Svidler vorne, Keymer hinten

Turniersenior Boris Gelfand hat beim “Tepe Sigeman” mit einer Energieleistung in der letzten Runde an beiden Enden der Tabelle für Bewegung gesorgt. Indem der 54-Jährige den Turnierjunior Abhimanyu Mishra in 125 Zügen niederrang, beraubte er den 14-Jährigen der Chance, sein erstes Superturnier zu gewinnen. Stattdessen siegte Peter Svidler. Sich selbst hievte Gelfand vom letzten Platz der Tabelle. Die rote Laterne übergab er an den punktgleichen Vincent Keymer.

Abschlusstabelle via chess.com

Etwas überraschend stand nach sieben Runden der andere Turniersenior an der Tabellenspitze. Svidler (46) hatte seit fast eineinhalb Jahren keine klassische Partie gespielt. Dennoch zeigte der vielfache WM-Kandidat und russische Landesmeister kaum Spuren fehlender Praxis.

In der letzten Runde musste in einem weiteren Duell der Generationen Gukesh (16) mit Weiß gegen Svidler gewinnen, um selbst noch die Spitze zu erklimmen. Stattdessen fand sich Svidler bald in der komfortablen Lage, darüber nachdenken zu können, ob sein Mehrbauer womöglich für mehr gut ist als ein ungefährdetes Schwarzremis.

Werbung

Nach der Punkteteilung führte Svidler mit 4,5/7 das Feld an. Während er sich daran erfreute, seine Elo wieder Richtung 2700 bewegt zu haben, war die Frage offen, ob Mishra gleichziehen würde. Um einen Blitz-Stichkampf zu erzwingen, musste der jüngste Großmeister der Welt sein Endspiel gegen Gelfand halten. Was eine Tablebase geschafft hätte, gelang dem Ausnahmetalent nicht.

Ein freundschaftliches Blitz-Match spielten Svidler und Mishra vor der Abschlussfeier dennoch. Auch als geteilter Zweiter (mit Gukesh und der schwedischen Nummer eins Nils Grandelius) hat Mishra mit dem TePe Sigeman 2023 einen großen Schritt gemacht, der ihm weitere Einladungen sichern dürfte. Noch Anfang des Jahres beim Tata Steel Chess Challengers hatte er sich in einem deutlich schwächeren Feld mit 5/13 unten einordnen müssen.

Gukesh ist in Schweden „nur“ geteilter Zweiter geworden, hat aber in einer anderen Tabelle dank dieser Platzierung die Spitze übernommen: Im „FIDE Circuit“, dessen Spitzenreiter Ende 2023 einen Platz im Kandidatenturnier 2024 bekommt, führt Gukesh jetzt vor Levon Aronian, Wesley So und Anish Giri.

Im Konzert der weltbesten Junioren spielen der Inder sowie der Usbeke Nodirbek Abdusattorov vorerst die erste Geige – und natürlich Alireza Firouzja, dessen Zweitjob Modedesign ihn am Mittwoch in Bukarest bei der Grand Chess Tour nicht davon abhielt, Ding Liren dessen erste Niederlage als Weltmeister zuzufügen. Während Gukesh und Abdusattorov die Top 20 der Welt erreicht haben, hat Firouzja jetzt den zweiten Platz der Weltrangliste zurückerobert.

Die Schwarzniederlage Keymers gegen Gukesh fiel deutlich aus. Gleichwohl bleibt es eng, zwischen den besten Junioren des Weltschachs. Das lässt sich am Gukeshs Niederlage in Schweden gegen dessen Landsmann Arjun Erigaisi ablesen, ebenso an Keymers Triumph unlängst in Düsseldorf über Nodirbek Abdusattorov.

Teil dieser Momentaufnahme ist, dass Vincent Keymer hinter diesen dreien steht. Mit dem Erreichen des 2700-Levels scheint der 18-Jährige nach anhaltendem, kontinuierlichen Elo-Aufstieg zum ersten Mal seit drei Jahren wieder auf einem Leistungsplateau angekommen zu sein. Im „Elite Plaza Hotel“ in Malmö bestätigten sich zwei Tendenzen, die schon bei vergangenen Turnieren zutage getreten waren.

