Zwei Plätze sind noch frei im Kandidatenturner, bei dem im April der WM-Herausforderer ermittelt wird. Knapp vier Wochen vor der Abrechnung zum Jahresende rangelt mindestens ein halbes Dutzend Spieler darum, eines der beiden Tickets zu ziehen. Denen, die noch Boden gutmachen müssen, läuft die Zeit davon. Sie brauchen Turniere, bevor am 31. Dezember die Klappe fällt.
Zum Finale des Kandidatenrennens hat jetzt Parham Maghsoodloo das umkämpfteste, beste Turnier des Jahres 2023 angekündigt. “Dieses Turnier wird alles entscheiden”, sagt der Iraner, der als Nummer zwölf der Weltrangliste mit 2743,3 Elo selbst noch mitmischt. Allein, von welchen Turnier spricht er? “Kann ich leider nicht sagen”, sagt Maghsoodloo. Es sei ja noch nicht offiziell angekündigt, und er wolle den Organisatoren nicht vorgreifen.
Auch ohne offizielle Ankündigung sind genug Informationen verfügbar, um zu sagen, um welches Turnier es sich handelt und wer mitspielt bzw., aus deutscher Sicht bedeutender, wer nicht mitspielt. Vincent Keymer, Nummer 14 mit 2743,2 Elo, ist außen vor.
In Indien, wahrscheinlich in Chennai, wird vom 15. bis 21. Dezember ein aus dem Boden gestampftes Rundenturnier mit acht Spielern der (erweiterten) Weltklasse stattfinden, darunter einige derjenigen, die noch ein gutes Turnier brauchen, um sich fürs Kandidatenturnier zu qualifizieren – entweder per Elozahl oder per “FIDE Circuit”, die fünf besten Turnierleistungen des Jahres.
Dass es sehr knapp wird mit den zwei Spots zeichnete sich spätestens während des Sinquefield-Cups ab, an dem mit Anish Giri, Wesley So, Leinier Dominguez und Alireza Firouzja vier teilweise in beiden Wertungen um die Führung kämpfende Kandidaten-Kandidaten teilnahmen. Alle vier rechneten während des Turniers abseits der Bretter ebenso viel wie während der Partien. Unter anderem ergab sich eine kuriose Konstellation, in der Anish Giri erwägen musste, ob es für ihn am besten ist, eine Partie zu verlieren, weil das den Mitbewerbern mehr weh täte als ihm selbst.
Wo es knapp ist und alle Beteiligten auf verlässliche Rahmenbedingungen angewiesen sind, da sind die Reglement-Fachleute von der FIDE nicht fern, allen voran ihr Geschäftsführer. Als am 28. November Leinier Domínguez haarscharf in der Rating-Wertung führte, verbreitete Emil Sutovsky, Dominguez fehle noch ein klassisches Turnier außerhalb der USA, um sich per Rating qualifizieren zu können.
Das war falsch. Im Reglement steht seit dem 7. Januar, dass ein Spieler im Jahr vier klassische Turniere absolvieren muss, um für den Rating-Spot infrage zu kommen, nicht, wo diese Turniere stattfinden müssen. Dominguez hatte drei, es fehlte eines, aber das sollte er spielen können, wo er will. Der vielfache Hinweis auf den Irrtum verhallte, Sutovsky nahm seine falsche Aussage nicht zurück. Stattdessen veröffentlichte die FIDE tags darauf eine “Klarstellung”, die in Wirklichkeit eine kurzfristige Änderung des Reglements der Qualifikation fürs Kandidatenturnier war.
Zur Unzuverlässigkeit der Verantwortlichen kommt zumindest in Deutschland die Zuverlässigkeit der Pressemitteilungswiedergabeorgane. Anstatt die Sache einzuordnen und den Fehler aufzuzeigen, verbreitete ChessBase eine übersetzte Version der “Erläuterung”, der Schachticker das englischsprachige Original. Die deutsche Schachöffentlichkeit erfährt nicht, dass die FIDE in einem kritischen, für die Spieler existenziellen Moment des WM-Zyklus das Reglement ändert, indem sie kurzfristig “länderspezifische Bestimmungen” einführt – mutmaßlich, weil der FIDE-Geschäftsführer einen Fehler nicht eingestehen will.
Zwischenzeitlich hat sich der US-Verband zu Wort gemeldet. In recht mildem Ton machen die Funktionäre des US-Schachs die FIDE darauf aufmerksam, dass es gut wäre, wenn die Spieler wüssten, woran sie sind. Einmal eingeführte Regeln sollten gelten, nicht kurzfristig geändert werden.
Dominguez trug es mit Fassung. Klar war, er würde noch ein Turnier spielen müssen, um per Rating WM-Kandidat werden zu können. Auf dem Saint-Louis-Kanal sagte er, das habe er vor. Wahrscheinlich wusste er zu diesem Zeitpunkt schon, welches Turnier das sein wird. Ebenfalls am 28. November war nämlich bei der FIDE ein indisches Rundenturnier namens “Help Chess Masters 2023” eingetragen worden.
