WM-Kandidaten-Endspurt: Sechs Supergroßmeister rangeln um zwei Plätze

Der vorletzte Akt des Kandidaten-Endspurts läuft in diesen Tagen am spanischen Mittelmeer und dem Golf von Bengalen. Während beim Open in Sitges der kurzfristig ins Turnier gesprungene US-kubanische Großmeister Leinier Dominguez um Qualifikationspunkte kämpft, sind beim Superturnier in Chennai gleich drei der sechs potenziellen WM-Kandidaten am Start. Sie alle kämpfen um die letzten beiden Plätze im Kandidatenturnier 2024. Wollen die vier Spieler in Indien und Spanien noch WM-Kandidat werden, müssen sie jetzt die derzeit führenden Anish Giri und Wesley So überholen. Am 31. Dezember wird abgerechnet.

Das Feld des “Chennai Grand Masters 2023”, das Gukesh oder Arjun Erigiaisi noch den Sprung ins Kandidatenturnier ermöglichen soll. Davor Leinier Dominguez, der in Spanien um den Rating-Platz kämpft. | via ChessBase India/FIDE.

Die Besetzung des auf dieser Seite exklusiv angekündigten “Chennai Grandmasters 2023” vom 15. bis 21. Dezember hat sich kurzfristig ein wenig geändert. Die ursprünglich vorgesehenen Dominguez sowie Nikita Vitiugov spielen nicht, stattdessen Pentala Harkrishna und Alexander Predke. Die Klasse des Wettbewerbs mindert das kaum. Nach Angaben von ChessBase India handelt es sich um das stärkste klassische Rundenturnier auf indischem Boden jemals, Elo-Schnitt 2711.  

Mit einem vergleichsweise bescheidenen Preisfonds von 60.000 Dollar so eine Besetzung anzulocken, funktioniert nur, wenn für die Spieler mehr als Preisgeld und Elopunkte zu gewinnen sind. Schon während des World Cups hatten Anish Giri und der spätere Organisator, ChessBase-India-Chef Sagar Shah, spekuliert, dass am Ende des Kandidatenrennens ein kurzfristiges Superturnier für die Kandidaten-Kandidaten einem Angebot gleiche, das sie nicht ablehnen können. 

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Das Turnier, offiziell angekündigt an Viswanathan Anands 54. Geburtstag am 11. Dezember, dient dem Zweck, nach Praggnanandhaa, Vidit und Vaishali einem weiteren Inder den Weg ins Kandidatenturnier zu ebnen, zu eben diesem Zweck mitorganisiert und –finanziert von der Bezirksregierung in Tamil Nadu. Das fügt sich in die außergewöhnliche Unterstützung, die die indischen Hoffnungsträger des Denksports in der jüngeren Vergangenheit erfahren haben.  

Neben diversen Sponsorenverträgen hat zuletzt der indische Verband AICF seinen drei WM-Kandidat:innen einen Zuschuss von insgesamt 240.000 Dollar für Vorbereitung, Training und Reisekosten vor dem Kandidat:innenturnier ausgezahlt. Jetzt bekommen Gukesh und Arjun Erigaisi ein Turnier serviert, das ihnen die Chance eröffnen soll, noch auf den Kandidatenzug zu springen.  

Beim London Chess Classic verpasste Gukesh den Sprung an die Spitze der “FIDE Circuit”. Jetzt in Chennai bekommt er eine weitere Chance. Im Video: Gukeshs Londoner Letztrundenpartie gegen Hans Niemann, die er gewinnen musste.

Gukeshs erster Sprung jetzt in London war zu kurz. Hätte er das London Chess Classic gewonnen, er hätte in der FIDE-Turnierwertung (“FIDE Circuit”) vor Anish Giri auf dem für die Kandidaten-Qualifikation erforderlichen ersten Platz gelegen (und womöglich auf eine Teilnahme in Chennai verzichtet). Nun nimmt er beim Chennai Grand Masters 2023 einen erneuten Anlauf. Ihm würde in den meisten Szenarien ein geteilter Turniersieg reichen, um Giri zu überholen. 

