Der attraktive Dieter

Mit 3:1 schlug die Mannschaft der Bundesrepublik bei der Schacholympiade 1964 in Tel Aviv die Sowjets, eine Sensation. Die Schlappe gegen Unzicker, Schmid, Pfleger & Co. war die zweite Niederlage des Seriensiegers UdSSR bei Schacholympiaden überhaupt. Natürlich gewannen die weltmeisterlich besetzten Sowjets (Petrosian, Botwinik, Keres, Spasski, Bronstein) das Turnier damals trotzdem. Die Amateure aus Deutschland wurden Dritter.

In der Schachgeflüster-Episode „Der Zugbegleiter“ hat Helmut Pfleger unlängst an die deutsche Bronzemedaille in Tel Aviv 1964 erinnert. Einer von Pflegers Mitspielern in der Nationalmannschaft 1964 war Dieter Mohrlok (1938-2010). Dieser lebte wie ich in Stuttgart, was für mich Grund genug war, mich auf eine Spurensuche zu begeben.

Dieter Mohrlok war einer von wenigen Schachmeistern, die internationale Erfolge im Nah- und Fernschach gefeiert haben. Seine höchste Weltranglistenposition erreichte Mohrlok laut Chessmetrics im April 1971 mit Rang 121. Zwischen 1962 und 1976 nahm er an vier Schacholympiaden teil, außerdem an der Mannschafts-EM in Moskau 1977. „Als er beim Turnier in Büsum 1969 den Titel ‘Internationaler Meister’ errang, war sein Ehrgeiz für das Gebiet des Nahschachs befriedigt. Er wandte sich dem Fernschach zu; hier erstrebte und erreichte er den Titel ‘Großmeister'”, schreibt Robert Hübner über unseren Protagonisten in seinem Buch „Büsum 1968“.

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Mohrloks Mutter kennen wir schon als geplagte Gastgeberin Friedrich Sämischs:

Mindestens ebenso prägend für seine Schachlaufbahn war sein Vater. Einen „schachbegeisterten Amateur“ nennt Mohrlok diesen in seinem Kaissiber-Artikel aus dem Jahr 2010. Auch mit Vater Mohrlok spielte Sämisch während seines Hausbesuchs bei den Mohrloks viele freie Partien.

Mit dem Vereinsschach begann Dieter Mohrlok als Jugendlicher beim damals führenden württembergischen Verein „Stuttgarter Schachfreunde 1907“. (Dieser Verein fusionierte 1971 mit dem „Schachverein Stuttgart 1879“ und wurde zum heute bekannten Stuttgarter Schachfreunde 1879 e.V.) Mohrloks Ehrgeiz im Verbund mit der großmeisterlichen Förderung zahlten sich aus. 1956 gewann er mit einem halben Punkt Vorsprung vor Hans-Joachim Hecht die Deutsche Jugendeinzelmeisterschaft in Traben-Trabach. 

Die Bronzemedaillensieger von Tel Aviv 1964.
(via Wikipedia)

Auch seine Stuttgarter Vereinskameraden überflügelte er bald, wurde 1958 Meister von Württemberg und qualifizierte sich mit Eintritt in den Erwachsenenbereich nahtlos für die Deutsche Meisterschaft, wo er „zwischen 1959 und 1967 zum Dauergast wurde und immer gute Mittelplätze belegte“, wie Robert Hübner in „Büsum 1968“ weiter zu berichten weiß. 1962 wurde Mohrlok deutscher Pokalmeister im Dähne-Pokal. Bei der Schacholympiade 1964 in Tel Aviv trug er mit einer soliden Leistung an Reservebrett 1 (4,5 aus 9) zum Gewinn der Bronzemedaille bei. 

Bad Aibling 1965

Erfreulicherweise sind aus jenen Jahren bewegte Bilder erhalten. Mein Oeffinger Vereinskollege Jörg Schembera ist Betreuer des württembergischen Verbandarchivs; wie er mir mitteilte (allerbesten Dank – auch für das Stöbernlassen in den alten Schachzeitungen!), existiert in der Filmothek des Bundesarchivs eine tolle, circa 70-sekündige Reportage aus der 60er-Jahre-Wochenschau „Die Zeit-Lupe“ (wurde in den Kinos vor den Hauptfilmen gezeigt) von der Deutschen Einzelmeisterschaft 1965 in Bad Aibling. Unter anderem sind außer den beiden Co-Siegern Wolfgang Unzicker und Helmut Pfleger (der junge blonde Herr mit der schwarzen Brille) Dieter Mohrlok und das damals auf Platz fünf einkommende, 16-jährige Supertalent Robert Hübner bei seiner ersten Teilnahme zu sehen. 

Der Schachbeitrag von 1965 mit bewegten Bildern von Hübner, Pfleger, Unzicker oder Dieter Mohrlok (siehe Screenshot) beginnt bei Minute 4:13.

Angekündigt wird der Beitrag als „Die Akrobatik der Woche“, eingerahmt von Ausschnitten wie der Wiederwahl Ludwig Erhards zum Bundeskanzler, der drei Jahre zuvor gekrönten Königin Elisabeth von England beim Besuch eines hydroelektrischen Kraftwerks im schottischen Hochland (55 Jahre später ist sie immer noch im Amt!) und Uwe Seeler beim Fußballspielen. Mehr Informationen, kommentierte Partien und Fotos der Teilnehmer des Turniers hält der Schachklub Bad Aibling bereit.

