Grand Prix: kein Favorit, ein Gewinner – und ein Modus mit Zukunft

Magnus is simply not motivated”, schrieb Henrik Carlsen. Was klingt wie eine aktuelle Äußerung von Vater Carlsen zur Zukunft der WM-Matches und einer Titelverteidigung seines Sohns 2023, ist in Wirklichkeit längst Schachgeschichte. Ende 2008 teilte Henrik Carlsen der FIDE mit, dass sein Filius, Nummer vier der Welt, sich nach einer abermaligen Änderung des Reglements aus der neu geschaffenen Grand-Prix-Serie zurückzieht. Ihm fehle die Motivation.

In 14 Jahren Grand Prix haben die Verantwortlichen von Zyklus zu Zyklus an Modus und Regularien der WM-Vorstufe herumgedoktert. Nun könnte das vorerst endgültige Format gefunden sein. Die vier Vorrundengruppen in Berlin haben gezeigt, dass der Grand Prix in seiner neuen Form die Kampfeslust befördert. Schnell abmoderierte Partien waren die Ausnahme, Betonschach auch, Gefechte auf des Messers Schneide die Regel und die Remisquote überschaubar.

Wer hätte das gedacht: Der in der Weltrangliste wegen Inaktivität nicht mehr präsente Hikaru Namura spielte auf allerhöchstem Level mit, als wäre er nie weg gewesen. | Foto: World Chess

Vor dem Hintergrund einer neuerlichen Motivationskrise von Henrik Carlsens Sohn führt der Grand Prix 2022 seine beiden Sieger ins Ungewisse – ins Kandidatenturnier 2022, bei dem nicht klar sein wird, worum überhaupt gespielt wird (und was Teimour Radjabov, der Sieger des World Cups 2018, in diesem Wettbewerb zu suchen hat).

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Sollte einer der beiden Grand-Prix-Sieger Hikaru Nakamura heißen, ist nicht einmal auszuschließen, dass die einstige Nummer zwei der Welt seinen Hauptgewinn ablehnt. Schach-Streamer Nakamura hat schon angedeutet, dass er willens wäre, im Falle eines Grand-Prix-Siegs seinen Platz im Kandidatenturnier dem Unglücksraben Ding Liren zu überlassen.

Ungeachtet des zweiten irregulären WM-Zyklus’ in Folge: Allein anhand des Geschehens auf den Brettern lässt sich feststellen, dass der erste Grand Prix 2022 das attraktivste Turnier war und ist, das es in der Geschichte dieser Serie jemals zu sehen gab.

Der Weg dahin war lang. 2008-10, als sich neben Magnus Carlsen auch Michael Adams zurückzog, und 2012/13 bestanden die Grand Prix aus sechs Rundenturnieren. Aber der ambitionierte Plan, auf allen Kontinenten mit dem Grand Prix Turniere des WM-Zyklus auszurichten, funktionierte nicht.

Organisatorische Unsicherheit überschattete den Wettbewerb. Sponsoren auf allen Kontinenten waren nicht zu finden, manches Turnier wurde verlegt, verschoben, und, mit heißer Nadel gestrickt, kurzfristig im osteuropäischen Einflussbereich des damaligen FIDE-Chefs Kirsan Iljumschinov ausgetragen.

Vor der Serie 2014/15 drohte der Grand Prix gar nicht zustandezukommen. In letzter Minuten kündigte die FIDE eine abgespeckte Variante an: vier Turniere statt sechs, deutlich reduzierter Preisfond (knapp 500.000 Dollar statt wie bis dahin knapp 1,5 Millionen).

Vier Top-Ten-Spieler verweigerten die Teilnahme: Magnus Carlsen, Viswanathan Anand, Veselin Topalov und Levon Aronian waren durch die kurzfristige Ankündigung abgeschreckt – und vom reduzierten Preisfond nicht ausreichend angelockt.

Der Versuch, den World-Cup-Modus zu übertragen: Grand Prix 2019 in Hamburg. | Foto: Klaus Steffan

Der Grand Prix 2017 hätte eigentlich im Oktober 2016 gespielt werden sollen. Im Mai 2016 verkündete Agon-Chef und Grand-Prix-Organisator Ilja Merenzon, er hoffe, bald die Turnierorte bekanntgeben zu können. Stattdessen wurde die Serie beim FIDE-Kongress im September 2016 auf den Prüftstand gestellt und umgekrempelt.

Heraus kam ein Reinfall: Jeweils 18 der insgesamt 24 Teilnehmer des Grand Prix 2017 sollten dieses Mal in vier Schweizer-System-Turnieren die Sieger ermitteln. Es offenbarte sich, dass dieses System in erster Linie schnelle Unentschieden produziert. Allzu oft waren beide Spieler mit einen halben Punkt zufrieden – und handelten entsprechend.

