Die große Aufregung

Im Hinblick auf die App Tiktok bin ich in einer Art Teufelskreis gefangen. Wenn ich merke, dass ich zu viel Zeit damit verbringe, dann lösche ich sie von meinem Handy. Als Nächstes stelle ich fest, dass ich mir stattdessen in anderen sozialen Netzwerken irgendwelche Videoschnipsel ansehe. Sie sind ja inzwischen fast überall, ob man nun auf Instagram oder Facebook unterwegs ist. Dann denke ich, dass ich ebenso gut wieder Tiktok installieren kann, und der ganze Zirkus beginnt von vorn. Es ist zermürbend.

Video-Kurzformate, speziell bei TikTok, haben Schach einen weiteren Popularitätsschub beschert.

Zermürbend auch die Tendenz zur Dramatisierung von eigentlich allem. Wer heutzutage ein Video in den sozialen Netzwerken der Weltöffentlichkeit oder auch nur seinen 23 Followern präsentieren will, kommt offenbar kaum noch ohne dramatische Musik, Soundeffekte, Reißschwenks und dergleichen aus.

https://www.tiktok.com/@willeinhelm/video/7274488418296483105?is_from_webapp=1&sender_device=pc
“Willeinhelm”, der größte Schach-TikToker im deutschsprachigen Raum.

Das gilt auch für ein Genre, bei dem man das eigentlich kaum vermuten würde: Schach. Genau, das Spiel, das im wesentlichen darin besteht, dass anfangs 32, im Verlauf der Partie dann immer weniger Steine auf 64 schwarz-weißen Feldern hin- und hergeschoben werden, bis einer der beiden Könige mattgesetzt ist oder die Gegner sich auf ein Remis geeinigt haben.

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Anhand von Schach lässt sich der Dramatisierungstrend sehr gut belegen. Die Älteren werden sich erinnern, dass in früheren Zeiten das Spiel im Fernsehen meist von grau melierten Herren erläutert wurde, zum Beispiel von dem gern wunderbar kuriose Pullover tragenden Helmut Pfleger.

Man kann nicht behaupten, dass Pfleger wild und aufgeregt herumschrie, wenn sich ein Läufer über das Brett bewegte oder ein Bauer zwei Felder nach vorn zog. Er vertraute auf die dem Spiel selbst innewohnende Spannung, die sich aus seinem sehr lebensnahen Wesen ergibt: Mit jedem Zug ist eine Entscheidung zu treffen, deren kurzfristige Folgen noch vorausberechnet werden können, während die mittelfristigen schon von Nebelschwaden umwabert sind und die sehr langfristigen komplett im Dunkeln liegen. Pfleger sah dabei etwas weiter als der durchschnittliche Zuschauer und begriff sich als hilfreichenden, ruhig erläuternden Freund, der auch mal eine hübsche Anekdote zu erzählen wusste.

“Relax and Chess”? Bei Agadmator ist das Prgramm, anderswo gewiss nicht.

Ähnlich erging es mir noch eine Weile, als Schach zum Phänomen auf Social Media wurde. Der Kroate Antonio Radić unterhält einen recht populären Youtube-Channel namens Agadmator. Bei ihm sehen wir in einem großen Fenster das Schachbrett und in einem kleinen Radić, der die wichtigen Partien Zug um Zug nachspielt. Die Analysetiefe lässt dabei manchmal ein bisschen zu wünschen übrig und endet schon fast bei dem Hinweis, ab welchem Zug ein Spiel „a completely new game“ ist, die aktuelle Stellung also in keiner der Datenbanken mehr auffindbar ist.

Aber trotzdem höre ich den ruhigen Erläuterungen gern zu, das kroatisch gefärbte Englisch des Moderators klingt angenehm, und außerdem räkelt sich manchmal ein Hund auf dem Sofa im Hintergrund des kleinen Fensters. Radić macht auch kleine Ratespiele um den bestmöglichen Zug, bei denen ich regelmäßig scheitere.

Ja, so ein Turmopfer ist toll. Aber muss man deshalb gleich herumschreien?

Mein 14-jähriger Sohn interessiert sich auch für Schach, allerdings ist ihm Radić zu langsam. Er schwört auf einen Youtube-Kanal namens Gotham Chess. Dahinter verbirgt sich der 1995 in New York City geborene Levy Rozman. Er hat auf Youtube mit 3,6 Millionen Abonnenten dreimal so viele Follower wie Radić – und ich nehme stark an, sie sind allesamt jünger als ich.

