Schiebung? Das WM-Kandidaten-Chaos

Ist das Schmu oder regulärer Wettbewerb? Die in Frankreich kurzfristig angesetzte Serie von Mini-Matches, die Alireza Firouzja ins Kandidatenturnier befördern soll, hat eine erhitzte Debatte ausgelöst. „Schmutzig“ („Filthy and dirty“) findet der potenziell Leidtragende Wesley So das französische Konstrukt. Die FIDE verweist darauf, dass sie per Reglement das Recht hat, einen Wettbewerb nicht zu werten.

Formal sieht Firouzjas Matchserie an der Rue des Acacias in Chartres wie ein regulär bei der FIDE zur Auswertung angemeldeter Wettbewerb aus. Wer genau hinschaut, sieht allerdings einen zwielichtig erscheinenden Clou, auf den diese Seite schon gestern hingewiesen hat: Offiziell ist (bis heute) ein Sechs-Partien-Match angekündigt, bei der FIDE angemeldet am 4. Dezember, zu spielen vom 18. bis 22. Dezember. Aber das ist nicht die ganze Geschichte.

Französisch! Das wird Alireza Firouzja in der ersten, nach 33 Zügen gewonnenen Partie des Mini-Matches gegen Alexandre Dgebuadze gerne gesehen haben. | via Chartres TV

Was, wenn sechs Partien nicht reichen, um Wesley So zu überholen? Tatsächlich ist schon vorbereitet, Firouzja am 23. Dezember zwei weitere Partien zu ermöglichen. Als eintägiges Turnier mit 50 Teilnehmern war dieses „Match Noel 2023 Chartres 4“ am 23. Dezember unter der Aufsicht von Schiedsrichter Sebastien Sobry nachträglich in der FIDE-Turnierliste gelandet, angemeldet am 11. Dezember. In der Nacht auf dem 19. Dezember änderte sich der Eintrag. Jetzt ist es offiziell als Zwei-Spieler-Wettbewerb ausgezeichnet: Alireza Firouzja und Sergey Fedorchuk, die nach dem ersten ein zweites Zwei-Partien-Match spielen können/sollen/werden.

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Vorausgegangen war dieser Änderung ein „TV-Leak“. Das französische Lokalfernsehen, das über das Match berichtet, kündigt den bei Europe Echecs bis heute nicht vermerkten Spieltag 23. Dezember auf seiner Website an. Bei der FIDE fiel das spät auf. In der ersten Stellungnahme sprach der Weltverband von einem „Sechs-Partien-Match“, änderte das wenig später stillschweigend in „Sieben-…“. In der Nacht auf den 19. Dezember muss jemandem aufgefallen sein, dass auch das nicht stimmt. Jetzt erst heißt es bei der FIDE „Acht-Partien-Match“.

Ja, was denn nun? Auf der französischen Schachseite Europe Echecs heißt es 18. bis 22., beim Lokalfernsehen 18. bis 23. Dezember. | via Europe Echecs, Chartres TV

FIDE-Generaldirektor Emil Sutovsky gab den Ordnungshüter. Nicht wegschauen werde die FIDE, sondern schnell und verantwortlich handeln. Die Frage, auf welcher Basis der Verband im Angesicht eines regulär angemeldeten Wettbewerbs „handeln“ will, ist unbeantwortet. Wahrscheinlich gibt es darauf keine gute Antwort. Der jetzt angeführte Passus „Behält sich vor, Turniere auszuwerten“ im FIDE-Reglement riecht viel mehr nach Beliebig- denn nach Verantwortlichkeit. Kriterien, worum es sich bei “spezifischen Turnieren” handelt, denen die FIDE die Auswertung verweigert, sind nicht ersichtlich.

Die FIDE behält sich das Recht vor, “spezifische Turniere” nicht auszuwerten.

Woran soll sich die Qualification Commission halten, wenn sie jetzt diesen Fall zur Entscheidung vorgelegt bekommt? Schon die erste kurzfristige Änderung des Reglements für den WM-Zyklus und die damit verbundene Kommunikation (“Clarification”, siehe dieser Beitrag) waren peinlich. Egal, wie es jetzt weitergeht, die nächste Peinlichkeit ist schon passiert, die WM-Kandidaten-Kür ein Durcheinander.

