TikTok, Mittens und Hans Niemann: der dritte Schachboom

Erst kam Covid, dann Beth Harmon, beides begünstigt vom Umstand, dass im Internetzeitalter die nächste Schachpartie nur einen Klick entfernt ist. Die Pandemie ebenso wie die Netflix-Serie „Queen’s Gambit“ haben dem Schach zwei enorme Popularitätsschübe beschert, die bis weit ins vergangene Jahr anhielten. Danach ging das Schachinteresse zurück, stabiliserte sich aber auf einem höheren Level als zuvor.

Levy Rozman alias “Gotham Chess” ahnte im April nicht, dass Ende 2022/Anfang 2023 der dritte Schachboom ausbricht.

Jetzt läuft der dritte Schachboom, und der unterscheidet sich von den beiden ersten. Sein Auslöser ist nicht eindeutig auszumachen. Stattdessen gibt es mehrere, die zusammenwirken, und sie haben dazu geführt, dass in diesen Wochen weltweit so viel Schach gespielt wird wie nie zuvor.

Mittelfristig ist die jüngste Entwicklung für den Fast-Monopolisten chess.com ein neuerlicher, dritter Segen, kurzfristig auch ein Fluch. Unaufhörlich steigt in diesen Wochen die Zahl von Besuchern auf der Seite, auf der sich nach ihren Angaben derzeit pro Tag um die 250.000 Menschen registrieren – mehr, als die Technik verkraften kann.

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Chess.com hat seit Tagen mit Ausfällen zu kämpfen, was dazu führt, dass sich neue Schachspieler genervt anderswo umsehen, auf Lichess in erster Linie. Dort läuft bislang alles stabil, obwohl auch die freie Schachseite mitteilt, dass dort mehr gespielt wird denn je.

Chess.com hat sich wegen der technischen Probleme jetzt veranlasst gefühlt, eine Erklärung abzugeben. “Ehrlich gesagt, ist das Mist”, heißt es. “Wir wissen, dass du hier bist, um Schach zu spielen. Stattdessen eine Fehlermeldung zu sehen, ist frustrierend.“ Das Unternehmen kündigt „einige größere Änderungen“ in zwei bis drei Wochen an. Nach diesem Aufrüsten der Hardware „hoffen wir, diese nächste Welle der Schachbegeisterung zu bewältigen.”

2020 hatte das US-Unternehmen die Zahl seiner täglichen Nutzer binnen eines halben Jahres nach eigenen Angaben von 1,3 Millionen auf 3 Millionen mehr als verdoppelt. Schon damals rüstete chess.com die Hardware auf. Aber der damalige Jubel über das nie dagewesene Schachinteresse mutet heute bizarr an. Anfang 2023 sind 10 Millionen Nutzer am Tag keine Sensation mehr.

Am 20. Januar erstmals die 10-Millionen-Marke überschritten: Zahl der täglichen Besucher auf chess.com im Januar. | via chess.com

Der neuerliche Popularitätsschub begann im Herbst 2022, als Magnus Carlsen Hans Niemann des Betrugs beschuldigte. Die „Analperlen“-Schlagzeilen machten Hans Niemann über Nacht zum bekanntesten aller Schachspieler außerhalb der Blase der Schach-Fachleute. Bis heute wird die bizarre Sexspielzeug-Theorie oft neu aufgewärmt – vor allem dort, wo das Publikum eben nicht in erster Linie aus Schachexperten besteht.

Im November 2022 erreichten die Fußballgrößen Cristiano Ronaldo und Lionel Messi mit ihrer gestellten Schachpartie ein ebensolches Publikum. Im Rahmen einer Werbekampagne für Louis Vuitton posteten beide ein Foto, das sie beim Schach zeigt. Allein auf Instagram sind die Posts der Fußballstars mehr als 70 Millionen Mal gesehen worden.

Auf den Spuren von Carlsen und Nakamura: Messi und Ronaldo spielen Schach.

