Wie es Ding Liren doch noch ins Kandidatenturnier schaffen will

Kein Ding? Von wegen. Zur Überraschung der meisten Beobachter hat der chinesische Großmeister Ding Liren jetzt einen Schachmarathon begonnen, der ihn doch noch ins Kandidatenturnier 2022 tragen soll. Ding, der nach Elo zwar fürs Kandidatenturnier qualifiziert wäre, dem aber bis Ende April 26 gewertete Partien fehlten, will bis zum 24. April sogar 28 Partien spielen. Hält er seine Elozahl oder steigert sie, wäre ihm damit der Elo-Nachrückerplatz im Kandidatenturnier sicher.

Der chinesische Schachverband hat seiner Nummer eins ein Turnierprogramm zurechtgeschneidert, das darauf abgestellt ist, dem 29-Jährigen die Möglichkeit zu geben, sich in letzter Minute das letzte Kandidaten-Ticket zu sichern. Um das erforderliche Pensum zu schaffen, spielt er zum Auftakt in Hangzhou sogar doppelrundig: vier GM, jeder viermal gegen jeden, und alle zwei Tage eine Doppelrunde mit zwei Partien pro Tag. So soll Ding binnen acht Tagen auf zwölf Turnierpartien kommen, schon fast die halbe Miete.

Ohne Risiko ist das nicht. Die Gegner sind Großmeister aus der dritten Reihe, zwischen 2500 und 2600 Elo. Solche Leute können fraglos sehr gut Schach spielen, und Punktverluste gegen solche Leute kosten den 2800er Ding reichlich Elo. Aber bislang läuft es nach Plan – zumindest den Ergebnissen nach. Ding Liren ist mit 4/4 gestartet, hatte aber schon manchen wackeligen Moment zu überstehen.

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Dank seines 100-Prozent-Starts hat sich der Chinese sogar den zweiten Platz in der Weltrangliste zurückgeholt. Dort stand zuletzt für 127 Tage Alireza Firouzja, nachdem er im November 2021 als jüngster Spieler jemals die 2800-Marke überschritten hatte. Darüber steht er immer noch, aber jetzt hat ihn Ding überholt:

Vier Punkte aus vier Partien gegen die Schachfreunde Li, Xu und Bai. Ding Liren ist wieder die Nummer zwei der Welt, und wenn er bis zum 24. April so weitermacht, dann qualifiziert er sich per Elo für das Kandidatenturnier 2022. | via 2700chess

Nach den zwölf Partien in Hangzhou wird Ding zwischen dem 5. und 10. April ein Sechs-Partien-Match gegen den 2700-GM Wei Yi bestreiten, eine sportliche Herausforderung. Es folgt ein Qualifikationsturnier für die Asienspiele 2022, in dem Ding zwischen dem 14. und 24. April zehn Partien spielen soll. Vier Tage vor Ablauf der Frist (Partien bis zum 28. April fließen laut chess.com in die Mai-Liste ein) hätte Ding Liren 28 gewertete Partien beisammen, zwei mehr als nötig.

Kommentar auf der Perlen-Facebook-Seite

Die Chance für Ding, doch noch WM-Kandidat 2022 zu werden, eröffnete sich, als die FIDE Sergey Karjakin für sechs Monate sperrte und ihn damit praktisch aus dem Kandidatenturnier strich. Der Nachrückerplatz wird laut Reglement nach Elo unter denjenigen vergeben, die im Jahr vor Veröffentlichung der entscheidenden Eloliste von Mai 2022 mindestens 30 gewertete Turnierpartien gespielt haben.

Da sah es noch aus, als sei der WM-Zyklus 2021/22 noch weniger regulärer als eh schon, weil der potenzielle WM-Herausforderer Ding Liren außen vor bleiben würde.

Ding stand bei vier, als Karjakin gesperrt wurde. Nicht nur diese Seite hat orakelt, es sei praktisch ausgeschlossen, dass er die fehlenden 26 nachholt . Zum einen würde in kurzer Zeit eine Menge Partien zu spielen sein, obendrein stand die Frage im Raum, ob Ding das überhaupt will. Während des laufenden WM-Zyklus‘ scheint er nicht mit letzter Konsequenz versucht zu haben, sich zu qualifizieren. Während es etwa seinem ebenfalls von Reise- und Visaschwierigkeiten betroffenen Landsmann Yu Yangyi, der chinesischen Nummer zwei, gelungen war, am Grand Swiss und Grand Prix teilzunehmen, spielte Ding Liren weder diese beiden noch den World Cup mit.