Tatsächlich hat der Weltverband mit seinem neuen Kandidaten-Modus genau das provoziert, was jetzt in Frankreich geschieht: Last-Minute-Matches der Kandidaten-Kandidaten gegen handverlesene Gegner. Diese Gegner spielen vor großem Publikum in dem Bewusstsein, dass Niederlagen erwünscht sind, damit es der heimische Star ins Kandidatenturnier schafft.

Die Idee mag eine gute gewesen sein: den Kandidaten-Kampf bis zuletzt aufregend halten, die Kandidaten-Kandidaten bis zuletzt an die Bretter bringen. Aber es fehlt ein Passus, der verhindert, dass sportlich wertlose und für Schiebung anfällige Wettbewerbe wie der in Chartres zum entscheidenden Teil des Weltmeisterschaftszyklus‘ werden. Wer immer bei der FIDE den Modus des aktuellen WM-Zyklus abgesegnet hat, der hat das nun eingetretene, kaum überraschende Szenario nicht vorhergesehen.  

https://twitter.com/GMWesleySo123/status/1736757751752093941
Diminguez in Sitges, das war aufregend und regulär. Wenn die Gegner handverlesen und 52 Jahre alt sind und ihnen zudem der Bürgermeister über die Schulter schaut, ist das nicht regulär, findet Wesley So.

Alireza Firouzja und seinem Gönner François Gilles lässt sich vorwerfen, dass ihnen ein Gefühl für Anstand fehlt. Als vor gut zwei Wochen in Saulheim das Angebot aufschlug, dem Kandidaten-Kandidaten Vincent Keymer kurzfristig einen Wettbewerb zu organisieren, ging es nie darum, ihm Fallobst vorzusetzen, von dem er möglichst leicht 15 Elo melken kann. Für eventuelle Matches kursierten Namen wie Maghsoodloo, Giri, MVL, Duda. Wäre es dazu gekommen, niemand hätte einen Anlass gehabt, Schiebung zu wittern – genau wie jetzt beim „Chennai Grand Masters“, wo kein Teilnehmer etwas zu verschenken hat.

Andererseits machen Alireza Firouzja und Francois Gilles nichts Verbotenes. Es ließe sich sogar argumentieren, dass Firouzja nichts anderes macht als seinen Job, den eines Spitzensportlers, der um seine WM-Chance kämpft. Der französische Großmeister Laurent Fressinet spricht darum auf Twitter von „schändlichen Unterstellungen des FIDE-CEO“, der den Spielern den Schwarzen Peter zuschieben wolle, anstatt sich an die eigene Nase zu fassen. Nicht in der Kathedralenstadt Chartres südwestlich von Paris ist die Ursache für das jetzt aufgetretene Problem zu finden, sondern im FIDE-Hauptquartier in Lausanne.

https://twitter.com/DSK1425/status/1736812588112261391

Theoretisch könnte Wesley So keine zwei Wochen vor der Eloabrechnung das Firouzja-Match mit einem Gegenmatch kontern. Der Düsseldorfer SK hat seinem Mitglied So und den anderen Kandidaten-Kandidaten aus seinem Kader (Gukesh, Erigaisi, Dominguez) angeboten, kurzfristig einen Wettbewerb zu organisieren. Aber nach Informationen dieser Seite hat Wesley So schon gestern abgewunken – logisch: Der Weltranglistensechste wäre schlecht beraten, als „schmutzig“ anzuprangern, was Firouzja macht, und dann dasselbe Spiel zu spielen.

Auch abseits der Düsseldorfer Kandidaten-Offerte mangelt es nicht an Match-Angeboten, die allerdings nicht ganz ernst gemeint sein dürften. Twitter-Scherzkeks Jan Gustafsson etwa hat den Kandidaten-Kandidaten schon mitgeteilt, er stehe ab sofort für Matches zur Verfügung, habe Elo 2618, sei alt und schwach. Wer die Sozialen Medien durchsucht, findet weitere solcher Angebote, etwa eines von Georg Meier, der betont, er spiele Französisch (wie Alexandre Dgebuadze in der erste Partie gegen Firouzja).

