Richtig sitzen, eine Wissenschaft

Vor dem Fischer-Spassky-Match 1972 traten Sitzmöbel in der Schachgeschichte kaum einmal in Erscheinung, spezielle Sitz-Präferenzen von Schachspielern waren nicht bekannt. Fotos von früher zeigen die alten Meister unseres Spiels in aller Regel auf einfachen hölzernen Stühlen. Wie sie saßen und worauf, hat die Steinitzs, Tarraschs und Laskers nicht weiter interessiert – was auch damit zu tun hat, dass nicht nur in der Schach-, sogar in der Weltgeschichte die Ergonomie des Sitzens lange kaum eine Rolle spielte.

Das änderte sich, als in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Büroarbeit aufkam – und damit die Notwendigkeit schonenden Sitzkomforts. Seit dem Fischer-Spassky-Match ranken sich immer wieder Anekdoten um die Stühle der Kontrahenten am Brett. Beim Kandidatenturnier in Jekaterinburg haben die Sitzmöbel sogar eine dominierende Rolle gespielt, zumindest optisch.

Derart überdimensioniert waren die für die acht Kandidaten bereitgestellten Lederstühle geraten, dass die Spieler sich darin fühlten wie in ihrer privaten Lounge auf der Bühne des Hyatt-Hotels. Der Größe nach glichen die grünen Wuchtbrummen eher einem Strandkorb als einem Sessel. Die Hauptpersonen versanken schier in der ledernen Pracht.

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Privatlounge auf der Bühne des Hyatt Jekaterinburg: Schachfreund Nepomniachtchi in seinem strandkorbgroßen Luxus-Sessel. | Foto: Lennat Ootes/FIDE

Sehr bald verweigerten die Schachfreunde Ding Liren und Alexander Grischuk das Sitzen auf den grünen Hochlehnern. Der Stuhl sei zu bequem, erklärte Grischuk. Der Zeitnotspezialist aus Moskau fürchtete, beim Fläzen auf den Polstern leide seine Wachsamkeit. Grischuk und Ding ließen sich einfache Bürostuhle bereitstellen, moderat gepolstert. Die anderen sechs Kandidaten beendeten die erste Turnierhälfte auf den grünen Drehsesseln.

Als jetzt nach einer einjährigen Pause einen Tag vor Wiederbeginn die Kandidaten den Spielsaal inspizierten, standen vor den Schachtischen die acht Sitzgelegenheiten in all ihrer grün-goldfarbenen Monstrosität wieder da. Grischuk forderte prompt seinen Bürostuhl zurück – und er blieb nicht allein. Bis auf Maxime Vachier-Lagrave wollte keiner der Akteure wieder seinen Popo auf dem grünen Polster niederlassen. Nur der Franzose gedenkt, das Turnier 2021 auf dem vom Ausrichter gestellten Drehsessel durchzuspielen.

Maxime Vachier-Lagrave benutzt ein Extrakissen, um seinen unteren Rücken anlehnen zu können. Der Franzose ist der einzige der acht Kandidaten, der das Turnier auf dem grünen Drehsessel beenden will. | Foto: Lennart Ootes/FIDE

Die anderen sieben Kandidaten haben jetzt ihren Stuhl gegen eine individuelle Alternative getauscht. Auf der Bühne im Hyatt sehen wir ein Potpourri verschiedenartiger Sitzmöbel, das der Ausstellung jedes Büroausstatters zur Ehre gereichen würde. „Alles an diesem Turnier ist absurd, deshalb fügen wir dieser Absurdität eine weitere Dimension hinzu: Jeder hat einen anderen Stuhl“, sagt Grischuk.

Anish Giri ist seine Zurückweisung gegenüber den Lederstühlen unangenehm. Darauf sitzen mag er nicht, gleichwohl gab er zu Protokoll: „Die Stühle sind wirklich sehr schön, sie verdienen mehr Liebe.“ Giri hofft, dass sich die Veranstalter von der großmeisterlichen Abneigung gegen ihre Stühle nicht verletzt fühlen.

Vielleicht hätten diese Veranstalter dem isländischen Beispiel von vor 50 Jahren folgen und den Spielern vorab die Wahl geben sollen. Oder sie hätten den Spielern die Option geben können, ein Modell ihrer Wahl mitzubringen – so wie 1978 auf den Philippinen, als Anatoli Karpow seinen WM-Titel gegen Viktor Kortschnoi verteidigte. 

Vor dem Match kündigte Kortschnoi an, er werde seinen eigenen Stuhl mitbringen, einen grünen Stoll Giroflex, einen der ersten Drehstühle aus Schweizer Produktion. Kortschnoi stimmte zu, dass auch Karpow seinen eigenen Stuhl mitbringen darf – wenn sich dieser nur von vorne nach hinten und nicht seitlich bewegen lässt.

Karpow war ebenso misstrauisch wie sechs Jahre zuvor Spasskys Sekundant Efim Geller, der Bobby Fischers Stuhl hatte untersuchen lassen. Bevor Schach gespielt wurde, verlangte Karpow, dass Kortschnois Stuhl inspiziert wird, damit sichergestellt ist, dass der Stuhl keine Anti-Karpow-Störsignale aussendet. Tatsächlich wurde Kortschnois Stuhl vor dem Match in ein örtliches Krankenhaus gebracht und geröntgt. Gefunden wurde nichts Verdächtiges.

Nach 14 Partien und unter anderem einer Auseinandersetzung um Kortschnois verspiegelte („blendende“, Karpow) Sonnenbrille entbrannte während der 14. Partie eine neuerliche Stuhl-Debatte. Kortschnoi reklamierte, Karpow drehe sich absichtlich exzessiv auf seinem Stuhl, um ihn, Kortschnoi, abzulenken. Schließlich untersagten die Schiedsrichter Karpow das Drehen, während gegenüber der Herausforderer grübelt.

