Elisabeth Pähtz und der Großmeistertitel: Entscheidung vertagt

Die Hängepartie um den GM-Titel-Antrag von Elisabeth Pähtz geht ein weiteres Mal in die Verlängerung. Der FIDE-Rat hat nach Informationen dieser Seite beschlossen, die Entscheidung, ob ihr der Großmeisteritel verliehen wird, zu vertagen. Außerdem nimmt der Weltschachverband den seit Monaten in der Schwebe befindlichen Fall zum Anlass, sein Norm- und Titelverfahren zu reformieren.

Im November 2021 hat Pähtz beim Grand Swiss in Riga ihre vermeintlich dritte und letzte für die Verleihung notwendige Norm erzielt. In den allgemeinen Jubel über die erste Deutsche und 39. Frau weltweit mit Großmeistertitel mischte sich bald Ernüchterung. Die Frage, ob ihre zweite Norm, erzielt bei der Europameisterschaft 2016, gültig ist, war seinerzeit breit diskutiert, aber nie offiziell beantwortet worden. Die FIDE prüft die Gültigkeit von Normen erst, wenn ein Titelantrag vorliegt.

“Endlich Großmeister”, eine voreilige Erfolgsmeldung: In den allgemeinen Jubel nach Pähtz’ Sieg in der vermeintlichen Entscheidungspartie mischte sich bald Ernüchterung.

Bis zum Pähtz-Titelantrag des deutschen Verbands bei der FIDE sollten nach dem Grand Swiss 2021 gut vier Monate vergehen. Nachdem Pähtz den FIDE-Präsidenten Arkady Dvorkovich schon im Rahmen der Siegerehrung des Grand Swiss auf ihre umstrittene zweite Norm aufmerksam gemacht hatte, teilte der Deutsche Schachbund wenig später auf Anfrage dieser Seite mit, der Fall werde zwischen FIDE und DSB „auf höchster Ebene“ verhandelt.

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Tatsächlich ist es auf Seiten der FIDE diese höchste Ebene, die eine Entscheidung in die eine oder andere Richtung herbeiführen kann. Seit der FIDE-Satzungsreform vor zwei Jahren ist der FIDE-Rat („FIDE Council“) mit dem FIDE-Präsidenten an der Spitze das Gremium mit der Entscheidungsgewalt in Titelfragen.

“Keine Norm, so lange zwei kleiner ist als drei”

Die zuständigen Kommissionen, in diesem Fall die Titelkommission („Qualification Commission“), geben nur Empfehlungen ab, die zu befolgen oder nicht dem FIDE-Rat freisteht. Nick Faulks, langjähriger Vorsitzender der Titelkommission, sieht die Machtfülle des FIDE-Rats skeptisch. Im März während der laufenden Pähtz-Debatte ist Faulks als Kommissionsvorsitzender zurückgetreten. Sein Rücktritt habe nichts mit der Pähtz-Norm-Frage zu tun, sagte Faulks auf Anfrage dieser Seite.

Nick Faulks. | via FIDE

Aus Sicht der zuständigen Regelhüter ist die Frage, ob Pähtz‘ zweite Norm gilt, eindeutig zu beantworten. Unter ihren Gegnerinnen bei der Europameisterschaft 2016 seien zwei statt der erforderlichen drei GM gewesen, und die Voraussetzungen für eine „Performance-Norm“ seien nicht gegeben. „So lange gilt, zwei ist kleiner als drei, sehe ich keine Norm“, sagt Faulks, legt aber Wert darauf, dass er das als kundiger Beobachter sagt, nicht als Mitglied der zuständigen Kommission (das er nach seinem Rücktritt weiterhin ist).

Werner Stubenvoll, Faulks‘ Vorgänger als Vorsitzender und weiterhin Kommissionsmitglied, sieht es genauso: ein GM zu wenig unter den Gegnerinnen. Allerdings hat Stubenvoll das nicht immer so gesehen. Nach der Europameisterschaft 2016 zweifelte der damalige DSB-Vizepräsident Klaus Deventer die Gültigkeit von Pähtz‘ Norm an. Er fragte beim Komissionsvorsitzenden Stubenvoll nach. Der bestätigte, die Norm gilt.

