Vielleicht ein Glücksfall

Boris Bruhn ist nicht mehr DSB-Vizepräsident. Das ist eines der Ergebnisse eines nach 13 Stunden abgebrochenen Würfelspiels namens DSB-Kongress. Die Mehrheit der Delegierten wollte zwar die Handelnden an der DSB-Spitze nicht im Amt belassen, hatte aber in den Monaten vor dem Kongress keine Alternativen gefunden.

Spätestens bei seiner Bewerbung um die Wiederwahl hat Bruhn sich selbst abgeschossen. Anstatt seine eigenen Leistungen der vergangenen Monate ins Zentrum seiner Ansprache zu stellen, präsentierte sich Bruhn als treues Anhängsel des Teams Krause. Statt “Vereinsinitiative” und “Mitglieder gewinnen” sagte Bruhn in den ersten beiden Sätzen zweimal “Verbandsprogramm”. Nur steht eben dieses (wuchernde) Verbandsprogramm für das Denkmal in eigener Sache, das Ullrich Krause zu hinterlassen gedenkt. Und dem wollten die Delegierten einen Denkzettel verpassen.

Mit Boris Bruhn und dem sogar zweimal per Nichtwahl abgewatschten Carsten Schmidt hat es die Falschen getroffen. Ullrich Krause und Marcus Fenner sind diejenigen, die Antworten schuldig sind. Leider sind die Verwalter des Schachs unfähig, ihnen inhaltliche Fragen zu stellen und Antworten einzufordern. Und den Verwaltern fehlt die Kraft, aus den eigenen Reihen personelle Alternativen zu gebären oder externe zu gewinnen.

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Die Schmitts und Hensels stehen nur stellvertretend für all die guten Leute im Schach, die auf ihren privaten oder Vereinsinseln viel bewegen, sich aber vom Verband möglichst fernhalten. Nie war die Not so groß, jemand von ihnen einzubinden, aber das gelang nicht. Beim Kongress hat jetzt Ex-Präsident Robert von Weizsäcker stundenlang schweigend zugehört. Anlass für eine Wortmeldung sah er nicht, weder in den Monaten vor dem Kongress noch während des laufenden Trauerspiels, das Weizsäcker als stummer Voyeur verfolgte. Was wiederum hilft, seine Aussage einzuordnen, ihm liege noch am Schach. Allzu ausgeprägt kann das nicht sein, sonst hätte er längst die ihm Kraft seines Namens gegebene Gravitas eingesetzt, um zumindest einen Neuanfang einzufordern. Vielleicht kommt ja jetzt jemand darauf, ihn für die im Verbandsprogramm festgeschriebenen “Kontakte zur Politik” einzusetzen. Dieses Programm ist auf dem besten Weg, ein weiteres Konzeptpapier für die Schublade zu werden, ein zweites Leitbild, das jahrzehntelang unbeachtet rumsteht. Wenn nicht bald jemand konkreten Leuten konkrete Aufgaben gibt, dann werden die im Programm festgeschriebenen Ziele solche bleiben.

In 13 Stunden wurde keiner der jüngsten Abgründe ausgeleuchtet. Wie kann jemand rausgeekelt werden, dessen Arbeit alle Beteiligten für gut halten, jemand, der allseits beliebt ist? Warum wird dem besten deutschen Schachspieler seit Robert Hübner verweigert, unter deutscher Flagge zu spielen? Wie kann es sein, dass das organisierte Schach im Jahr eines Schachbooms die schlechteste Presse seiner Geschichte hat? Marcus Fenner und Ullrich Krause könnten das womöglich beantworten, allemal sind sie verantwortlich. Gefragt hat sie bei der höchsten deutschen Schachversammlung niemand.

Stattdessen: Formalien. Der schleichend kaltgestellte Andreas Jagodzinsky kann jetzt in einem 14-seitigen Papier schwarz auf weiß nachlesen, dass unter Marcus Fenner nicht einmal formal alles korrekt zugeht.

So, what? Ullrich Krause hat schon erklärt, wie er die Sonderprüfung Leistungssport von Rechtsberater Thomas Strobl auszusitzen gedenkt: Strobls Prüfung müsse nun intensiv geprüft werden, sagt Krause. Mit anderen Worten: Von dieser Angelegenheit werden wir nie wieder hören.

Two more years: DSB-Präsident Ullrich Krause. | Foto: Deutscher Schachbund

Vielleicht kommt es ja zu einem Neuanfang in der Sache und in der Umgangskultur. Vielleicht lernen die beiden Herren, Grautöne zu sehen, vielleicht emanzipiert sich Krause, vielleicht findet er sein Rückgrat und Fenner ein Maß für Angemessenes. Anzeichen, dass beide fündig werden, gab es zuletzt. Aber wenn es jetzt tatsächlich besser wird, wenn den vergangenen 6 Monaten ohne Katastrophe tatsächlich 24 weitere folgen, dann wird das ausschließlich daran liegen, dass die beiden Herren von sich aus gemerkt haben, dass es so nicht weitergeht.

Der Bundeskongress hat daran keinen Anteil, er hat nicht hinterfragt und keine Antworten verlangt. Als an Gestaltung interessiertes Organ, erst recht als Korrektiv und Wegweiser ist die höchste deutsche Schachversammlung ein Totalausfall.