2019 der Versuch, das World-Cup-K.o.-System auf den Grand Prix zu übertragen: vier Turniere (Moskau, Riga, Hamburg, Jerusalem) mit jeweils 16 Spielern. Viel besser funktionierte das nicht. Oft waren die Großmeister geneigt, die Entscheidung ihrer Mini-Matches in den Schnellschach-Tiebreak zu verlegen. Diese Tiebreaks alle drei Tage waren aufregend zu verfolgen, die Mehrheit der klassischen Partien zwischen den Tiebreaks nicht.

Und jetzt das:

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2022 in Berlin offenbarte sich von Beginn an, dass alle Teilnehmer im Kampf um den für den Halbfinaleinzug nötigen Gruppensieg auf volle Punkte aus waren, und in allen Gruppen bis auf eine war bis zum Schluss unklar, wer am Ende oben stehen würde. Schließlich zogen mit Richard Rapport und Leinier Dominguez sogar zwei Spieler ins US-dominierte Halbfinale ein, die sich im Lauf der Vorrunde eine Null eingehandelt hatten.

Wesley So brachte nach seinem Tiebreak-Aus gegen Dominguez das Drama eines Kampfs auf Augenhöhe über die kurze Distanz auf den Punkt: “Das ist Schach. Du trainierst so hart, und am Ende hängt doch alles von diesen Sekunden ab, in denen du Entscheidungen treffen musst.”

Nach dem Ende der Vorrunde nun das Halbfinale. Wer aus den Matches Nakamura vs. Rapport und Aronian vs. Dominguez als Sieger hervorgeht, erscheint offen. Ein klarer Favorit für das erste von drei Grand-Prix-Turnieren zeichnet sich nicht ab.

Ein Gewinner steht schon fest.

Erinnert sich jemand an das Super-Open auf der Isle of Man 2018? Vincent Keymer hatte im Verlauf eines starken Turniers unter anderem den ehemaligen WM-Herausforderer Boris Gelfand geschlagen. In der letzten Runde, Schwarz gegen Emil Sutovsky, reichte ihm ein halber Punkt für die dritte GM-Norm und damit den Titel. Als 13-Jähriger!

Was tat Keymer? Er setzte Sutovsky seinen Najdorf vor, die beiden begaben sich schnurstracks in die haarsträubend scharfe Bauernraub-Variante. Sehr bald stand die Angelegenheit Spitz auf Knopf. Ein voller Punkt hier oder dort war das wahrscheinlichste Ergebnis. Der für den GM-Titel nötige halbe Punkt nicht.

Keymer tat das, was er und sein Coach Peter Leko als rechten Weg identifiziert hatten, nachhaltig besser im Schach zu werden, das, was gerade erst der neue Perlen-Autor Noël Studer jedem Schachspieler nahegelegt hat: Siehe Partien gegen starke Gegner als Gelegenheit, daran zu wachsen. Verschwende sie nicht, suche einen Kampf, spiele offensiv, anstatt Beton anzurühren.

2018 in der letzten Runde auf der Isle of Man zeigte sich, dass Keymer diesem Prinzip sogar in einer Konstellation treu blieb, in der die meisten anderen sich von Ergebnisdenken hätten leiten lassen, um möglichst die Norm und den Titel einzufahren.

Lehrstunde: Aronian vs. Keymer.

Um Norm und Titel geht es für GM Vincent Keymer anno 2022 längst nicht mehr. Aber das Prinzip gilt noch, wie sich zuletzt Keymers Ausführungen zu seiner anhaltenden Sponsorensuche entnehmen ließ. In den kommenden ersten Jahre seiner Profikarriere wird sich Keymer die Turniere nicht danach aussuchen, wo die Wahrscheinlichkeit am höchsten ist, Preisgeld zu gewinnen. Kurzfristig sind Ergebnisse zweitranging, es geht vorrangig darum zu lernen und besser zu werden, so gut wie eben möglich.

Klassische Partien gegen einen Elite-Großmeister vom Format Levon Aronians sind die bestmögliche Gelegenheit, um daran zu wachsen. Aber nun war die erste Partie gegen Aronian zu einer einseitigen Lehrstunde geraten (siehe Video oben). Dieser Schwarz-Null folgte eine weitere gegen Daniil Dubov, der sich gezielt ein Caro-Kann-Abspiel ausgeguckt hatte, in dem Keymer objektiv dem Ausgleich nahe ist, aber praktisch mit computerhafter Präzision ein konkretes Problem nach dem anderen lösen muss, während Weiß, getragen von seiner Kompensation, genüsslich Fragen stellen kann.

Nach diesen beiden Nullen ging es wieder gegen Aronian, mit Weiß diesmal. Und wie 2018 auf der Isle of Man hätte jeder verstanden und gutgeheißen, hätte Keymer versucht, mit einem halben Punkt in der Tasche zu spielen und zuvorderst nichts anbrennen zu lassen.

