“Es spielen diejenigen, die es noch ans Brett schaffen”: Vincent Keymer vor dem EM-Finale

Vielleicht muss ich nochmal neu planen.” Das sagt Vincent Keymer zur Perspektive, sich per Elozahl eventuell doch fürs Turnier der WM-Kandidaten 2024 zu qualifizieren. Keymer müsste vor dem Jahreswechsel noch ordentlich Elo gewinnen und die Konkurrenten Alireza Firouzja und Wesley So beim heute beginnenden Sinquefield Cup ordentlich verlieren. Dann wäre Keymer nur noch ein gutes Turnierergebnis davon entfernt, das Ticket nach Kanada zu lösen, wo im April 2024 der nächste WM-Herausforderer ermittelt wird.

Ob die potenzielle neue Planung das “German Masters” im Dezember beinhalten würde? Dem Vernehmen nach hat Keymer seine Teilnahme am Turnier der besten deutschen Schachspieler im Dezember schon abgesagt. Dort verwehrt ihm die deutsche Schachverwaltung zwar die Chance, Punkte für den anderen Qualifikationspfad “FIDE Circuit” zu sammeln, aber noch hat der DSB-Kongress kein Mittel gefunden, seine besten Schachspieler daran zu hindern, Elopunkte zu gewinnen.

Vor der Eventualität Kandidatenturnier steht jetzt erst einmal die greifbare Europameisterschaft der Mannschaften. Heute in der letzten Runde ein Sieg gegen Kroatien, und es könnte reichen. “Wie wir das in unserem Zustand hinbekommen, verstehe ich auch nicht”, sagte Keymer nach dem Achtrundensieg über Frankreich im Gespräch mit DSB-Mitarbeiter Paul Meyer-Dunker. Das Interview gekürzt, redaktionell bearbeitet:

Werbung

Vincent, du konntest heute die Züge wiederholen und die Partie ins Remis führen. Warum hast du diese Möglichkeit ausgeschlagen?   

Ich dachte, dass Rasmus zwar ganz gut steht, aber war mir nicht sicher, ob er gewinnen würde. Die beiden anderen Partien fand ich etwa ausgeglichen, also habe ich weitergespielt. Zehn Minuten später habe ich diese Entscheidung bereut, da war es total verloren für mich. Aber in großer Zeitnot hat er zum Glück genau den Weg gewählt, der zwar für Menschen am logischsten aussieht, der aber nicht gewinnt, weil ich mich am Ende mit dieser Turm-f7-Ressource retten kann.  

Rasmus Svanes Sieg über Jules Moussard und Keymers Achterbahnfahrt gegen Etienne Bacrot.

Gestern hast du Richard Rapport geschlagen, Top-Ten-Spieler, WM-Kandidat. Ein richtig starker Mann, den du in 86 Zügen weggearbeitet hast. Ist das mittlerweile normal für dich, dass solche Leute gegen dich irgendwann umkippen?  

Naja, seine Stellung war ja für lange Zeit alles andere als in Ordnung. “Ausgeglichen” zeigt die Maschine nur an, weil ich konkrete Probleme mit der Figurenkoordination habe. Sobald ich es schaffe, das zu stabilisieren, stehe ich einfach eindeutig besser. Und so kam es. Okay, dieses Endspiel Turm und Bauer gegen Springer und Bauer ist natürlich so eine Sache. Ich wusste nicht, ob es theoretisch gewonnen ist, aber das war auch nicht von Bedeutung. Es war das Maximum, das ich rausholen konnte. Und mit wenig Zeit auf seiner Uhr sollte ich immer gute praktische Gewinnchancen haben. Als ich dann gemerkt habe, es ist gewonnen, war ich natürlich froh.  

https://youtu.be/CzRjA0zkvRo
Im Video: Vincent Keymers Sieg über Richard Rapport.

Ihr alle außer Ex-Europameister Matthias hab jetzt die Möglichkeit, zum ersten Mal einen internationalen Titel zu gewinnen. Was macht das mit euch, mit dir? Das Match gegen Kroatien ist wahrscheinlich ein ganz besonderes. Wie nervös bist du?  

Ja, das ist sicherlich ein besonderes Match, aber meine Aufregung hält sich noch in Grenzen. Wenn sie kommt, werde ich versuchen, sie hintenanzustellen. Wir sind alle in einer Verfassung, in der es vor allem wichtig ist, unsere Kräfte zusammenzuhalten, damit wir anständig spielen können. Schauen wir mal, was morgen noch geht.  

https://youtu.be/h-IPcmJUeKY
Matthias Blübaum sicherte sich im vergangenen Jahr den Europameistertitel in der Schlussrundenpartie gegen den Kroaten Ivan Saric (rechts), der heute im Match gegen Kroatien Vincent Keymer gegenübersitzt.