Alternativen hat sie nicht präsentiert. Die Delegierten hatten Monate der Vorbereitung, Monate, in denen niemand einen Plan entwickelt hat, wie sich die Unzufriedenheit mit den bestehenden Verhältnissen konstruktiv kanalisieren lässt. Nun fiel den Delegierten nichts anderes ein, als Anhängsel abzuwatschen und die Präsidentengeschäftsführereinheit geschwächt im Amt zu belassen.

Immerhin: Als sich abzeichnete, dass die allseits als Finanzchefin gewünschte Gulsana Barpiyeva nur antreten würde, wenn Olga Birkholz mit im Boot ist, gelang es, diese Konstellation kurzfristig möglich zu machen.

Vielleicht ergibt sich der Glücksfall, dass aus der Plan- und Ideenlosigkeit des Kongresses eine fruchtbare Konstellation erwächst. Die Alternative wäre, dass es die Führungsriege zerreißt.

Unser neues Präsidium sieht so aus:

  • Ullrich Krause (Präsident)
  • Ralph Alt (Vizepräsident Sport, stellv. Präsident)
  • Gulsana Barpiyeva (Finanzen)
  • Olga Birkholz (Verbandsentwicklung)

Am 9. Oktober wird der Kongress wieder aufgenommen. Eine erste Einordnung von Holger Hank alias @seitenschach:


Eine Kongress-Chronologie in Tweets:

https://twitter.com/Meyer_Dunker/status/1403621947972403200
Dieser Herr wird eine komische Fußnote in der Geschichte des organisierten Schachs bleiben – und ein Lehrstück in Sachen Professionalität versus Ehrenamt. Mutmaßlich hat er Geld für seinen Auftritt bekommen. Sich vorab damit auseinanderzusetzen, wie die Mitglieder des Präsidiums und die Kandidat:innen heißen und um welche Ämter es geht, hielt er trotzdem nicht für nötig. Stattdessen versuchte er, die Fachleute von der Schachverwaltung über Ordnungsfragen zu belehren – und scheiterte grandios. Niemand kennt seine Paragrafen besser als unsere Schachverwalter! Allerdings gelten bei der Bewertung seines pseudoautoritären Auftritts mildernde Umstände: Jemand hatte ihn darauf eingestellt, eine blutige Feldschlacht verhindern zu müssen. Dass sich alle Beteiligten vorab darauf geeinigt hatten, weder die Debatte über die Sonderprüfung Leistungssport noch über die neuesten Kassenprobleme bei der DSJ noch über die DSB-Kassenprüfung eskalieren zu lassen, hatte ihm niemand mitgeteilt.
Sorry, Paul, kein Demokratiedefizit. Wir haben noch einmal in der Verwaltung nachgefragt: Es bestand vorab Einigkeit von allen Seiten, die Sache so, wie sie war, einzustampfen und sie demnächst in einer einfacheren, transparenten Variante neu auf den Tisch zu bringen. Das war schon vor dem Kongress abgestimmt. Wahrscheinlich hat jemand vergessen, Berlin zu informieren.
https://twitter.com/Schwachbund/status/1403719056235040769
https://twitter.com/Krennwurzn/status/1403723510959144966
https://twitter.com/Schwachbund/status/1403734646353977347
https://twitter.com/leonidloew/status/1403742656002465804
https://twitter.com/Schwachbund/status/1403770528800849923
https://twitter.com/BruhnBoris/status/1403801615405043714

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[…] beim DSB-Kongress hat es sich einmal mehr offenbart: Wir brauchen in den Schachverwaltungen dringend einen […]

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[…] fast 13-stündigen DSB-Kongress am 12. Juni hatte Birkholz zunächst für das Präsidentinnenamt kandidiert. Sie unterlag knapp Ullrich Krause, […]

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[…] Vielleicht ein Glücksfall“Unfähig, Fragen zu stellen und Antworten einzufordern. Als an Gestaltung interessiertes Organ, erst recht als Korrektiv und Wegweiser ist die höchste deutsche Schachversammlung ein Totalausfall”: Wenn an dieser Stelle DSB-Kongresse als “erbärmlich” bezeichnet werden, dann hat das auch mit dem Kongress 2021 zu tun, der das Treiben von Marcus Fenner und Ullrich Krause lieber nicht zu sehr hinterfragen wollte und dem nichts Besseres einfiel, als ein neues Präsidium auszuwürfeln. Die am Bodensee gehegte Hoffnung, es sei “vielleicht ein Glücksfall” gewürfelt worden, hielt nicht lange. Die neu gewählte Finanzministerin, eine Hoffnungsträgerin, kam, sah – und ging sehr bald… Weiterlesen »

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[…] Vielleicht ein GlücksfallIm Juni 2021 gab es tatsächlich eine selbst in der Schachverwaltung spürbare Unzufriedenheit mit den herrschenden Verhältnissen. Der DSB-Kongress nutzte die Gelegenheit zu bestätigen, dass ihm Kraft, Personal und Plan fehlten, die nötig sind, um in einer Krise gezielt Weichen zu stellen. Stattdessen ließ er ein neues DSB-Präsidium auswürfeln. […]