Dann war da noch: Schachboxen. Wie viele Millionen Menschen mittlerweile gesehen haben, wie IM Lawrence Trent gegen GM Aman Hambleton k.o. ging, lässt sich nicht mehr nachvollziehen. Zahllose Schnipsel davon sind übers Internet verstreut.

Auch der Wettbewerb zwischen den Videoplattformen YouTube und TikTok hat in letzter Konsequenz dem Schach Ende 2022/Anfang 2023 ein neues Millionenpublikum zugeführt. TikTok mit seinen kurzen, clipartigen Formaten hatte binnen kurzer Zeit ein solches Wachstum erlebt, dass sich YouTube gezwungen sah zu reagieren. Die Google-Tochter antwortete, indem sie im Kampf ums Publikum ebenfalls den Fokus auf kurze Formate legte.

Für YouTuber schuf sie Anreize, „YouTube Shorts“ zu produzieren, Hochformat-Videos von maximal 60 Sekunden Länge. YouTube plant, im Lauf des Jahres 2023 Brücken zwischen den bislang weitgehend separaten langen und den kurzen Formaten zu schaffen, und schon ab dem 1. Februar 2023 werden sich „Shorts“ leichter monetarisieren lassen. Kein Wunder also, dass die Schach-YouTuber schon Ende 2022 zunehmend „Shorts“ produzierten, um zeitig einen Fuß in dieser Tür zu haben.

Als Hikaru Nakamura auf YouTube die Schachkatze “Mittens” vorstellte, war dieses Schachvideo das angesagteste aller Videos auf der Plattform. Auch Nakamura hat für seine Hochformat-Clips längst TikTok entdeckt.

Wer ein kurzes Hochformat-Video für YouTube produziert hat, der schaut sich nach Plattformen um, auf denen sich mit dem Werk weiteres Publikum erreichen lässt. So geriet Schach im großen Stil auf TikTok.

Allein Videos mit dem Hashtag #ChessTok sind auf TikTok inzwischen mehr als zwei Milliarden Mal gesehen worden. Und das mutmaßlich vor allem von Menschen, die mit Schach bislang nicht viel am Hut hatten – Menschen, die sich eine halbstündige Partieanalyse nicht anschauen würden, aber Gefallen daran finden, wenn ihnen jemand einen schnellen Trick oder eine Taktik zeigt oder eine Schachepisode erzählt, vielleicht sogar beides kombiniert.

Vorreiter der Bewegung: IM Levy Rozman alias „GothamChess“. Als einer der größten Schach-Youtuber hat er Ende 2022 begonnen, seine pfiffig gemachten „Shorts“ auch auf TikTok zu posten. Offenbar gefiel, was er anzubieten hatte. Der TikTok-Algorithmus tat ein Übriges.

Levy Rozman trommelt auf TikTok für “Mittens”, und fünf Millionen Menschen schauen zu.

Hunderttausende Abonnenten habe er seitdem gewonnen, das Wachstum eines Jahres binnen eines Monats erzielt, erzählte Rozman jetzt dem Magazin Wired. Der 27-Jährige aus New York ist bei weitem nicht der einzige, aber der Meistgesehene, der mit seinen neuen Clips „das Spiel entmystifiziert“, wie er sagt: „So ist Schach viel attraktiver. Nicht mehr langweilig, elitär.“

“Nur ein Computer mit Katzenbild.” Magnus Carlsen war der einzige chess.com-Influencer, der das Mittens-Spiel nicht mitspielte. Aber selbst das erregte Aufmerksamkeit: Mittens und Magnus in der “Times”.

In einer Liste von Faktoren und Akteuren, die dem alten Spiel zuletzt scharenweise neues Publikum zugespielt haben, darf „Mittens“ nicht fehlen. Mittens, die großäugige, süße Schachbabykatze, ist die Hauptfigur einer viralen PR-Kampagne, von der nicht ganz klar ist, wie viel davon geplant war.

