Kein Ding

Eigentlich wäre Ding Liren als Nummer drei der Welt einer der ersten Anwärter auf ein Match um den WM-Titel. Aber der Chinese könnte jetzt zum zweiten Mal in Folge zur tragischen Figur des WM-Zyklus werden. Nachdem er beim Kandidatenturnier 2020/21 unter widrigen Umständen außer Form gespielt hatte und ausgeschieden war, sind seine Chancen, sich für das Kandidatenturnier 2022 zu qualifizieren, jetzt erheblich gesunken. Den am Freitag in Berlin beginnenden Grand Prix, erster der drei finalen Qualifikationswettbewerbe fürs Kandidatenturnier 2022, wird er verpassen.

Ding Lirens Chance, sich fürs Kandidatenturnier 2022 zu qualifizieren, ist jetzt rapide geschrumpft. | Foto: Maria Emelianova/FIDE

Neben Ding Liren spielt auch der Russe Dmitry Andreikin in Berlin nicht mit. Diese beiden werden ersetzt durch die von der FIDE nachnominierten Andrey Esipenko (Russland, Elo 2718, Nr. 25 der Welt) und Radoslaw Wojtaszek (Polen, Elo 2686, Nr. 45). Die FIDE teilt mit, „Visa- und gesundheitliche Probleme“ hätten dazu geführt, dass Ding und Andreikin nicht teilnehmen. Offenbar betreffen die „gesundheitlichen Probleme“ Andreikin. Chess24 meldet, er sei positiv getestet worden.

Wegen Visaproblemen war vor Ding Liren schon dessen Landsmann Wei Yi aus dem Grand Prix ausgeschieden, bevor er begonnen hat. Nach Informationen dieser Seite besteht das Hauptproblem darin, dass die chinesischen Behörden derzeit nur wenigen Sportlern erlauben, zu Wettkämpfen im Ausland zu reisen (mehr zur chinesischen No-Covid-Politik). Dem Vernehmen nach hat Ding Liren zwar kurzfristig eine solche Erlaubnis bekommen, unter anderem auf Drängen des chinesischen Verbands, aber sein Antrag auf ein Visum, erst vor wenigen Tagen abgesandt, kam zu spät.

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Nun muss Ding Liren zuschauen. Er wäre der Topgesetzte im Feld der 16 Elitegroßmeister gewesen. Diese Rolle übernimmt Levon Aronian, der in der Vorrunde unter anderem auf Vincent Keymer treffen wird.

Auf Wiedersehen in Berlin: Levon Aronian und Vincent Keymer beim Grenke Classic 2019.

16 Spieler sind jetzt trotz der Ausfälle beisammen, aber beinahe hätte es an Brettern gefehlt. Ein für den Grand Prix bestelltes Paket mit vier DGT-Brettern ist nicht bei WorldChess in Berlin angekommen. Der russische Grand-Prix-Organisator wandte sich an den Deutschen Schachbund mit der Bitte um Hilfe. Der DSB wiederum gab die Bitte an Bernhard Riess weiter, Vizepräsident des Berliner Schachverbands und technikaffiner Schiedsrichter.

Retter in der Not: Bernhard Riess unternahm einen Ausflug nach Brandenburg, damit genügend Schachbretter für den Grand Prix zur Verfügung stehen. | Foto: privat

Es stellte sich heraus, dass für die Live-Übertragung nicht irgendwelche DGT-Bretter, sondern spezifisch solche mit serieller Schnittstelle benötigt werden. Solche Bretter hat Riess nicht, konnte aber einen Schiedsrichterkollegen benennen, der darüber verfügt. „Nur ist der dummerweise verreist“, berichtet Riess. Während der Kollege knapp 200 Kilometer entfernt weilte, lagerten seine Bretter bei ihm daheim in Berlin hinter verschlossenen Türen.