Rozman dramatisiert seine Videos, wo er nur kann. Wenn er zum Beispiel erklärt, warum ein Spieler seinen Turm opfert, dann zoomt die Kamera blitzartig auf die Figur, während Rozman aufgeregt „The Rook!“ schreit und oft noch Pfeile und Schriften dazu eingeblendet werden. Die Spannung soll sich hier nicht nur aus dem Inhalt, sondern auch aus der Form ergeben. Das hat ganz offensichtlich Erfolg. Mein Sohn findet es super.

Ja, so ein Turmopfer ist toll. Aber muss man deshalb gleich herumschreien? | via YouTube/GothamChess

Ich nicht, mir ist das auf die Dauer zu anstrengend. Ich frage mich, ob diese Art der Aufbereitung nicht zu oberflächlich ist. Ob man noch genug vom Schach versteht. Vielleicht werde ich aber auch nur kulturpessimistisch mit den Jahren, alt und langsam. Irgendwann werde ich mir sicher auch seltsam aussehende Strickpullover zulegen. Und Mottenkugeln, damit sie lange halten.


Dieser Beitrag erschien zuerst in der Berliner Morgenpost. Autor Felix Müller leitet das Kulturressort der Tageszeitung.

(Titelgrafik via GothamChess)

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Joschi
Joschi
7 Monate zuvor

Ich muss gestehen, ich finde den Artikel von einer überraschenden Oberflächlichkeit. Es bleibt banal, ohne Analyse, aber auch mit begrenztem Unterhaltungswert. Das “Schachkommentieren” hat sich in den letzten Jahren stark verändert und man orientiert sich in der Regel an anderen Sportarten. Man denke nur an die eigenartigen vermeintlich runden Studios mit Howell, Houska & Co und dem stets blauen Hintergrund … Oder zwei Kommentatoren, bei denen der eine sein Statement mit einer Suggestivfrage beendet und der zweite seine Analyse mit “Yes, excactly…” beginnt (freilich ohne auf das davor Gesagte in irgendeiner Form zu antizipieren) . – Ein sehr plumpes “Einander-den-Ball-Zuspielen”,… Weiterlesen »

Willeinhelm
Willeinhelm
4 Monate zuvor

Oh klasse, ich fühle mich geehrt. Ich finde es schön, dass es verschiedene Formate, Längen und Tiefen gibt.
Manchmal ist es nett, einen kurzen Happer Schach zu sehen, während man auf den Bus wartet, oder im Wartezimmer sitzt etc. Da kann man auch nicht immer die 20 Minuten lange Analyse anschauen.
Jedenfalls verfolgen alle das selbe Ziel: Schach populärer zu machen. Ich freue mich, dass dieses schöne Spiel immer beliebter wird.

schachkatze
schachkatze
7 Monate zuvor

Ich verstehe das Problem des Autors nicht. Es ist doch völlig in Ordnung und richtig, dass Inhalte mit Schach für verschiede Zielgruppen unterschiedlich aufbereitet werden. Mit Levy Rozman (GothamChess) kann ich auch nichts anfangen, aber ich bin eben auch nicht in seiner Zielgruppe. Fortgeschrittene Vereinsspieler können zum Beispiel bei Daniel King (PowerPlayChess) oder Matthew Sadler (Silicon Road) vorbeischauen.

Ramuthra
Ramuthra
7 Monate zuvor

Das ist dieser alte, elitäre Glaube vom Schach. Die meisten sehen es aber berechtigterweise einfach als netten Zeitvertreib und finden dann auch solche Videos gut. Fußball oder so würde sich ja auch keiner angucken, wenn der Kommentator die meiste Zeit einfach nichts sagen würde (OK, bei den or Moderatoren wäre das ein plus) und das Spielfeld permanent von der Seite gezeigt würde, statt auch mal mit der Spidercam und bei Torchancen oder Toren sowieso aus jeder erdenklichen Richtung. Ich finde nur diesen Ami ziemlich unsympathisch, daher nicht so mein Fall. Einfach mal von dem Glauben verabschieden dass sich Schach durch… Weiterlesen »