Arjun Erigaisi steht im Leela Palace Hotel in Chennai unter Zugzwang: Ein geteilter Sieg würde ihm nicht reichen. Gewinnt er das Turnier alleine, steht er im FIDE-Circuit ganz knapp vorne. Qualifiziert wäre er damit immer noch nicht. Die Rapid- und Blitz-WM Ende Dezember wird das letzte Turnier sein, bei dem Circuit-Punkte zu gewinnen sind, für alle Beteiligten die letzte Chance, die Kandidaten-Hackordnung neu zu sortieren. Erigaisis Fehlstart, Niederlage gegen seinen Landsmann Harikrishna, schmälert seine Chancen erheblich.

Im Viernheimer Schach-TV verkündet Parham Maghsoodloo, dass er um seine Chance kämpfen will.

Dritter Kandidaten-Kandidat im indischen Feld ist Parham Maghsoodloo. Der Iraner, der sich zuletzt auf über 2740 Elo katapultiert hat, setzt allein auf die kleine Chance, sich noch per Rating zu qualifizieren. Der 23-Jährige müsste in Indien mit 5,5/7 triumphieren, um den Schachfreunden, So oder Dominguez dazwischenzufunken. Seine Auftaktniederlage gegen Pavel Eljanov hat dieses ohnehin unwahrscheinlich Ereignis noch unwahrscheinlicher gemacht.  

Während Gukesh, Erigaisi und Maghsoodloo in Indien kämpfen, hat sich Leinier Dominguez zum Traditionsopen in Sitges (nahe Barcelona) angemeldet. Wie für Maghsoodloo geht es für ihn allein um den Rating-Sport, aber seine Ausgangsposition ist ungleich besser. Er liegt nach Elo nur knapp hinter Wesley So, muss jetzt aber etwas tun, das er lange nicht mehr getan hat: sich in einem Open mit “normalen” Turnierschachspielern messen, darunter ebenso junge wie unbewertete Inder.  

Unter diesen Bedingungen als 2750er Elo zu gewinnen – extrem schwierig. Chess.com hat jetzt spekuliert, Dominguez könne den zehnrundigen Wettbewerb vorzeitig abbrechen, sollte es ihm in dessen Verlauf gelingen, Wesley So zu überholen. Nach drei Runden sieht es danach nicht aus. Ein Remis gegen einen 17-jährigen FM aus den USA hat Dominguez 4 Elo gekostet. Seine beiden gegen unterklassige Konkurrenz kompensieren das bei weitem nicht. 

Beim Sinquefield-Cup wurde die Kandidaten-Qualifikation per Rating für Leinier Dominguez plötzlich greifbar. Aber ihm fehlt ein Turnier. Das spielt er jetzt in Sitges – und tut sich schwer. | via 2700chess.com
“Wenn ich Giri-Partien analysiere, schläft die Katze ein” – Wesley So, auf X plötzlich zum Leben erwacht.

Anish Giri und Wesley So als Führende in beiden Wertungen beschränken sich in diesen Tagen auf die Zuschauerrolle, nehmen diese aber aktiv wahr. Auf X/Twitter vergeht kein Tag, an dem sich die beiden Supergroßmeister nicht zum Stand des Kandidatenrennens äußern, häufig in Verbindung mit gegenseitigen Neckereien. Anish Giri fürchtet sogar, der in den Sozialen Medien plötzlich zum Leben erwachte Wesley So wolle ihm seine Dominanz auf diesem Feld streitig machen. 

Die andere Seite des Katzenbildposters Wesley So.