Schon kurios, die gesamte Mannschaft ist mehr oder weniger krank, manche völlig am Ende, andere angeschlagen. Matthias meinte eben, er sei ziemlich im Eimer, und dann macht er recht entspannt Remis gegen einen starken Großmeister. Wie kommt es, dass es so gut läuft? Was klickt jetzt besser als bei der Olympiade 2022 oder der EM 2021?   

Das Team ist einfach noch stärker als letztes und vorletztes Jahr. Natürlich hilft auch, dass wir die ersten Matches alle gewonnen haben. Dieses Verständnis, dass wir diese starken Mannschaften schlagen können, Serbien zum Beispiel, das gibt Selbstvertrauen. Aber wie wir das in unserem Zustand hinbekommen, das verstehe ich auch nicht. Bei uns gilt im Moment die Devise, dass diejenigen spielen, die es noch ans Brett schaffen. Jeder von uns hat hier schon krank gespielt, teilweise mit Fieber, trotzdem läuft es. Wir nehmen das gerne mit und freuen uns darüber.  

Lass uns noch über deine individuelle Situation sprechen. In der Live-Weltrangliste stehst du auf Platz 14, es ging zuletzt steil nach oben. Jetzt ist sogar der Ratingplatz fürs WM-Kandidatenturnier noch etwa 20 Punkte entfernt. Woher kommt diese Entwicklung?  

Tatsächlich weiß ich das selbst nicht so genau. Was macht mich jetzt zu einem besseren Spieler als im Sommer, als ich bei 2690 stand? Die 2700 hatte ich ja schon im September 2022 überschritten, habe die ganze Zeit weiter an mir gearbeitet, aber die Ergebnisse haben nicht gespiegelt, was ich in diesen Monaten gelernt habe. Jetzt scheint die Zeit gekommen zu sein, in der ich die Früchte dieser Arbeit ernte.  

Alireza Firouzja und Wesley So, die nach Rating in der Qualifikation fürs Kandidatenturnier vorne sind, spielen jetzt beim Sinquefield Cup. Angenommen, sie verlieren dort Punkte, wärst du schon ganz nahe dran. Ist die Qualifikation fürs Kandidatenturnier etwas, auf das du noch schaust?  

Im Prinzip hatte ich das abgehakt. Ich hatte auch nicht erwartet, hier nochmal Elo zu gewinnen, abhängig natürlich davon, wie es in der letzten Runde gegen Kroatien läuft. Sollte sich tatsächlich noch eine Chance für mich auftun, kann ich mir vorstellen, dass ich neu plane. Aber bisher habe ich darüber nicht ernsthaft nachgedacht, weil mit den 2733, mit denen ich aus dem Grand Swiss gekommen bin, die Chance extrem klein war. Vielleicht muss ich nochmal neu planen.

(Titelfoto: Paul Meyer-Dunker/DSB)

4.2 10 votes
Article Rating
Abonnieren
Benachrichtige mich bei
guest

5 Comments
Most Voted
Newest Oldest
Inline Feedbacks
View all comments
Thomas Richter
Thomas Richter
5 Monate zuvor

Wenn es dazu kommen sollte: aus internationaler Sicht wäre es zumindest kurios, wenn Keymer bei einem rein deutschen Turnier die fehlenden Elopunkte holen sollte, um sich für das Kandidatenturnier zu qualifizieren. Auch wenn international eher nicht bekannt ist, dass er da sonst gar nicht spielen würde. Vor dem German Masters ab dem 11.12. ja auch noch ein Bundesliga-Wochenende am 2./3.12. . Je nachdem wie Baden-Baden und die Gegner (Remagen und Heimbach-Weis-Neuwied, lösbare Aufgaben, Baden-Baden daher wohl nicht in Bestbesetzung) antreten, bekommt Keymer womöglich 2500er. Was tun? Auf dieses BL-Wochenende verzichten da “riskant”, oder da spielen und, wenn es so dann… Weiterlesen »

trackback

[…] “Es spielen diejenigen, die es noch ans Brett schaffen”: Vincent Keymer vor dem EM-Final… […]

trackback

[…] habe. Jetzt scheint die Zeit gekommen zu sein, in der ich die Früchte dieser Arbeit ernte”, sagte er am Rande der Mannschafts-EM, bei der die von ihm angeführte Nationalmannschaft denkbar knapp Gold […]