Kurzentschlossen setzten sich Riess und sein Kollege ins Auto und fuhren einander entgegen. Im Brandenburger Erholungsort Angermünde trafen sie sich zur Schlüsselübergabe. Riess fuhr zurück nach Berlin und holte die ersehnten Bretter. Am Abend des heutigen Mittwochs will er sie im World Chess Club Unter den Linden den Grand-Prix-Machern übergeben. Freitag, 15 Uhr, beginnen darauf die Partien der ersten Runde.

Den Berliner Grand Prix wird der einstige WM-Kandidat Dmitry Andreikin verpassen. Ob sich ihm trotzdem eine Möglichkeit eröffnen wird, zwei der drei Grand-Prix-Turniere zu spielen, ist ungewiss. | Foto: FIDE

Auch mit vollzähligen Brettern und Teilnehmerfeld, wie es jetzt mit dem Grand Prix weitergeht, ist ungewiss. Ding Liren bleibt auf der Liste für den März-Grand-Prix in Belgrad, der sein zweites Grand-Prix-Turnier hätte sein sollen. Aber mit einer Teilnahme allein die Qualifikation zu schaffen, dürfte kaum möglich sein. Auch Dmitrij Andreikin bleibt im Wettbewerb, er ist für den April-Grand-Prix in Berlin eingeplant. Ob die beiden nur ein Turnier des Preisgelds wegen spielen werden, auch ohne nennenswerte Aussicht auf die Qualifikation fürs Kandidatenturnier, ist offen.

Ding und Andreikin können spekulieren nachzurücken, sollte beim zweiten bzw. dritten Grand Prix jemand ausfallen. Ob die beiden auf diese Weise doch zu zwei Teilnahmen kommen könnten, war noch nicht in Erfahrung zu bringen. Wahrscheinlich ist es ungeklärt.

Wesley So ist schon in Berlin. | Foto: Grand Chess Tour

Auf der anderen Seite spielen im ersten Turnier jetzt Ersatzleute um Grand-Prix-Punkte und Preisgeld, die dafür bis vor wenigen Tagen gar nicht vorgesehen waren.  Dem Reglement nach haben Wojtaszek und Esipenko plötzlich eine Mini-Chance, sich mit einem Turniersieg in Berlin fürs Kandidatenturnier zu qualifizieren: Wer mitspielt, ist regulärer Teil des Wettbewerbs und spielt um alle ausgeschriebenen Preise.

Der Protest der Eheleute Karjakin, Esipenko statt Daniil Dubov hätte den Freiplatz bekommen sollen, ist in Teilen hinfällig. Jetzt sind beide Russen im Turnier. Daniil Dubov bleibt negativ getestet, und die hohe Wahrscheinlichkeit, dass er spielt, verdichtet sich zur Gewissheit.

Wesley So ist laut chess24 schon in Berlin angekommen. Vidit Gujrathi hat ein Foto seines Abflugs aus den Niederlanden, mutmaßlich mit dem Ziel Berlin, getwittert. Hikaru Nakamura ist längst da. Er hat am Dienstag in seinem Berliner Hotelzimmer einmal mehr den Titled Tuesday gewonnen (Platz neun: Rasmus Svane).

So ungewiss der weitere Fortgang der Grand-Prix-Serie sein mag, sicher ist jetzt schon, dass nach dem irregulären Kandidatenturnier 2020/21 auch der aktuelle WM-Zyklus von Irregularitäten geprägt ist. Mancher potenzielle WM-Kandidat, Wesley So etwa, hat der Pandemie wegen auf die Qualifikationspfade World Cup oder Grand Swiss 2021 verzichtet. Die meisten Chinesen haben gar nicht gespielt, und nun steht ein gewaltiges Fragezeichen über der letzten Kandidatenchance für die chinesische Nummer eins. Derweil wird mit Teimour Radjabov jemand im Kandidatenturnier 2022 vertreten sein, der dank seines Sieges im World Cup 2018 dabei ist.

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[…] dass er willens wäre, im Falle eines Grand-Prix-Siegs seinen Platz im Kandidatenturnier dem Unglücksraben Ding Liren zu […]