Vladimir Kramnik – eine Karriere (I)

In aller Regel ziehen sich die Allerbesten auch im Herbst ihrer Karriere nicht vom Schach zurück, dafür lieben sie das Spiel und den Wettkampf zu sehr. Große Schachkarrieren klingen aus, sie enden nicht abrupt. Ausnahmen wie Fischer oder Morphy bestätigen die Regel.

Am 10. März 2005 löste der frühe Rücktritt Garry Kasparows eine Schockwelle aus. Seitdem sind kaum 14 Jahre vergangen, und zum zweiten Mal hat einer der Allerbesten von heute auf morgen dem Schach den Rücken gekehrt, obwohl er noch längst nicht zum alten Eisen zählt.

Das Band, das Kramnik und Kasparow verbindet

Nicht nur die Art und Weise ihres Rückzugs vom Schach verbindet Vladimir Kramnik und Garry Kasparow. Über zwei Jahrzehnte haben diese beiden dominierenden Figuren des Schachs einander in Rivalität und Kollegialität begleitet und angespornt. Und beide haben ihre Karriere auf dieselbe Weise beendet: mit einem Patzer.

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Topalov Veselin (2782) – Kasparov Garry (2812)
Linares (Spain) (14), 10.03.2005

Topalov Veselin (BUL) - Kasparov Garry (RUS).jpg

Kasparows letzte Turnierpartie: Schwarz hat Kompensation für den Minusbauern. Vielleicht wollte Kasparow einfach nur, dass es vorbei ist? Vielleicht hielt er das Bauernendspiel für remis? So oder so, per 21…Dxf1?, 22…Txf1 und 23…Sxd4 begab sich Kasparow in eine verlorene Stellung, gab wenige Züge später auf und verkündete dann seinen Rücktritt vom Schach.

Kramniks letzte Partie dokumentiert das Band zwischen K&K, sie endete ähnlich.

Vladimir Kramnik (2777) – Samuel Shankland (2725)
Tata Steel Masters Wijk aan Zee NED (13.7), 27.01.2019

Vladimir Kramnik - Samuel Shankland.jpg

 50.La2? [50.Lxa6 Txa6 51.Txb2 ist einfach remis.]

Ob Kramnik tatsächlich gewinnen wollte? Anstatt per 50.Lxa6 sofort remis zu machen, hielt Kramnik seinen Läufer und die gegnerischen Freibauern auf dem Brett. Nur sind Letztere stärker. Wahrscheinlich bleibt die Stellung innerhalb der Remisbreite, aber gewinnen kann nur Schwarz. Und das tat der Schwarze gegen die unpräzise Verteidigung des Exweltmeisters. Nach dieser Partie erklärte Vladimir Kramnik seinen Rücktritt.

“Jeder WM-Kampf kostet drei Jahre Lebenszeit”

„Mit Kasparow teile ich die Emotionalität“, erzählte Kramnik vor einiger Zeit der russischen Website „ChessPro“ und führte aus, dass sein Schach und das seines Vorgängers enorm energieintensiv sei. Anders als zum Beispiel das von Viswanathan Anand, der eher in sich ruhe und besser regenerieren könnte.

Schon bei diesem Interview anlässlich seines 40. Geburtstags führte er aus, dass er einen Rücktritt in naher Zukunft zumindest nicht ausschließt, eben weil professionelles Schach eine derart zehrende Tätigkeit sei: „Boris Spassky hat gesagt, dass jeder WM-Kampf drei Jahre Lebenszeit kostet. Ich habe vier gespielt, also bin ich schon 52!“

Wie sehr Kramniks Rücktritt das an Weltklassegroßmeistern wahrlich nicht arme russische Schach durchschüttelte, zeigt die Reaktion von Andrej Filatow, dem zweitmächtigsten Mann des russischen Schachs. Der Kapitän der russischen Nationalmannschaft weigerte sich zu glauben, dass ihm „Big Vlad“ nun nicht mehr zur Verfügung steht. Öffentlich gab Filatow zu Protokoll, dass er hofft, Kramnik im Superfinale der Russischen Meisterschaft und auch bei der Schacholympiade 2020 in Russland am Brett zu sehen.

filatowkramnik.png

Beides wird nicht passieren. Kramnik sagte, er wolle dem Schach als Förderer speziell der Jugend erhalten bleiben, vielleicht gelegentlich ein Simultan geben oder Schnellschach spielen, aber mit ernsthaftem Wettkampfschach sei nun Schluss. Mit 43 fehle ihm die Energie, um konstant das allerhöchste Level abzurufen.

Ein Anruf bei Mikhail Botwinnik

botvinik.jpg
Botwinniks Weltmeistergarde: Dieses Bild entstand etwa zu der Zeit, als Vladimir Kramnik in der Meisterschmiede von Mikhail Botwinik aufgenommen wurde. Boris Spassky (vorne) präsentiert (v.l.) Anatoli Karpow (von dessen Schach Botwinik anfangs wenig hielt), Garry Kasparow, Mikhail Bowinik und Mikhail Tal, schon gezeichnet von Krankheit und unstetem Lebenswandel.

1986 war der Elfjährige aus der 60.000-Einwohner-Stadt Tuapse voller Energie – und galt am Ufer des Schwarzen Meeres schon als einer der besten Spieler der Region, als ihn der Ruf der Botwinnik-Schachschule ereilte. Dort begann er, Schach ernsthaft zu studieren, angeleitet vom Altmeister und dessen Kompagnon Garry Kasparow, der als junger Weltmeister die Botwinnik-Schule prägte – und speziell Kramnik förderte.

Seine Aufnahme in diese Schule verdankte Kramnik einem Freund der Familie, der bei der Post arbeitete. Dieser Mann besorgte sich die Telefonnummer Botwinniks, rief an und berichtete vom Meisterkandidaten im Kindesalter. Botwinik ließ sich einige Partien Kramniks schicken, und ihm gefiel, was er sah – keine Selbstverständlichkeit. Vom jungen Anatoli Karpow zum Beispiel, Kramniks erstem schachlichen Vorbild, war Botwinnik seinerzeit alles andere als beeindruckt gewesen. Wer weiß, wie Kramniks Karriere verlaufen wäre, hätte es nicht diesen Anruf bei Botwinnik gegeben?

kramnik ruchess.png
Training mit dem Altmeister: Der junge Vladimir Kramnik steht am Demobrett, Mikhail Botwinik sitzt in der ersten Reihe. (Foto: Ruchess)

Die Arbeit mit Kasparow und Botwinnik fruchtete. Schon bei seinem ersten nennenswerten internationalen Turnier, der Jugendweltmeisterschaft 1989, machte Kramnik auf sich aufmerksam. Für den Sieg reichte es allerdings nicht. Als Zweiter musste Kramnik einem jungen Bulgaren namens Veselin Topalow den Vortritt lassen, Auftakt einer langen und zeitweise bitterbösen Rivalität zwischen diesen beiden, die im WM-Match 2006 kulminierte.

Teil II:


Carsten Hensel hat die Karriere Vladimir Kramniks jahrelang als Manager begleitet. Seine Erinnerungen an diese Zeit hat Hensel jetzt in Buchform veröffentlicht.
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