„Bots“ – Engines mit Persönlichkeit, Backstory und Avatar – gehören bei chess.com seit „Queen’s Gambit“ zum Programm. Als alle Welt die Netflix-Serie schaute, standen bei chess.com bald mehrere Beth Harmons verschiedenen Alters bereit, um es mit den Besuchern aufzunehmen. Seitdem gibt es monnatlich neue Bots. Naht Halloween, steigen die Zombie-Bots aus der Kiste, „Ian Zombiatchi“ etwa, und zum Muttertag gibt es „Mamabots“.

2023 begann als das Jahr von Mittens, der Schachkatze.

2023 sollte mit einem Katzenbot-Monat beginnen:  „Scaredy Cat“ für Anfänger, „Angry Cat“ und „Mr Grumpers“ für Fortgeschrittene, dazu die Kasparov-Katze „Catspurrov“ für gute Spieler. Außerdem – Mittens: superstark, zuckersüß, gnadenlos.

Dass Mittens ganz anders spielt und sich ganz anders gebärdet, als es ihre unschuldige Optik vermuten lässt, finden Nutzer erst heraus, wenn sie sich mit ihr einlassen. Auf der Bot-Seite deutet nichts darauf hin, dass Mittens nicht das Katzenbaby mit einem Rating von 1 Elo ist, als das es dort steht.

Entwickler Colin Stapczynski hat jetzt in einem Interview mit Slate erzählt, wie Mittens entstand. Über der Frage, ob die Katze eher eine Ivan-Drago-ich-mach-dich-platt-Persönlichkeit bekommen sollte, oder sich eher stets vor Kichern kringeln sollte, egal, was auf dem Brett passiert, habe das Team beschlossen: „Warum nicht beides?“

Mittlerweile hat die Schar der chess.com-Influencer, angeführt von Levy Rozman und Hikaru Nakamura, Millionen von Zuschauern mit Partien gegen Mittens unterhalten; und das Feuilleton hat hat mit Mittens ein neues Schach-Thema entdeckt, über das sich reflektieren lässt. Auch dem chess.com nahe stehenden Wall Street Journal, zweitgrößte Zeitung der USA, war „Mittens“ jetzt einen Bericht wert (hinter der Bezahlschranke).

Gestiegenes Interesser am Schach beschert nicht nur den beiden großen Anbietern Zulauf, bei denen Schach gespielt werden kann. Martin Bennedik aus Frankfurt etwa, der im Schatten der beiden Riesen mit der Taktikseite chesspuzzle.net eines der weltgrößten Schachportale geschaffen hat, spürt den Mittens-Niemann-TikTok-Boom ebenfalls. 40 Prozent mehr Traffic als im Dezember 2022 hat er im Januar 2023 registriert, „Tendenz steigend“.  

Mittens im Wall Street Journal.
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LKLKLK
LKLKLK
1 Jahr zuvor

Bei “Mittens” denke ich eher an Mitt Romney, ansonsten finde ich insbes. zwei Formate gut : 1.) das Ein-Minuten-Format (sechzig Sekunden geben schon viele Möglichkeiten) und 2,) das Zwanzig-Minuten-Format, wo dann viel ausgeführt werden kann, aber auch eben keine lange “Sitzung” zu erwarten ist.
Mit freundlichen Grüßen
LK

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[…] Katzenstory auf Instagram bot Raum für eine neuerliche, ungeheuerliche Spekulation: Hat etwa Mittens den Twitter-Account von Anya Taylor-Joy […]

LKLKLK
LKLKLK
1 Jahr zuvor

Ergänzend :
Der sog, Amadgator ist iO, vergleiche :
-> https://www.youtube.com/c/AGADMATOR/videos
Ich mag sozusagen seinen Sound :
-> https://www.youtube.com/watch?v=3XUKEClcAz4
MFG
LK

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[…] TikTok, Mittens und Hans Niemann: der dritte SchachboomWer dachte, dass dem Schach nach Pandemie und Netflix-Hit vorerst keine weitere Anschubhilfe zuteil wird, der lag falsch. Schach ist mehr im Gespräch denn je, noch einmal mehr als vor zwei Jahren – eine Gelegenheit fürs organisierte Schach, die nicht ewig bestehen wird. […]

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