“Help Chess” ist der Name der Stiftung, die ChessBase India eingerichtet hat, um heimischen Talenten zu helfen. Als solches geht der 17-jährige Gukesh offenbar noch durch, und er könnte Hilfe brauchen, um im FIDE-Circuit an Wesley So und Anish Giri vorbeizuziehen. Dahinter lauert im Circuit mit Arjun Erigaisi ein weiteres indisches Talent mit einer eher theoretischen Chance, den Circuit zu gewinnen. Über alledem steht die naheliegende Idee, dass Leute, die streiten, es am besten untereinander klären.
Mittlerweile hat sich der Name des am 28. November angemeldeten Turniers geändert. Es ist jetzt als “Chennai Grand Masters 2023” eingetragen. Es könnte auch “Road to the Candidates” heißen. Als Spieler vorgesehen sind nach Informationen dieser Seite
- Parham Maghsoodloo
- Leinier Dominguez
- Pavel Eljanov
- Nikita Vitiugov
- Sanan Sjugirov
- Gukesh
- Arjun Erigaisi
- Levon Aronian (schwer zu glauben, aber aus einer zuverlässigen Quelle).
Ob das so stimmt, ob sich vielleicht kurzfristige Änderungen ergeben, wird sich bald zeigen. ChessBase-India-Chef Sagar Shah deutete jetzt in einem Video zwar an, dass es womöglich noch ein Turnier für Gukesh&Co. gibt, aber noch sei alles “geheim”. Bald wolle er mehr mitteilen.
Der Fall Gukesh beinhaltet eine interessante Implikation. Derzeit spielt Gukesh in London. Sollte er das dortige Turnier gewinnen, würde er damit im FIDE-Circuit an Wesley So und Anish Giri vorbeiziehen. Ob er dann noch das Turnier spielen will, das eigentlich auf ihn zugeschnitten war? In der Schachhauptstadt Chennai kurzfristig einen 2650+-Ersatzmann aufzutreiben, wäre jedenfalls nicht schwierig.
Hierzulande steht erstmal die Frage im Raum, ob Vincent Keymer, Elo 2743,2, seine Chance, 14 Elo aufzuholen, genauso optimistisch einschätzt wie etwa Parham Maghsoodloo, Elo 2743,3. Wenn die Chance aufs Kandidatenturnier da wäre, müsse er gegebenenfalls neu planen, hat Keymer nach der Europameisterschaft gesagt. Jetzt ist sie da, aber sehr klein.
Sicher sind die Schach-Macher im Dreieck Saulheim-Viernheim-Baden-Baden nicht weniger erfindungsreich als die am Indischen Ozean. Würde Keymer wollen, würde sein Umfeld wahrscheinlich versuchen, kurzfristig etwas auf die Beine zu stellen. Unter anderem die Idee eines Matches Keymer vs. Maghsoodloo hatte schon im Raum gestanden. Der Iraner hätte das gerne gespielt, sagte er am Bundesligawochenende, aber er stehe nun einmal in Indien unter Vertrag.
Andererseits, Keymer blickt, Stand jetzt, auf ein weiteres überaus erfolgreiches Jahr zurück und auf zwei zehrende Turniere am Stück, Grand Swiss und Europameisterschaft. Womöglich wäre es die beste Lösung, nicht eine wenig aussichtsreiche Jagd zu eröffnen, sondern die Adventswochen zu genießen, bei der Rapid- und Blitz-WM Spaß zu haben und dann neu anzugreifen. In zwei Jahren ist wieder Kandidatenturnier.
Wie sehr sich diese Spekulationen bewahrheiten, spielt aus meiner Sicht gar nicht die entscheidende Rolle. Vielmehr zeigt dieses ganze Kuddelmuddel auf, dass die Regelung, dem Elobesten einen Platz im Kandidatenturnier zuzusichern, zu absurden Entwicklungen führt, die der sportlichen Integrität fast zwangsläufig den Boden entziehen. Und was da noch alles an Abstrusitäten kommen kann, werden wir beim Turnier in Indien vermutlich kopfschüttelnd mit erleben. Aus diesem Grund sollte man diesen “Qualifikationsweg” schnell wieder abschaffen.
Ich kann dem nichts abgewinnen. Für den WM-Zyklus sollte man sich gegen die Konkurrenten durchsetzen. Zonenturniere, dann Interzonenturniere und dann Kandidatenturniere, das war ehrlich. Es ist doch völlig unbedeutend, dass jemand am Ende ein oder zwei Elopunkte mehr hat. Dann kommt noch hinzu, dass kurz vor Toresschluss die Regeln geändert werden. Die Schachbundesliga lässt grüßen, obwohl da war es ja nach Toressschluss.