Werner Stubenvoll. | via FIDE

Er habe sich damals geirrt, das tue ihm leid, sagte Stubenvoll jetzt auf Anfrage dieser Seite. Aber in Deutschland war fünf Jahre lang die Botschaft vom Irrtum des einstigen Kommissionsvorsitzenden nie angekommen, es galt die Aussage von 2016. Als nach dem Grand Swiss im November 2021 die Norm-Frage erneut auftauchte, berief sich Pähtz auf Stubenvolls 2016 gegenüber dem DSB abgegebene Erklärung, auf deren Grundlage sie fünf Jahre lang davon ausgegangen war, zwei Normen unter Dach und Fach zu haben und noch eine für den GM-Titel zu benötigen. Dass die Erklärung nicht mehr gilt, offenbarte sich erst, als Stubenvoll den Fall jetzt erneut unter die Lupe nahm.

Ein Dutzend GM-Titel-Anträge. Die Titelkommission der FIDE empfahl dem FIDE-Rat, sie durchzuwinken – bis auf einen. Anstatt den Antrag wie empfohlen abzulehnen, beschloss der FIDE-Rat, die Entscheidung zu vertagen.

Im vergangenen halben Jahr haben alle Beteiligten in dieser Angelegenheit eine unglückliche Figur abgegeben. Die FIDE hatte im Rahmen der Grand-Swiss-Berichterstattung Pähtz voreilig als kommenden GM ausgerufen. Jetzt findet sie keinen besseren Weg zurückzurudern, als die seit einem halben Jahr gärende Sache zu vertagen.

“…will become a Grandmaster”, meldete die FIDE, “…wird den Titel erhalten” der DSB.

Auf deutscher Seite haben derweil Pähtz und ihr Verband versäumt, eine einheitliche Sprachregelung zu finden. Während DSB-Präsident Ullrich Krause bei TV ChessBase insistierte, die Norm von 2016 sei aus DSB-Sicht gültig und er sei “sehr optimistisch” in Sachen Titelverleihung, sagte Pähtz im Stream von chess.com etwas ganz anderes: Die FIDE habe zwei große Fehler gemacht (Stubenvolls Irrtum sowie die Grand-Swiss-Berichterstattung). Nun halte sie „Kulanz“ ihr gegenüber für angemessen und sehe „rechtliche Aspekte“.

Die Chose wäre nicht passiert, würden seitens der FIDE Normen verbindlich geprüft, sobald sie ein Schiedsrichter einreicht. Stattdessen liegen Normen so lange ungeprüft auf Eis, bis ein Titelantrag vorliegt.

Die Norm von der EM 2016, abgezeichnet vom Schiedsrichter. Sechs Jahre später scheint nun festzustehen, dass es keine Norm war. | via Zeitschrift Schach

Dieses Verfahren reduziert den Arbeitsaufwand erheblich: Die Mehrheit der Spieler, die Normen erzielen, schaffen nie einen Titel. Würden alle Normen sofort geprüft, würde sich in den Jahren danach ein erheblicher Teil dieser Prüfungen als hinfällig und nicht relevant erweisen.

Das neuerliche Pähtz-Drama offenbart jetzt die andere Seite der Medaille. Weil Normen nicht sofort geprüft werden, kann es passieren, dass sich ungültige Normen erst nach Jahren offenbaren, dass Titelkandidat:innen jahrelang im falschen Glauben am Brett sitzen und unter falschen Voraussetzungen operieren.

Das soll sich ändern. Der FIDE-Rat hat nach Informationen dieser Seite die „Qualification Commission“ jetzt aufgefordert, das gegenwärtige Verfahren einer Analyse zu unterziehen. Die Kommission soll dem Rat Vorschläge unterbreiten, wie sich die Effizienz des Verfahrens hinsichtlich der Anerkennung von Normen und Titeln verbessern lässt.

