Mitwirken im Kandidatenturnier sie bis Anfang 2024 hoffte.

Ihr Prunkstück „Weltmeisterschaft“ und den dazugehörigen Zyklus muss die FIDE ohne den besten Spieler der Welt vermarkten. Jetzt hat auch noch jemand die Bühne betreten, der mit diesem besten Spieler eine Partnerschaft eingegangen ist, separat von allen bestehenden Playern im Schach. Die beiden planen einen Schach960-Grand-Slam, der fünfmal so hoch dotiert ist wie die FIDE-WM, und damit für die Spitzenprofis deutlich attraktiver wäre. Der ohnehin bestehende Reformdruck in Sachen WM-Zyklus auf die FIDE ist damit noch einmal erhöht. Der Druck, Sponsoren zu finden, die nicht nach Kreml riechen, erst recht.

Kein Wunder, dass, wie berichtet, die FIDE-Verantwortlichen versucht haben, Jan Henric Buettner auf ihre Seite zu ziehen, kaum dass er die Bühne betreten hatte – erfolglos wahrscheinlich. Noch weniger ein Wunder, dass die FIDE nichts unversucht gelassen hat, um Magnus Carlsen doch noch für ihren WM-Zyklus zu gewinnen – erfolglos. Auch das Herumdoktern am Format in letzter Minute vermochte Carlsen nicht umzustimmen. Der Norweger wird in diesem Jahr durchaus noch ein semi-klassisches Format mit zwei 45+10-Partien pro Tag spielen, aber nicht bei der FIDE in Toronto, sondern bei Grenke in Karlsruhe.

Die Rolle des Bad Boys im Schach spielt Hikaru Nakamura nach eigener Einschätzung jetzt nicht mehr. Unter anderem darüber sprach er vor dem Bundesligaauftakt im Interview mit dem Spiegel (für Abonnenten).

Das mit Supertalenten gespickte Kandidatenturnier in Toronto sieht Nakamura als „Anfang vom Ende“ der Generation Caruana/Nepo/Nakamura. Es repräsentiere wahrscheinlich die letzte Chance für die heutige Ü30-Elite, Weltmeister zu werden, sagte Nakamura am Rande der Bundesligarunden in Viernheim. Er freut sich auf die klassischen Partien in Toronto, die er nach seinem bewährten post-pandemischem Rezept bestreiten wird: etwas weniger intensiv vorbereitet als die Gegenspieler, dafür mit Freude und frei von Druck dank finanzieller Unabhängigkeit.

Gegenüber der FAZ sagte Nakamura, er halte es für sehr wahrscheinlich, dass er und sein Streamerkollege Levy Rozman mehr mit ihrer Schacharbeit verdienen als Magnus Carlsen mit seiner. Er sei stolz darauf, einer ganzen Reihe von Menschen Jobs zu geben. Nakamura-TV bezahle jährlich einen sechsstelligen Betrag an Mitarbeiter:innen, die allein von ihrem Schach nicht leben könnten.

Auf Wiedersehen im Kandidatenturnier: Seitdem Magnus Carlsen offiziell zurückgezogen hat, ist der World-Cup-Vierte (!) Nijat Abasov offiziell WM-Kandidat. Er und Hikaru Nakamura übten in Viernheim schon einmal für den Vergleich im April in Toronto – mit dem besseren Ende für Nakamura. | Foto: Christian Hoffmann

Nakamura spielt ausschließlich klassische Wettbewerbe, die er auf seinen Kanälen zeigen kann. Deswegen stand auch seine Teilnahme am Kandidatenturnier gemäß dem FAZ-Interview eine Zeitlang auf der Kippe. Hätte ihm die FIDE untersagt, abends nach der Runde seine Partien für sein Publikum vorzuführen, wäre er gar nicht erst angetreten. „Zum Glück konnte ich das mit Arkady Dvorkovich klären.“

Ob dafür wirklich Glück erforderlich war? Der FIDE-Präsident in seiner Not hätte es sich kaum leisten können, auch noch den zweiten der beiden Superstars des Schachs fürs Kandidatenturnier zu verlieren.

Wer hätte gedacht, dass Levon Aronian im Interview nach seinen Partien sich oft gezielt Quatsch ausdenkt, um keine Einblicke zu erlauben? Darüber und einiges mehr sprach Nakamura vor dem Bundesligaauftakt im Interview mit der FAZ (für Abonnenten).

Nakamura reiht sich bei denen ein, die auf dem Elitelevel das Ende des Schachs mit klassischer Bedenkzeit kommen sehen. „So lange wir keine Anreize haben, riskanter zu spielen, ist klassisches Schach im Niedergang“, sagt der US-Großmeister. „In 10, 15 Jahren“ werde Schnellschach der neue Standard sein: „Dank immer stärkerer Computerprogramme kann man mit guter Vorbereitung in fast jeder Eröffnung eine Stellung kriegen, in der man mit Schwarz relativ leicht remis macht.“ Amateurschach sei davon nicht betroffen: „Bis Großmeisterniveau ist klassisches Schach immer noch großartig.“

960-Weltmeister Nakamura kündigt an, in diesem und im kommenden Jahr klassisches 960 zu spielen. Beim Freestyle-Turnier im November in Indien werde er mit von der Partie sein, ebenso in Weissenhaus im Februar 2025. Seine Nichtteilnahme bei der Premiere im Februar 2024 begründet er gegenüber der FAZ vor allem damit, dass es schien, als ob er aus Weissenhaus nicht hätte streamen können.

Damit legt Nakamura den Finger auf den in obigem Beitrag aufgezeigten Konflikt, den Freestyle lösen muss: das Erschließen von Distributionskanälen versus Aufbau eigener digitaler Reichweite. Nakamura berührt dieses Problem der in Entstehung befindlichen 960-Tour wenig. Für ihn ist die Sache einfach: Wenn er streamen kann, spielt er mit. Genau das sei jetzt verabredet.

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Marc
Marc
1 Monat zuvor

Die Fussballprofis spielen bald mit 2 Bällen gleichzeitig, um die Untentschieden einzudämmen. Es wird auch mit 4 Toren experimentiert werden. Die Amateure weiter mit einem Ball.

Uwe Böhm
Uwe Böhm
1 Monat zuvor

Wenn Schach laut Nakamura bis zum Großmeisterniveau ein großartiges Spiel ist, dann besteht für die Basis überhaupt keine Veranlassung, sich auf 960 einzulassen.

Wenn man es meint, dass es zu viele remis gibt, dann muss man halt mal die 3-Punkte-Regel über einen gewissen Zeitraum ausprobieren. Vereinzelt gibt es das ja mal ab und an bei einem offenen Turnier.

Bei direkten Duellen oder Mannschaftskämpfen bringt das nichts, aber da könnte man ja z.B. einen Sieg mit Schwarz höher bewerten als einen Sieg mit Weiß.