Von wegen, Keymer spielte alles oder nichts, volles Risiko. Der 17-Jährige sprang den Weltranglistenfünften an, als zähle nur der ganze Punkt. Von einem Leistungsknick nach zwei Nullen in Folge war nichts zu sehen. Aronian musste bis in die Zeitnotphase das gesamte Können eines 2800ers aufbieten, um die Partie in der Waage zu halten.

Wie 2018 gegen Sutovsky: Spitz auf Knopf, nur auf noch höherem Level als damals schon. Die beiden produzierten ein Gefecht, das mindestens das Prädikat “denkwürdig” verdient. Keymers kühle Erwägung, von so einer Gelegenheit am ehesten in einem Kampf auf Biegen und Brechen zu profitieren, ließ ihn ein ein heiße Partie anzetteln:

Als ob nur der volle Punkt zählt: Das denkwürdige Gefecht Keymer-Aronian.

Sie endete, unglücklich, mit Keymers dritter Null in Folge, eine Niederlagenserie, die die meisten Sportler angeknackst zurückgelassen hätte. Natürlich sah 2730-Großmeister Vidit Gujrathi nach dieser langen Rochade die Zielscheibe auf Keymers Rücken: ein angeschlagener und in der Tabelle abgeschlagener Gegner, der beide Schwarzpartien bis dahin klar verloren hatte, ein willkommenes Opfer, um das eigene Turnier mit einem Sieg abzuschließen.

Vidit versuchte es nach Kräften. Als Keymer im Mittelspiel für einige Züge ins Driften geriet, schlug der Engine-Bewertungsbalken bedenklich zugunsten des Inders aus, der Deutsche stand mit dem Rücken zur Wand. Es folgte eine Massage bis tief ins Endspiel, die wenige Großmeister überstanden hätten, auch solche voller Selbstvertrauen nach einer Siegesserie.

Monument der Stabilität: Vidit drückte, Keymer hielt.

Am Ende stand ein Monument der Stabilität des jüngsten Grand-Prix-Teilnehmers. Nachdem er drei Partien in Folge verloren hatte, führte er eine Abwehrschlacht gegen einen unermüdlich drückenden Spieler der erweiterten Weltklasse zum Teilerfolg. Fast alle anderen Großmeister an Keymers Stelle wären unter dem Druck des Inders früher oder später eingebrochen. Keymer hielt.

Wie klar Vincent Keymer seinen weiteren Weg vor sich sieht, wie wenig Bedeutung er kurzfristigen Ergebnissen beimisst, hatte er schon direkt nach der Niederlage gegen Aronian in aller Sachlichkeit erklärt:

So spricht niemand, der angeschlagen ist, der aus Frust über die dritte Null die Sache nun nur noch beenden will. Der Grand Prix in Berlin war nur eine Etappe, die dem Ziel diente, den Schachprofi Keymer stärker zu machen.

Bis in welche Höhen Vincent Keymers Weg führen mag, das weiß er selbst nicht. Aber schon als 17-jähriger Aufsteiger hat er den bis jetzt letzten deutschen Weltklassespieler in Sachen mentaler Stabilität und professioneller Attitüde längst übertroffen.

Weitere Gelegenheiten, im Kampf mit Elitegroßmeistern zu wachsen, werden sich sehr bald einstellen – zum Beispiel am heutigen Samstag. Um 18 Uhr beginnt das Auftaktturnier der neuen, mit 650.000 Dollar Preisgeld dotierten Rapid-Serie auf chess.com, die auf Top-100-Spieler plus die besten Frauen und Junioren zugeschnitten ist. Neben Liviu Dieter Nisipeanu ist Vincent Keymer der einzige Deutsche, der mitspielen dürfte. Ob er spielt, erscheint so kurz nach dem Grand Prix allerdings ungewiss. (Nachtrag: Er hat mitgespielt, es aber nicht ins heutige K.o.-Finale der besten Acht geschafft.)

schachnews: Airthings Masters bringt die Meltwater Champions Chess Tour 2022  ins Rollen | chess24.com

Gewiss wird Keymer am kommenden Wochenende am virtuellen Brett sitzen. Am 19. Februar beginnt das “Airthings Masters”, das Auftaktturnier der 2022er Auflage der Carlsen-Tour, der “Meltwater Champions Chess Tour”. Unter Keymers Gegner finden sich zahlreiche Spieler der Weltelite, dazu einige der hoffnungsvollsten Junioren. Gut vier Wochen später, ab dem 21. März, steht in Berlin mit dem dritten und letzten Grand-Prix-Turnier ein weiteres Heimspiel im Kreis der Weltelite auf dem Programm.

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2 Jahre zuvor

Bei der Chess.com Rapid Championschip dürfen auch Matthias Blübaum und Alexander Donchenko mitspielen. “(…) Spieler, die zwischen Jänner 2021 und Februar 2022 in der FIDE-Top-100-Liste für die klassische Elo standen oder stehen, sind teilnahmeberechtigt. (…)”