“Und Vincent?” Die Frage stellte sich im Oktober 2019, als Luis Engel binnen sechs Monaten drei GM-Normen hingelegt hatte, während Keymers dritte Norm sich mehr als ein Jahr lang partout nicht einstellen wollte. Aber schon bei Erscheinen des Beitrags gab es Anzeichen, dass Keymer das 2019er-Leistungsplateau nun verlassen wird. Es lief das Open auf der Isle of Man, und das lief für Keymer so gut, dass danach die erlösende dritte Norm verbucht war.

Die eine: Keymer neigt zu Fehlstarts. Beim Tata Steel Chess im Januar und beim WR Chess im Februar hat er nach verkorkstem Auftakt jeweils die Stabilität gezeigt, sich nach anfänglichen Rückschlägen zurück ins Turnier kämpfen zu können. Womöglich wäre ihm das auch beim TePe Sigeman gelungen. Trotz der Niederlage gegen Gukesh und des Tiefschlags gegen Mishra wirkte Keymer nicht angeschlagen, aber die Kurzdistanz von sieben Runden machte ein Comeback unmöglich.

Im Video: die verflixte Partie Vincent Keymers gegen Abhimanyu Mishra.

Die andere: Chancentod. In der Champions Chess Tour des vergangenen Jahres war dieses Phänomen speziell in Vergleichen mit Magnus Carlsen aufgefallen. Auch beim Tata Steel Chess Anfang 2023 führte Vincent Keymer zwar nicht in der Tabelle, aber in der Rangliste derjenigen, deren Partien für mehr Punkte gut gewesen wären. Hätte er in Schweden die verflixte Partie gegen Abhimanyu Mishra zu Ende gewonnen, anstatt die Gewinnstellung zu verlieren – TePe Sigeman 2023 wäre für Keymer zwar kein überragendes, aber ein solides Turnier mit einem 50-Prozent-Ergebnis gegen veritable Widersacher gewesen.

Abseits von Online-Turnieren, geht es für die deutsche Nummer eins voraussichtlich am 20. Juni weiter: Im „Masters“ des Prager Schachfestivals wird sich Keymer mit einer ganzen Reihe 2700er messen. Dort wird es auch zu einem Wiedersehen mit dem einstigen WM-Finalisten Boris Gelfand kommen.

Durch einen Sieg im Challengers im vergangenen Jahr hat sich Vincent Keymer den Platz im Prager Masters 2023 gesichert.

(Titelfoto: David Llada/Tepe Sigeman)

4.5 8 votes
Article Rating
Abonnieren
Benachrichtige mich bei
guest

5 Comments
Most Voted
Newest Oldest
Inline Feedbacks
View all comments
Ludger Keitlinghaus
Ludger Keitlinghaus
11 Monate zuvor

Anand neigte zu Beginn seiner Karriere ebenfalls zu Fehlgriffen, ich erinnere mich gerne wie ich beim Lloyds Bank Masters 1987 neben ihm saß und er eine inkorrekte Kombination auspackte, die zum Gewinn führte, der bundesdeutsche Gegner (Elo vielleicht 2350, Anand, “Vishy”, stand seinerzeit nicht viel besser da – hatte allerdings bereits an der Schacholympiade 1984 in der Vertretung Indiens teilgenommen) klagte mir am anderen Tag sein Leiden, er hatte gut gespielt und hätte gewinnen müssen. Das Endspiel von Mishra gegen Gelfand hätte Remis ausgehen müssen, irgendwie fehlte dem Verteidiger, Mishra, der Drang seinen König im Damenendspiel mit einzig verbliebenem G-Bauern… Weiterlesen »

Heribert
Heribert
11 Monate zuvor

Langsam glaube ich, Dampfkommentator Thomas Richter hat Recht: Keymer einfach nur gehypt.