Die Sveshnikov-Überraschung

Zehn Stunden Maske tragen während einer Doppelrunde bei der Deutschen Meisterschaft? Kein Problem, findet Marius Deuer. “Hauptsache Schach spielen”, sagt der Zwölfjährige gemäß einem Bericht seiner Mutter auf der Homepage seines Vereins SC Weiße Dame Ulm. Dort freuen sich die Vereinskameraden über den neuesten Erfolg ihres hoffnungsvollsten Sprösslings: Bei der Meisterschaft in Willingen hat Marius den dritten Platz belegt – in der U16, obwohl er eigentlich noch in der U12 hätte spielen dürfen.

“Hauptsache Schach spielen”: Marius Deuer in Willingen am Brett. | Foto: Bernd Vökler

Weil pandemiebedingt keine internationalen U12-Meisterschaften anstehen, für die es sich zu qualifizieren gilt, entschied Marius, gleich zwei Altersklassen zu überspringen. Und warum auch nicht? Mit seiner DWZ von 2177 war er selbst in der U16 nominell im Mittelfeld angesiedelt.

Neben der Bronzemedaille brachte Marius 20 DWZ-Punkte aus Willingen mit ins heimische Aulendorf. Die deutsche Rangliste der bis zu Zwölfjährigen führt er jetzt an – vor dem gleichaltrigen Sreyas Payyappat aus Hannover, der in Willingen mit 6,5/7 die U12-Konkurrenz dominierte.

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Screenshot via Deutscher Schachbund

Auch Marius Deuer stammt aus Hannover. Dort hat er im Kindergarten Schach gelernt – und war vom Spiel fasziniert. Als Fünfjähriger besuchter er erstmals das Schachzentrum Bemerode, wo Trainer Michael May die Begeisterung des Ausnahmetalents fürs Spiel weckte. Nach dem Umzug der Familie nach Aulendorf hat sich Marius dem Ulmer Verein angeschlossen. “Ulm ist zwar nicht um die Ecke, aber dort spielen viele Kinder, das war Marius wichtig”, sagt seine Mutter Almut Steinbach. Mit Johannes Bathray hat Marius in Ulm einen Coach gefunden, dessen Handschrift jetzt auch in Willingen durchschien.

Georg Braun.

Was Marius von seinen etwa gleichaltrigen Schachfreunden wie Leonardo Costa oder Magnus Ermitsch unterscheidet, kann seine Mutter Almut Steinbach leicht beantworten: “Marius liebt Bücher, besonders Schachbücher.” Im Sommer hatte er mit einem Buch den Sveschnikov-Sizilianer studiert, den er nun in der U16 erstmals aufs Brett brachte, trefflich assistiert vom Württembergischen Meister und angehenden IM Georg Braun, der Marius durchs Turnier coachte.

Georg Braun war so freundlich, uns eine kommentierte Partie seines Schützlings aus Willingen zukommen zu lassen, der wir unter anderem entnehmen können, wie weit bei einer Deutschen U16-Meisterschaft die Eröffnungsvorbereitung reicht. Zum Herunterladen und komfortablen Nachspielen ist diese Partie ab sofort Bestandteil der BodenseeBase.

Simukov, Erik (2012) – Deuer, Marius (2209)
DEM U16 Willingen 2020, Sizilianisch (Sveschnikov)
Kommentar: Georg Braun

Eine seiner besten Leistungen im Turnier zeigte Marius in der dritten Runde gegen Erik Simukov. Für seinen Gegner hatten wir auch eine faustdicke Überraschung in der Eröffnung parat. Statt 1…e5 auf 1.e4 spielte Marius in dieser Partie (zum vermutlich ersten Mal) die Sveshnikov-Variante.

1. e4 c5 2. Nf3 Nc6 3. d4 cxd4 4. Nxd4 Nf6 5. Nc3 e5 6. Ndb5 d6 7. Nd5

Diese Variante ist seit dem letzten WM-Match zwischen Carlsen und Caruana gewissermaßen die moderne Hauptvariante. Natürlich haben wir diese vor dem Turnier und nochmals speziell vor der Partie besprochen.

7… Nxd5 8. exd5 Nb8

(8… Ne7 ist möglich und zweischneidiger.)

9. a4

(Früher wurde v.a. 9. c4 gespielt. Aber die modernen Engines lieben bekanntlich Doppelzüge mit den Randbauern.)