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Gustaf Mossakowski
1 Jahr zuvor

Digitalisieren! Dass da die FIDE etwas hintendran ist, sieht man direkt daran, dass die Namen für die Liste 6.11.2 offenbar per Hand abgetippt wurden. Sehr professionell, wenn man die Namen bereits digital vorliegen hat. Die Regeln ließen sich auch einfach in Code abbilden, dann könnten die Voraussetzungen sofort bei Auflistung der GM-Norm auf Gültigkeit geprüft werden. Aber dann bräuchte man natürlich all’ die schönen Kommissionen nicht mehr.

Kommentator
Kommentator
1 Jahr zuvor

“kann es passieren, dass sich ungültige Normen erst nach Jahren offenbaren, dass Titelkandidat:innen jahrelang im falschen Glauben am Brett sitzen und unter falschen Voraussetzungen operieren.”

Was soll bedeuten, der Titelkandidat habe unter falschen Voraussetzungen operiert? Hat sie ihr Tun in irgendeiner Weise im Vertrauen darauf ausgerichtet, die fragliche Norm sei gültig? Es ist nicht erkennbar, dass sie in Kenntnis der Unwirksamkeit dieser Norm sich in der Zwischenzeit irgendwie anders verhalten hätte. Dazu ist bislang auch nichts vorgetragen worden. Schutzwürdiges Vertrauen im Rechtssinne ist nicht erkennbar.

Krennwurzn
Krennwurzn
1 Jahr zuvor

Einfache Lösung: Elli macht eine echte 3. Norm – JA SIE SCHAFFT DAS!!!

vonundausdemWalde
vonundausdemWalde
1 Jahr zuvor

Es bleibt ein schaler Beigeschmack in mehrfacher Hinsicht: 1. Wenn sich Mitglieder der Titelkommission zu einem offenem bzw. vertagten Antrag äußern, so ist das in etwa so, als wenn Sachverständige bei einem laufenden Gerichtsverfahren sich schon an die Presse wenden. Die Entscheidungsgewalt über den Antrag liegt nicht mehr bei der Titelkommission, “Richter” ist der FIDE-Rat. 2. Der ewige Zeitraum, wann Normen geprüft werden, ist einfach nur amateurhaft. Die FIDE muss sich nicht wundern, dass so ein Fall mal auftritt, wenn über eine Norm nicht zeitnah entschieden wird bzw. diese geprüft wird. Dass sich dann Stubenvoll einfach entschuldigt, ist gegenüber einer… Weiterlesen »

Amontillado
Amontillado
1 Jahr zuvor

Was mich an der ganzen Sache irritiert, ist die Frage, WARUM die Norm denn damals eingereicht und bestätigt worden ist. Wenn sowohl der zuständige Schiedsrichter als auch der zuständige Kommissionsvorsitzende – also zwei Leute, die sich in der Materie nun wirklich auskennen – damals der Ansicht waren, dass eine gültige Norm erzielt worden ist, muss es dafür doch einen Grund gegeben haben. Stubenvolls “ich habe mich geirrt” erklärt doch gar nichts. Warum hat er sich denn geirrt? Das Problem mit der Norm scheint ja ein ziemlich offensichtliches zu sein, das den beiden Experten kaum entgangen sein dürfte, insbesondere – im… Weiterlesen »

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[…] sie der Zeitschrift Schach (12/21) erzählte. Beim Grand Swiss in Riga sei es ihr weniger um die seit Monaten debattierte GM-Norm gegangen, viel mehr um die Qualifikation für den Grand Prix, ihren zweiten nach 2019-21 – und […]

Jo Steinschuld
Jo Steinschuld
1 Jahr zuvor

Vor ein paar Wochen stand bei der FIDE auf EP’s page hinter dem
GM-Antrag status = open.
Jetzt ist der Antrag verschwunden.

HaNepo
HaNepo
1 Jahr zuvor

Wenn nachweislich ein finanzieller Schaden entstanden ist, wird man wohl auch erfolgreich dagegen klagen können.
Das ändert doch aber nichts an der Tatsache, dass die erforderlichen Normen noch nicht erreicht worden sind.

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