Die Entscheidung, wer Europameister wird, fiel nach mehr als sechs Stunden am dritten Brett des Matches am zwölften Tisch zwischen Island und der Türkei. Kurz bevor die 50-Züge-Regel die Partie beendet hätte, stellte Großmeister Cemil Can Ali Marandi gegen Großmeister Gudmundur Kjartansson nach 123 Zügen die Gewinnversuche ein. Damit stand es 2:2 zwischen den Nordmännern und denen vom Bosporus – und im serbischen Lager brach Jubel aus. Europameister!
Zuvor hatten die Deutschen Kroatien mit 2,5:1,5 und die Serben Griechenland mit 3:1 besiegt. Beide lagen nach neun gespielten Runden punktgleich an der Tabellenspitze. Auch nach verfeinerter Wertung lagen beide fast gleichauf: Die Deutschen hatten die etwas stärkeren Gegner besiegt, die Serben ihre Matches etwas höher gewonnen.
Zuletzt hatten es die Isländer in der Hand, ihren Erstrundengegner Serbien zum Europameister zu machen. Dafür mussten sie beim Stand von 1:1 gegen die Türkei zwei etwas schlechtere Endspiele halten. Das gelang.
Aus deutscher Sicht hätte Dmitrij Kollars nicht nur der Sieger des Tages sein können, auch derjenige, dessen Sieg dem deutschen Team die Europameisterschaft beschert. Und das nach einem schlimmen familiären Schlag. Zwei Tage vor der Abreise nach Montenegro war sein Vater Michael gestorben, derjenige, der ihm einst Schach beigebracht hat. “Ich habe überlegt, ob ich überhaupt anreisen soll.”
Kollars reiste an, “und ich merkte, ich spiele nicht gut. Ich hatte viele schlechte Stellungen. Eine von denen, gegen Dieter, habe ich verloren und der Mannschaft einen Punkt gekostet.” Aber da die Kollegen malade waren, musste Kollars ran. Auch in der neunten Runde im finalen Kampf, der den Deutschen den Titel bescheren konnte.
Matthias Blübaum, der schon am Vortag kaum spielfähig gewesen war, setzte aus. Kollars, bis dahin sieglos, dachte: “Heute ist der Tag, an dem ich versuchen muss, etwas beizutragen.”
In der wilden Partie gegen Martin Bosiocic durchlebte der 24-Jährige “alle Emotionen auf einmal. Die Zeitnot war eine reine Nervenschlacht.” Unter diesen Bedingungen parierte Kollars ein spekulatives Opfer seines Gegners, erkämpfte sich eine Gewinnstellung und holte den Punkt, den einzigen ganzen des deutschen Teams, wie sich zeigen sollte.
Rasmus Svane war recht früh gezwungen, eine Notbremse in Form eines Dauerschachs zu ziehen. Vincent Keymer und Alexander Donchenko machten Druck, bis das Brett leergefegt war. Es gelang ihnen nicht, aus ihren kleinen Vorteilen mehr als einen halben Punkt zu pressen. Alle drei Partien endeten remis.
Die Anspannung hielt, als die Partien längst beendet waren. Um eine Excel-Tabelle versammelt, mit zwei Packungen Toffifee als Nervennahrung ausgestattet, rechnete die deutsche Delegation Ergebnisse hoch, um abschätzen zu können, wer im Fotofinish zwischen Serbien und Deutschland vorne liegen würde. Anfangs sah es gut aus, dann wurde es knapp, und das umso mehr, als sich andeutete, dass die Serben ihr wildes Match gegen Griechenland nicht, wie erwartet, 2,5:1,5, sondern sogar 3:1 gewinnen würden.
Am Ende blieb nur die Hoffnung, dass das 227:228 in der DSB-Excel-Tabelle auf einem Rechenfehler basiert. Aber wenig später bestätigte die offizielle Schlusstabelle, was alle beteiligten Deutschen befürchtet und alle Serben gehofft hatten. Um Haaresbreite lag das Team um die russischen Neuzugänge Alexander Predke und Alexei Sarana (amtierender Einzel-Europameister) vor der jungen deutschen Mannschaft.
Die hat jetzt zum ersten Mal in dieser Besetzung gespielt und sogleich angedeutet, was für ein Versprechen sie ist. Nicht nur die fünf Spieler an den Brettern. Zu sechst waren die Großmeister aus Deutschland angereist – inklusive Frederik Svane, der es diesmal ganz knapp noch nicht ins Team geschafft hat.
Bundestrainer Jan Gustafsson hatte vorgeschlagen, den jüngeren Svane-Bruder als Sekundanten einzubinden: für den 19-Jährigen eine willkommene Gelegenheit, in einem solchen Rahmen internationale Wettkampfluft zu schnuppern. “Und ich will natürlich der Nationalmannschaft helfen.”
“Der geteilte erste Platz mit der Silbermedaille ist aus meiner Sicht ein Superergebnis”, sagt DSB-Präsidentin Ingrid Lauterbach. Dass die Wertung so knapp gegen das deutsche Team ausgefallen ist, sei schade, solle aber die Freude über den tollen Erfolg nicht mindern. “Uns allen hat das Mitfiebern während des Turniers viel Spaß gemacht.”
Die Frauen schlossen die Europameisterschaft mit einem 2:2 gegen die Schweiz ab. Sie beendeten das Turnier auf Platz 7 mit 11:7 Punkten. Den einzigen deutschen Partiegewinn des letzten Spieltags erzielte Elisabeth Pähtz im prestigeträchtigen Duell gegen Exweltmeisterin Alexandra Kosteniuk. Die für einen Tag an Dinara Wagner verlorene Spitzenposition in der deutschen Elo-Live-Liste hat Pähtz zurückerobert.
Die Feinwertungslotterie hätte sogar auf einen halben Punkt Rückstand schrumpfen können, wenn Rumänien gegen Spanien 2:2 gespielt hätte. Trotzdem, auch in Anbetracht des Gesundheitszustandes des deutschen Team, ein bravouröse Leistung, die Lust auf mehr in der (nahen) Zukunft macht!
Eine fantastische Leistung der Mannschaft! Da haben Keymer + Prinzengruppe nochmals bewiesen, was eine gezielte Förderung von Talenten bewirken kann. Und das ist umso höher zu bewerten, als offenbar etliche Teams (gerade auch Serbien sogar doppelt) mit “ihrem Russen” angetreten sind.
Und alle Leute sind aus der eigenen Jugend!!! Herzlichen Glückwunsch!
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Nach den Mannschaftspunkten sollte m.E. immer der direkte Vergleich die erste Wertung sein. Wenn die beiden punktgleichen Mannschaften im Turnier gegeneinander gespielt haben, ist doch das direkte Duell gegeneinander die gerechteste, aussagekräftigste und fairste Wertung.
Schachdeutschland kann sich freuen, so eine tolle Mannschaft zu haben. Die Jungs haben sich alle fürs Team aufgeopfert und haben alle eine super Leistung gebracht. Glückwunsch an die Spieler Vincent, Rasmus, Matthias, Alexander und Dmitrij, sowie an Trainer Gusti und Helfer Frederik! Für mich die Europameister der Herzen! Bei den Mädels war das Turnier eher durchwachsen und endete mit Ausnahme von Josefine (+27 Elo) bei allen im Elo-Minus. Da auch schon bei vorangegangen Turnieren nicht viel geglückt ist, stellt sich für mich auch immer mehr die Trainerfrage, auch vor dem Hintergrund von Yakovichs Verbindungen zum Russischen Schachverband. In Richtung European… Weiterlesen »