9… Be7 10. Be2 O-O 11. O-O f5

12. a5!?

Das ist zumindest sehr ungewöhnlich.

(Heutzutage spielt Weiß in der Regel früher oder später 12. Bd2 , um damit den Bauernzug a5 vorzubereiten. Es ist landläufige Meinung, dass Weiß hier nämlich auf …a6 den Springerrückzug nach a3 parat haben sollte. Wie die Partie zeigt, ist aber auch die weiße Partieanlage sehr plausibel.)

12… a6 13. Nc3 Nd7 14. Bd2

14… b5

Typisch für Marius, er wählt eine aktive Fortsetzung. Er möchte nicht zulassen, dass Weiß später mit Sa4-b6 am Damenflügel eine unangenehme Druckstellung einnimmt.

(14… e4 15. Na4 f4 führt zu einer unklaren Stellung, in der Schwarz am Königsflügel mit …f3 angreifen will. Diese Stellung, nur mit dem Springer auf c4 statt auf a4, war natürlich Teil der Vorbereitung.)

15. axb6 Qxb6 16. Na4 Qc7

Eine zweischneidige Stellung mit beiderseitigen Chancen, in der Marius zeigen kann, wie gut sein Stellungsgefühl ist. Weiß muss seine Bauernmehrheit am Damenflügel in Bewegung setzen, Schwarz möchte mit …e4 und/oder …f4 im Zentrum bzw. am Königsflügel spielen.

17. b4 e4 18. f4

18… exf3!

Auch das war natürlich noch vor der Partie wiederholt worden – Schwarz kann und soll sich immer auf diesen Bauerntausch einlassen, weil er so das Feld e5 für seine Leichtfiguren erhält.

19. Rxf3?!

(19. gxf3! mit unklarer Stellung geht nicht leicht über die Hand, aber hat viele Vorteile. Wenn Schwarz nicht gerade selbst …f4 spielt, kann Weiß mit f4 um das Feld e5 kämpfen. Außerdem kann sich Weiß mit Kh1 und Tg1 am Königsflügel aufstellen, und sein König macht dann einen recht sicheren Eindruck.)

19… Ne5

(19… Bf6 gefolgt von …Se5 wäre vielleicht etwas besser. Schwarz hat hier bereits spürbaren Vorteil.)

20. Rb3?!

(Die Engines schlagen hier 20. Rc3! vor, aber dieser Zug geht einem Menschen nicht leicht über die Hand. Der Turm blockiert seinen eigenen Bauern, der nach vorne maschieren will, und stellt sich freiwillig in …Lf6. Aber nach 20…Qd8 kann Weiß seinen Turm entweder weiter nach b3 ziehen oder mit Le3-d4 auf der langen Diagonale a1-h8 dagegenhalten.)

20… f4

(20… Bf6 kam auch in Frage.)

21. Kh1 Bf5

22. c4

(22. Bxf4! Ng6! (22… Bxc2 23. Qc1! unklar) 23. Rc3 Qd8 24. Be3 Bf6 25. Bd4 Rb8 Die Initiative von Schwarz ist tatsächlich so groß, dass er bereits klar besser steht.)

22… Be4!

Der Läufer steht hier ausgezeichnet, weil er gleichzeitig gegen g2 schießt und Druck auf den Bauern d5 macht, sodass Weiß nicht ohne Weiteres seinen Wunschzug c4-c5 spielen kann.

23. Rc1

(Weiß sollte hier 23. Bf3 spielen, aber das ist kein einfacher Zug. Schwarz kann sowohl mit Läufer als auch Springer auf f3 schlagen und hat aufgrund des schwachen weißen Königs die besseren Chancen.)

23… Rab8

(Mein Stockfish schlägt hier 23… Bh4! vor, womit der Läufer mal vorsorglich auf der e-Linie und auf der 7. Reihe aus dem Weg geht, sodass …Tae8 an Kraft gewinnt bzw. …Df7-h5 möglich wird.)

24. Nc3

(Nach wie vor war 24. Bf3! das geringste Übel für Weiß, wenngleich er nach 24…Nd3 25. Rxd3! Bxd3 26. c5 eine Qualität opfern musste. Hier kann aber in einer praktischen Partie zwischen zwei Menschen alles passieren.)