Theoretisch könnten noch mehr als die sechs jetzt involvierten Großmeister um den Platz im Kandidatenturnier kämpfen. Anfang Dezember gewann plötzlich Wei Yi in der chinesischen Liga eine Partie nach der anderen, und es kam das Gerücht auf, es handele sich um einen ähnlichen Endspurt wie den, der vor zwei Jahren Ding Liren den Kandidaten-Spot sicherte. Aber es waren nur regulär angesetzte Partien in der chinesischen Liga. Wei Yi wird im Dezember 2023 kein weiteres Turnier bestreiten und damit 2024 kein WM-Kandidat sein. Am Brett wird er Anfang 2024 in Wijk an Zee das nächste Mal klassische Partien spielen. 

Vincent Keymer war nach Elo gleichauf mit Parham Maghsoodloo, insofern in der gleichen Ausgangsposition, hat sie aber anders bewertet. Wie auf dem YouTube-Kanal dieser Seite am 5. Dezember exklusiv gemeldet, verzichtet er darauf, noch ein Turnier zu spielen, um die etwa 14 Elopunkte zu sammeln, die ihn vom Kandidatenturnier trennen. Keymer wird sein Schachjahr 2023 bei der Rapid- und Blitz-WM von 26. bis 30. Dezember in Usbekistan beschließen. Im offenen Feld wird er der einzige deutsche Teilnehmer sein. Bei den Frauen spielt Dinara Wagner.

Kandidaten-Rennen in London und Kandidaten-News aus Saulheim: Als (so gut wie) feststand, Vincent Keymer wird es nicht versuchen.
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Thomas Richter
Thomas Richter
4 Monate zuvor

Wenn man sich das Interview anhört: Giri hat offensichtlich einen sehr guten Draht zu Sagar Shah und machte offensichtlich einen Scherz. Das hat er nun davon, immerhin eine Rolle im Turnier als Gastkommentator (aus den Niederlanden zugeschaltet). “Mit einem vergleichsweise bescheidenen Preisfonds von 60.000 Dollar so eine Besetzung anzulocken, funktioniert nur, wenn für die Spieler mehr als Preisgeld und Elopunkte zu gewinnen sind.” Ich vermute stark, dass auch Antrittsgelder fließen – Fakt und Beträge werden da nie erwähnt. Jedenfalls für die “fünf anderen Spieler” – zumindest Aronian ist fünfstellige Beträge gewöhnt, das bekommt er sonst nur wenn er unter den… Weiterlesen »

Thomas Richter
Thomas Richter
4 Monate zuvor

Zu Elochancen von Dominguez bei Sunway Sitges: Letztes Jahr hatte der Turniersieger Alekseenko 8,5/10, TPR 2837 (die drei Remisen dabei in den drei letzten Runden). Der Zweite Niemann hatte 8/10, TPR 2764, der Dritte Tabatabaei hatte nach kampfloser Niederlage in Runde 1 (offenbar verspätete Anreise wie nun GM Moussard) 8/9, TPR 2761 (ab Runde 2 zunächst recht schwache Gegner). Ich habe nachrechnen lassen: dieselben Ergebnisse gegen denselben Eloschnitt wie 2022 für Niemann und Tabatabaei würden für Dominguez Kandidatenturnier bedeuten. Natürlich kann es auch nicht klappen, und nicht nur “un(ter)bewertete Inder” können da eine Rolle spielen. Dominguez’ etwas glückliches Remis war… Weiterlesen »

Kai Henne
Kai Henne
4 Monate zuvor

Danke für den informativen Artikel. Ich war selber nicht mehr in der Lage, mir diesen Überblick zu verschaffen. Vincent macht es meiner Ansicht nach genau richtig. Er wird sich stetig weiter verbessern um in zwei Jahren als noch kompletterer Spieler, mit realistischen Siegchancen, am Kandidatenturnier teilzunehmen.

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[…] dazu gekommen, niemand hätte einen Anlass gehabt, Schiebung zu wittern – genau wie jetzt beim „Chennai Grand Masters“, wo niemand etwas zu verschenken […]