Wesley So wird keines dieser Angebote annehmen. In der Erwartung, dass ihn Firouzja aus dem WM-Zyklus kegelt, hat er stattdessen Maxime Vachier-Lagrave nach Minnesota zum Schachgucken eingeladen: „Lass uns zusammen das Kandidatenturnier verfolgen wie zwei alte Männer, die ihre beste Zeit hinter sich haben.“

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Ralf Spitzley
Ralf Spitzley
4 Monate zuvor

Echt Spitzenklasse, was Du an Arbeit, Zeit und Liebe in deine Recherchen steckst!

joschi
joschi
4 Monate zuvor

Um ehrlich zu sein, für mich hat jedes Turnier, das eigens für das Qualifizieren aus dem Boden gestampft wird, einen fahlen Beigeschmack. Es war schon bei Ding grenzwertig. Kritik gab es damals eigenartigerweise kaum. Auch damals war die Aufgabe seiner Gegner nichts als zu verlieren. – Wie kann es sein, dass irgendwer irgendein Turnier spontan aus dem Boden stampft und das zählt dann zu den Kriterien, um am Kandidatenturnier teilzunehmen? Wie kann ein Veranstalter dafür die Turnierteilnehmer individuell aussuchen?

Die FIDE ist derartig überfordert, das ist schon nicht mehr feierlich.
Kein Management, kein Stil. Und Sutovsky eiert peinlich herum …

Last edited 4 Monate zuvor by joschi
Uwe Böhm
Uwe Böhm
4 Monate zuvor

Wenn man – wie die FIDE es getan hat – unsinnige Regeln aufstellt, dann muss man sich am Ende auch nicht wundern. Lächerlich wird es dann, wenn man Fehler dadurch beheben will, dass man Partien nicht auswerten will. Das ist dann pure Willkür. Prinzipiell kann jeder Turniere oder Wettkämpfe ausrichten. Brisanz bekommt das einzig durch die unsinnigen Regeln. Sonst würde kein Hahn danach krähen. Jeder der Veranstalter erwartet, dass sich bestimmte Spieler qualifizieren. Niemand erwartet, dass Spieler absichtlich verlieren. Ob man gegen stärkere oder schwächere GMs antritt, spielt eigentlich keine Rolle. Letztendlich müssen für eine Verbesserung der Elozahl immer die… Weiterlesen »

Bernd
Bernd
4 Monate zuvor

Er gewinnt 5 und hat die nötige Elo. Anstatt nicht mehr anzutreten, remisiert er die 6. Partie und fällt hinter So.
Finden denn die zwei Reservepartien, die für diesen Fall eigentlich angesetzt waren, nun nicht mehr statt?
Wie interpretieren wir das?

Dr. Franz Jürgen Schell
Dr. Franz Jürgen Schell
4 Monate zuvor

Das ist nach dem Weltmeistertitel, den der stärkste Spieler mal eben weiterschenkte und den absurden Windungen der Cheating-Debatte die dritte Thematik, die den sportlichen Wert von Titeln im Schach grundsätzlich in Frage stellt. Andererseits wecken solche Ereignisse mit ihren unterhaltsamen Aspekten großes öffentliches Interesse außerhalb der Fachwelt und haben so gesehen auch etwas gutes. Ebenfalls positiv: Das sollte ja nicht ja nicht nur im Spitzenschach funktionieren. Damit wird ein weiteres, möglicherweise besonders lukratives Geschäftsmodell entwickelt: Für Schachbegeisterte, deren ökonomisches ihr schachliches Leistungsvermögen weit übersteigt, werden so Titelträgerträume erreichbar. Aber bestimmt gibt es das schon. Denn nach meiner Erfahrung kann man… Weiterlesen »

trackback

[…] hältst du von Alireza Firouzjas kurzfristiger Serie von Mini-Matches gegen klar schlechtere […]

CoachJaxx
CoachJaxx
4 Monate zuvor

Die FIDE zieht zu Weihnachten Konsequenzen aus den kurzfristigen Anmeldungen zur ELO-Auswertung von sowohl Chartres als auch Chennai. Zu den bereist beschlossenen Änderungen für 2024 an den “ELO Rating Regulations” gesellt sich ab sofort generell eine Monatsfrist für die Turnieranmeldung, falls Spieler:innen aus der Weltspitze beteiligt sind. https://fide.com/news/2818

Der Rating Spot ist Wesley So somit sicher.