Karpow und Kortschnoi, sitzend, nicht drehend.

Mit der Karpow-Ära endete für fast 20 Jahre die der Drehstühle beim Schach. Karpows Nachfolger Garry Kasparow zog es vor, seine WM-Matches auf starren stationären Stühlen zu bestreiten. Was nicht heißt, dass ihm egal war, worauf er sitzt.

Die Vorgeschichte des Matches gegen Karpow 1987 lässt eher das Gegenteil vermuten. Kasparow inspizierte fast 50 Stühle, darunter einer, der eher einem Thron glich. Aber den sortierte der Schachkönig aus, weil die Lehne nicht ausreichend geneigt war. Am Ende nahm Kasparow doch auf einem einfachen Modell Platz – und blieb Weltmeister.

Simpel sitzen: Kasparow und Karpow auf einfachen Stühlen.

So sehr Kasparow in den 80ern und 90ern schachlich seiner Zeit voraus war, in Sachen Stuhlpräferenz war der große Garry ein Auslaufmodell, das sehen wir in den 2000ern. Mit dem Fortschritt der Büromöbeltechnik wählten immer mehr zeitgenössische Spieler hochwertige Bürostühle als bevorzugtes Möbel für die sitzende Ausübung ihres Sports. Ein Beispiel: das WM-Match 2013 zwischen Viswanathan Anand und Magnus Carlsen. Beide Spieler saßen in „Aerons“ der US-Firma Herman Miller, einem Bürostuhl der Oberklasse.

Der Norweger ist wahrscheinlich der erste Weltmeister, der die Wissenschaft des richtigen Sitzens studiert hat. Carlsen erklärt, dass viele Schachspieler am Brett ihren Hals zu weit nach vorne strecken, was laut Studien im „Journal of Physical Therapy Science“ zu einem 30-prozentigen Verlust der Lungenkapazität führen kann.

Von Keith Overland, ehemaliger Präsident der American Chiropractic Association, hat Carlsen bei einem Besuch des olympischen Trainingszentrums in den USA gelernt, sich nicht zu weit nach vorn zu beugen. Eine Neigung von 30 Grad nach vorne erhöhe die Belastung des Nackens um fast 60 Pfund, sagt Overland: Rücken- und Nackenmuskulatur müssen unnötige Extraarbeit verrichten, die Folge sind Kopfschmerzen und ein mit Sauerstoff unterversorgtes Gehirn.

Carlsen und Anand auf ihren Herman-Miller-Bürostühlen der Luxusklasse.

Carlsen hat seine Sitztechnik optimiert, um die Muskeln zu schonen und das Gehirn mit Treibstoff zu füttern. Am Brett lehnt der Norweger seinen unteren Rücken gegen den Stuhl, was zu einer natürlichen Körperhaltung führt. Seine Knie sind am Brett leicht gespreizt, beide Füße fest auf dem Boden. Diese Position hat der Weltmeister als ideale ermittelt, um die geistige Spannung zu halten und keine unnötige Energie für Muskeltätigkeit zu verbrauchen.

Mit Carlsens Ansatz mag aus Schachspielersicht die Frage der idealen Haltung endgültig beantwortet sein. Offen ist, ob sich die Stuhltechnik noch weiter entwickelt. Mit dem Aufkommen des Bildschirmsports, ebenfalls im Sitzen ausgeübt, hat sich ein neues Stuhl-Genre entwickelt: der Gaming-Stuhl.

In Zeiten, in denen der Schachsport zunehmend vor dem Bildschirm ausgeübt wird, ist zu erwarten, dass diese neue Art des Stuhls sich auch beim Schach verbreitet. Im September 2020 hat das Unternehmen Secretlab aus Singapur, das sich auf eSport-Stühle spezialisiert hat, eine Partnerschaft mit chess.com bekannt gegeben, um Streamer mit Stühlen auszustatten, die erste Partnerschaft zwischen einem Schach- und einem Möbelunternehmen.

Die Zukunft? Ein skorpionartiger Hochrückenschwenkstuhl mit Lendenunterstützung und Stauraum in den Armlehnen.

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bitcoin_fan
bitcoin_fan
1 Jahr zuvor

Für den ambitionierten Schachspieler unterer Klassen bieten sich auch diese Sitzbälle an. Die führen auch zu einer ergonomisch guten Körperhaltung und sind auf Schachreisen auch einfacher zu transportieren.
lg

trackback

[…] Richtig sitzen, eine Wissenschaft […]

Gerhard Streich
Gerhard Streich
2 Jahre zuvor

Augen auf beim Hinsetzen! Ein schadhafter Stuhl kann lebensgefährlich sein. Auch für Schachspieler. Diese Erfahrung habe ich 2014 in Bayern gemacht. Dazu habe ich folgende Anekdote im Blog der Schachfreunde Hannover veröffentlicht: Was habe ich mit unserer Bundeskanzlerin gemeinsam? Einen Stuhlkracher in Bayern! Jawoll! Ihr habt davon gehört: Am vergangenen Samstag ist ein Stuhl unter dem Hintern von Angela Merkel zusammengebrochen. Es war in Bayreuth in der Pause nach dem 1. Akt von „Tristan und Isolde“.  Unter meinem Hintern brach vor einem Jahr der Stuhl während der Siegerehrung der Dt.SenMMdLV in Bergen zusammen. Es war wie bei Angela. Ich… Weiterlesen »