Die neue Entwicklung dürfte speziell Levon Aronian mit gemischten Gefühlen verfolgen. Noch während des Grand Prix in Berlin schien ihm die Tür offenzustehen, im Zweifel per Elozahl ins Kandidatenturnier nachzurücken. Nun ist Aronian in Berlin ausgeschieden, und Ding Liren schickt sich an, die Elotür zu schließen.

Davon betroffen sind ebenfalls Wesley So, Shakhriyar Mamedyarov und Anish Giri, die noch hätten versuchen können, Aronian bis Ende April nach Elo zu überholen. Auch die Verantwortlichen der Schachbundesliga sind nicht erfreut. Ohne Dings plötzlichen Kandidaten-Endspurt wäre der Kampf zwischen den potenziellen Elo-Nachrückern unter anderem in den drei Bundesliga-Runden im April ausgetragen worden.

Zu früh getwittert. Die Bundesliga hatte offenbar nicht damit gerechnet, dass Ding Liren sich anschickt, doch noch den Elospot fürs Kandidatenturnier zu besetzen.

Nun muss dieses Quartett hoffen, dass sich eine neue Tür auftut. Möglich ist das. Der Schach-Streamer Hikaru Nakamura, mittlerweile Chef eines zehnköpfigen Teams, das seine von Millionen Menschen verfolgten Kanäle betreut, ist seit gestern per Grand Prix qualifiziert. Aber er könnte zu dem Schluss kommen, dass er für ein Kandidatenturnier keine Zeit hat. Vor dem Grand Prix hatte er diese Option angedeutet. Seitdem er tatsächlich qualifiziert ist, hat er sich dazu nicht geäußert. Würde Nakamura absagen, würde ein weiterer Nachrücker per Elo bestimmt.

So sinnhaft es wäre, die Nummer zwei der Welt im Kandidatenturnier zu sehen, zu den einzig auf Dings Qualifikation zugeschnittenen Turnieren sind auch kritische Stimmen zu hören. Das rieche nach Sowjet-Schach, hieß es auf Twitter. Andererseits: Es bedarf keines sowjetischen Schachverbands, um dem eigenen Spitzenspieler eine Chance auf sportlichen Erfolg zu eröffnen.

Wie komme ich bloß ins Kandidatenturnier? Levon Aronian (vorne) kann noch hoffen, dass sich ihm eine Tür für den zweiten Elo-Nachrückerplatz öffnet. Leinier Dominguez ist draußen. | Foto: World Chess

Obendrein würde ausgleichende Gerechtigkeit mitschwingen, sollte Ding es doch noch schaffen. Im Kandidatenturnier 2020 war Ding nach Ausnahmesituation in seiner von der Pandemie zuerst heimgesuchten Heimat, nach Quarantäne und Reiseschwierigkeiten weit unter seinen Möglichkeiten geblieben. Im WM-Zyklus 2020 war Ding bislang vollständig außen vor, während er in der Carlsen-Tour aufgrund der Zeitverschiebung ebenfalls unter seinen Möglichkeiten blieb. Magnus Carlsen hat er trotzdem gerade erst in der Vorrunde des Charity Cups geschlagen.

Apropos Carlsen: „Ding Liren ist eindeutig der beste Spieler, der im Kandidatenturnier fehlt“, hat der Weltmeister gesagt, als sich abzeichnete, dass der Chinese auch den Grand Prix als vermeintlich letzte Qualifikationschance verpassen würde. Nun könnte Ding Liren am 7. Juli 2022 als nächster WM-Herausforderer feststehen. Und das wiederum könnte den zaudernden, WM-Match-müden Titelverteidiger motivieren, noch einmal seinen Hut in den Ring zu werfen. Ein Match gegen die Nummer zwei der Welt, das müsste doch eine Herausforderung nach Carlsens Geschmack sein?!

Für Carlsen ein motivierender Herausforderer, für die Fans ein tolles Match: Ding Liren ist auf dem Weg zurück in den WM-Zyklus 2021/22. Zurück auf Rang zwei der Weltrangliste ist er schon. | Foto: Niki Riga
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Hendrik
Hendrik
2 Jahre zuvor

Ich würde ebenfalls vermuten, dass Carlsen neben Firouzja und vielleicht Ding auch gegen Nakamura antreten würde. Allein aus Marketinggründen wäre ein WM-Match dieser vielleicht populärsten Schachspieler der heutigen Zeit wohl kaum abzusagen.

Martin Erik
Martin Erik
1 Jahr zuvor

Laut chess2700 ist Ding durch!

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[…] Wie es Ding Liren doch noch ins Kandidatenturnier schaffen will […]

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[…] Gerücht auf, es handele sich um einen ähnlichen Endspurt wie den, der vor zwei Jahren Ding Liren den Kandidaten-Spot sicherte. Aber es waren nur regulär angesetzte Partien in der chinesischen Liga. Wei Yi wird im Dezember […]