Warum zerstörst du jeden Text mit deinen Attacken auf andere, die Dinge verschweigen und der Öffentlichkeit vorenthalten? Vincent hat Chancen sich zu qualifizieren. Dafür kann er jedes Open bis Weihnachten spielen, sogar bei relativ schwacher Besetzung. Sitges steht an. Ein Turnier in Indien ist vermutlich nicht mal sinnvoll bei seinem Ziel. Der Preisboxer aus dem Iran hat einen viel kompromissloseren Stil. Sogar zwei Turniere könnte Vincent spielen. Anders als Leinier hat Vincent seine Circuit-Turniere beisammen. Für Vincent ist der Pfad Circuit eher unwahrscheinlich nachdem er zu Beginn des Jahres keine zählenden Ergebnisse geschafft hat bei diesem Qualipfad. Ob ein Wettkampf… Weiterlesen »
Der US-Schachverband sagt selbst, dass “Turniere auch im Ausland” dem _Geist_ des Regelwerks entspricht, es war nur nicht eindeutig formuliert. Im englischen Original (mit Hervorhebungen): “The rules to qualify from the FIDE Circuit specify that in order to be on the FIDE Circuit ranking list a player can only have a maximum of one event per country, with the exclusion of FIDE competitions and national championships (3.2). The rules to qualify by rating make no mention of this requirement, only referring to the need for events to be eligible for the FIDE Circuit (1.1). Even today, there is no… Weiterlesen »
Eines ist dabei kurios und kann potentiell noch richtig Ärger bedeuten: im FIDE-Regelwerk ist anscheinend nicht definiert was passiert, wenn zwei Spieler in der Januar-Liste genau dieselbe Elo haben. Und das, obwohl der ziemlich unwahrscheinliche Fall, dass Spieler im Circuit genau punktgleich sind (auf zwei Stellen hinter dem Komma), definiert ist: dann gibt es ein weiteres Streichresultat, und es zählen für diese beiden (oder drei oder vier) die vier besten Resultate, das wird eventuell wiederholt und wenn nötig Losentscheid (ja, so steht es im Regelwerk unter 3.3!). Was könnte man verwenden, um Gleichstand nach Elo aufzulösen? Stelle hinter dem Komma… Weiterlesen »
Dominguez spielt nun Sunway Sitges – das stimmt wohl, da es auf chess-results.com sowie vom Veranstalter auf “X formerly Twitter” erwähnt wird. War Teilnahme am indischen Spontan-Turnier immer nur ein Gerücht, oder hat er kurzfristig entschieden dass er lieber in Spanien spielt, und/oder sich da bessere Chancen auf den erforderlichen kleinen Elo-Zugewinn (+2 reicht) ausrechnet? In einem Open braucht er als Erster der Setzliste +x (x jedenfalls >1 was in Chennai wohl reichen würde) Übermorgen wissen wir, ob Giri (der momentan das Geschehen in London im Internet kommentiert) oder Keymer auch noch bei Sunway Sitges auftauchen. Spätestens am 15.12. wissen… Weiterlesen »
Kann sich eigentlich auch Azmaiparashvili noch durch einen last-minute-Turniersieg auf dem Balkan für das Kandidatenturnier qualifizieren?
Da hat er doch Erfahrungen.
Ich verstehe ehrlich gesagt nicht worin der Unterschied zwischen Maghsoodloo und Vincent besteht. Beide haben doch die gleiche Rating und mithin die theoretische Möglichkeit der Qualifikation für das Kandidatenturnier.
Weshalb versucht dann Vincent nicht auch seine Rating durch ein Turnier zu verbessern?
[…] field there is yet to be announced, but according to German blogger Perlen vom Bodensee, Gukesh is likely to take part in the event, along with GMs Parham Maghsoodloo, Pavel Eljanov, […]
[…] Besetzung des auf dieser Seite exklusiv angekündigten “Chennai Grandmasters 2023” vom 15. bis 21. Dezember hat sich kurzfristig ein wenig geändert. […]
[…] für den WM-Zyklus und die damit verbundene Kommunikation (“Clarification”, siehe dieser Beitrag) waren peinlich. Egal, wie es jetzt weitergeht, die nächste Peinlichkeit ist schon passiert, die […]
Zum indischen Superturnier: erst sollte es in Chandigarh stattfinden (im Norden Indiens) und nun in Chennai? Auf die Größe des Landes projiziert: in Deutschland nicht Hamburg, sondern München? Ein Inder nannte im Kommentar auf chess.com Keymer als einen der Teilnehmer, “diese Seite” hat nun andere “Informationen” (alles betrachte ich, bis vom Veranstalter selbst was kommt, als Gerüchte – die durchaus stimmen können). Die Teilnahme von Maghsoodloo (oder ggf. Keymer) ist dabei aus indischer Sicht durchaus “riskant”: um sich um 14 Punkte zu verbessern, muss er womöglich das Turnier gewinnen, dabei wollen sie einen Inder (Gukesh oder Erigaaisi) als Turniersieger. Ein… Weiterlesen »
Interessant, dass das German Masters für Vincent offenbar kein Thema mehr ist und hier auch gar nicht mehr zur Erwähnung kommt. Ja, das Teilnehmerfeld ist bekannt gegeben worden, aber per “Lex Vincent” wäre da sicher noch was drin?!