Matthias
Matthias
4 Monate zuvor

Jetzt hat Firouzja, der seinen Zenit irgendwie ohnehin schon überschritten zu haben scheint, wohl eingesehen, dass er sich damit keinen Gefallen tut, und die 6. Partie in eher schlechterer Stellung remis gegeben. Peinlich, peinlich.
Erinnert so ein wenig an die Turniere früher in Ungarn, wo Leute wie Du und ich mit einem IM Titel zurück kamen, um dann 2 Jahre später wieder bei ELO 2250 zu landen.

Agan
Agan
4 Monate zuvor

Spitzensportler, denen ihre persönlichen Sympathiewerte und das Image ihres Sports egal sind, gab es nach meiner Erinnerung bisher nur beim Profiboxen. Schach hat mit Hans Niemann und jetzt Firouzja gleich zwei Protagonisten, die auf den Spuren von Mike Tyson wandeln. Wobei man Tyson zugute halten kann, dass er eine gehörige Wut im Bauch hatte, als er seinem Gegner das Ohr abgebissen hat. Bei Niemann und Firouzja wirkt dagegen alles kühl kalkuliert.

Thomas Richter
Thomas Richter
4 Monate zuvor

Persönlich würde ich mir wünschen, dass ihr Verhalten Konsequenzen für Dominguez und Firouzja hat – wird aber wohl nicht passieren: die amerikanisch dominierte Grand Chess Tour wird Dominguez wohl nächstes Jahr einen Stammplatz geben (dann spielt er auch mal in z.B. Rumänien), Firouzja hat ohnehin Narrenfreiheit. Dominguez machte ja keinen Hehl daraus, dass er bei Sunway Sitges aufhörte, um seinen top10 Status und damit verbundene Einladungen nicht zu gefährden. Dagegen spielt z.B. Vorjahressieger Alekseenko in für ihn noch schlechterem Turnier tapfer weiter – vielleicht muss er, da er Konditionen bekommt, und nur wenn er das Turnier zu Ende spielt. Etwas… Weiterlesen »

Thomas Richter
Thomas Richter
4 Monate zuvor

Und das noch: in den Kommentaren auf chess.com gab es – neben viel Polemik vor allem von einem US-Amerikaner – auch den Kurzkommentar eines niederländischen Insiders, der sich “tinnderbox” nennt (ich weiß, wer sich dahinter verbirgt, sollte es aber wohl nicht ausplaudern): früher, viel früher gab es Interzonenturniere, war vielleicht keine schlechte Idee. Zunächst waren das Rundenturniere mit 18-24 Teilnehmern, damit wohl noch anstrengender als heutzutage das Kandidatenturniere – wobei sich jeweils mehrere für die nächste Phase, damals noch Kandidatenmatches, qualifizierten. 1990 und 1993 waren es Turniere nach Schweizer System. Spaßeshalber: Was, wenn das FIDE Grand Swiss den Status eines… Weiterlesen »

Thomas Richter
Thomas Richter
4 Monate zuvor

FIDE-Bashing ist einfach, üblich und populistisch – sie machten wohl nicht alles richtig, aber total daneben ist es aus meiner Sicht auch nicht. Susan Polgar schrieb, offenbar schon eine Weile her, auf Twitter “There should always be INDEPENDENT advisors to double check the language, and possible loopholes. “Language” bezieht sich hier darauf, dass “Circuit-Turniere auch im Ausland” als Voraussetzung auch für den Eloplatz im Kandidatenturnier nicht explizit im Regelwerk stand. Selbst der US-Schachverband sagte, dass es wohl “Sinn der Sache” war aber nicht so formuliert wurde. Man rechnete eben nicht damit, dass ein Spieler wie Dominguez, der nur sporadisch spielte… Weiterlesen »

Alex Dommnich
Alex Dommnich
4 Monate zuvor

Achte mal auf deine Wortwahl, was einem Journalisten nicht schwerfallen sollte. Menschen als „Fallobst“ zu bezeichnen ist nicht lustig, sondern diffamierend, weil der Ausdruck entmenschlichend ist: Ein Mensch ist keine Sache. Es ist nur noch ein kleiner Schritt zu klar faschistischen Ausdrücken wie „Parasiten“, „Ungeziefer“ oder „Ballastexistenzen“.