24… Bg6

(24… Bxg2+ 25. Kxg2 f3+ 26. Bxf3 Nxf3 27. Ne4! und Schwarz sollte wohl auf d2 nehmen, wonach sein Angriff an Kraft verliert. Ich bin mir sicher, dass Marius diese Variante gesehen hat und deswegen mit dem Läuferrückzug noch mehr Potenzial in der Stellung halten wollte. 27… Ne5? 28.Qh5! und wie aus dem Nichts kommt Weiß selbst mit Th3 zu Angriff am Königsflügel.)

(24… Bd3!? wäre auch möglich, aber es ist zumindest für einen Menschen nicht so klar, was Schwarz nach 25. Na4 Bxe2 26. Qxe2 erreicht hat. Bei genauer Betrachtung stellt sich aber heraus, dass Schwarz nach Zügen wie …Lg5 und …Tbe8 starke Drohungen entwickelt.)

25. Na2?

Dafür war keine Zeit mehr.

(25. c5! war unbedingt notwendig, auch wenn es verdammt schwierig war, einzuschätzen, dass Weiß nach 25…dxc5 26. bxc5 Rxb3 (26… f3!?) 27. d6! (27. Qxb3 Qxc5 28. d6+ Bf7! war sicher von Marius beabsichtigt, und Schwarz hat fürs erste zumindest mal einen Bauern mehr.) 27… Qxc5 28. dxe7 Rfb8 genug Spiel hat, z.B. mit 29. Nb5! Qd5! 30. Nc7! Qe4 31.Nxa6!! Ein Normalsterblicher kann diese Variante natürlich nicht
vorhersehen.)

25… Qd7!? 26. c5 Be4!

Nun kehrt der Läufer umso stärker zurück, da die schwarze Dame auf d7 jetzt umso leichter in den Angriff eingeschaltet werden kann.

27. Be1

(27. Nc3 Bxg2+ 28. Kxg2 f3+ und der schwarze Angriff bricht durch, z.B. 29. Kh1 fxe2 30. Qxe2 Rf3! 31. Rf1 Rxf1+ 32. Qxf1 dxc5 -+)

(27. c6 Qf5 und die Drohung …f3 entscheidet die Partie. Man beachte, dass auch der Bauer auf d5 hängt.)

27… dxc5 28. Nc3 Bxg2+ 29. Kxg2 f3+ 30. Kh1

(Hier hatte Marius sicher wenig Zeit auf der Uhr, sonst hätte er sich den Zug 30… Qh3! nebst Matt nicht nehmen lassen. Der Partiezug gewinnt die Partie aber auch mühelos.)

30… fxe2 31. Qxe2 c4 32. Rbb1 Nd3

Angesichts des schwarzen Oktopus-Springers ist klar, dass Weiß hier keine Chance mehr hat.

33. Rd1 Bd6 34. Ne4 Rbe8 35. Qg2 Nf4 36. Qc2 Qg4

Gegen die Drohung …Df3+ ist kein Kraut gewachsen. Laut Engine ist es tatsächlich auch schon Matt in 11.

0-1


Seit dem Carlsen-Caruana-WM-Match ist der Sveshnikov-Sizilianer schwer in Mode. Im April 2020 erschien dieses Sveshnikov-Repertoire, das einen Schwerpunkt darauf legt, anhand von Musterpartien und Schlüsselstellungen typische Ideen, Pläne und Konzepte aufzuzeigen.
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insorge64
insorge64
3 Jahre zuvor

Sehr geehrter Herr Schormann, es ist schön, dass sie ab und an über unseren Nachwuchs berichten. Verwunderlich ist allerdings, dass sie – der Meister der Recherche – in Ihrem Artikel den mehr oder weniger zufällig anwesenden Verbandsbetreuer Georg Braun so sehr in den Vordergrund stellen. Demgegenüber lassen sie die beiden Trainer, die über lange Zeit die ausschlaggebende Trainingsarbeit mit Marius geleistet haben, einfach im Verborgenen! Ein journalistisches Missgeschick oder eine Bodensee-Klüngelei? Da ich selbst durch ähnliche Vorkommnisse schon allerlei Unbill erlitten habe, erlaube mir hier den Verweis auf meine beiden verantwortlichen Trainerkollegen: Wolfgang Pajeken ist schon seit über zwei Jahren der… Weiterlesen »

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