Auffahrunfall dank Springer f6

Seinen Lebensunterhalt konnte Mohrlok nicht durchs Schachspielen bestreiten, er war gleichzeitig Leiter eines Taxiunternehmens. Eine passende Autofahrergeschichte findet sich im bereits besprochenen Buch „Schach in Württemberg“, als Herter über das Kandidatenturnier in Berlin 1960 berichtet:

Dieter Mohrlok, der bei diesem Turnier mit Glanz Erster wurde, hatte sein funkelnagelneues Auto dabei, eine Arabella. So hatten wir keine Transportprobleme. Eines Tages fuhr Ludwig Rellstab mit, der allseits bekannte liebenswürdige »Schachprofessor«. Er saß zusammengesunken auf dem Beifahrersitz, das Magnetschach auf dem Bauch aufgestützt, und analysierte Dieters letzte Partie. »Sagen Sie, Herr Mohrlok, wie wäre Sf6 gewesen?«, fragte der Altmeister. »Schlecht, ganz schlecht, absolut positionswidrig«, so ähnlich war die Antwort. Rasch fertig ist die Jugend mit dem Wort … Rellstab war aber noch nicht befriedigt, er kam wieder auf seinen Vorschlag zurück. »Ach was«, sagte Dieter, »dann spielt man einfach das und das«. Doch nach einer kurzen Weile kam der »Schachprofessor« zum dritten Mal. Jetzt war Dieter verärgert; er griff nach rechts ins Magnetschach und führte den Gegenzug aus. In diesem Augenblick krachte es, und der Auffahrunfall mitten auf dem Ku’damm war dank Sf6 perfekt!

Ein nächster Höhepunkt in Dieter Mohrloks Laufbahn war der Gewinn der Deutschen Mannschaftsmeisterschaft mit seinem Verein, den Stuttgarter Schachfreunden.  

Büsum 1969

Den beeindruckendsten Einzelerfolg seiner Nahschach-Karriere erreichte „der attraktive Dieter“ (wie er unter einem Foto auf Seite 74 in Herters Buch aufgrund seiner Erfolge auch bei der Damenwelt bezeichnet wird) im Jahr 1969. Wie bereits von Hübner zitiert, holte er sich in Büsum beim 2. Adolf-Anderssen-Gedenkturnier den IM-Titel. 

Auch Altmeister Sämisch begegnet uns hier wieder. Über dessen Abschneiden schrieb Hans-Joachim Hecht in seinem Artikel „Das Zittern um die Titel/Abschlussbericht aus Büsum“ für die Deutsche Schachzeitung im Juli 1969: „Sämisch spielt nach wie vor ein sehr gutes Schach, aber solch ein Turnier ist einfach zu schwer für ihn, und wer 15 Mal die Zeit überschreitet, der sollte ein so starkes Turnier nicht mehr spielen.“ 

Zeitgeschichte im Zonenrandgebiet, Schießübungen in Argentinien, Überfälle in Moskau: Die lesenswerten Erinnerungen von Großmeister Hans-Joachim Hecht.

Tatsächlich wurde Büsum 1969 zum letzten internationalen Auftritt für den zu diesem Zeitpunkt 71-jährigen Sämisch. Die deutschen Spitzenspieler, die ihn persönlich kannten, sprachen stets mit Hochachtung von ihm. „Immerhin ist es seiner Bereitschaft, kurzfristig für Padevski einzuspringen, zu danken, dass ein 1a-Turnier zustande kam“, federt dann auch Hecht seine strengen Worte im weiteren Text ein wenig ab. Tatsächlich konnten durch die Teilnahme von Sämisch sowohl er selbst, als auch Dieter Mohrlok, Mathias Gerusel und auch Robert Hübner bei diesem Turnier den IM-Titel erringen. 

Letzterer hat über die erste Ausrichtung des Turniers im Jahr 1968, also ein Jahr zuvor, kurioserweise erst fünfzig Jahre später, 2018, das bereits erwähnte schöne Turnierbuch veröffentlicht.

Mohrlok spielte 1969 in dem Seebad-Ort in Schleswig-Holstein mit einer nachträglich berechneten Ratingperformance von 2575 das Turnier seines Lebens. Allein gegen die acht teilnehmenden Großmeister erzielte er fünf Punkte.     

IM-Titel für Mohrlok, Hecht, Gerusel und Hübner: Die Abschlusstabelle von Büsum 1969.

Turniersieger Bent Larsen unterlag Mohrloks Angriff in 32 Zügen. Hier ein Diagramm von der Stellung nach dem 17. Zug von Larsen (Schwarz):

Ob Mohrlok zu diesem Zeitpunkt seinen Oberkörper wie ein Uhrpendel von einer Seite auf die andere zu schwingen begann, wissen wir nicht – laut Robert Hübners Beschreibung in „Büsum 1968“ tat er nämlich genau dies für gewöhnlich, wenn es beim Spielen spannend wurde, also möglicherweise auch in dieser Position. 

18.h4 

Im unbedingten Gewinnbestreben hat Larsen unter großem Risiko das Feuer auf sich gezogen, der weiße Angriff sieht kreuzgefährlich aus. Nach 18…Kh7 (um nach 19.h5 den Zug Tg8 folgen lassen zu können) ist Schwarz im Nachteil, aber noch nicht forciert verloren. Larsen zog jedoch 18…h5? und wurde nach 19.Sxh5 weggefegt. 

Der Däne war zu diesem Zeitpunkt alles andere als Laufkundschaft, er galt gemeinsam mit Bobby Fischer als „Best of the West“ und durfte im Jahr darauf sogar vor Fischer das erste Brett für die Auswahl „Rest der Welt“ im sagenumwobenen Wettkampf gegen die UdSSR einnehmen (wo er gegen Stein und Spassky starke zweieinhalb Punkte aus vier Partien holte). 

Zum Turnier in Büsum 1969 räumte Larsen später in seinem Buch „Alle Figuren greifen an“ (Band eins) allerdings freimütig ein, nicht in Form gewesen zu sein: „Mein Turniersieg erschien glücklich, immerhin stand ich in einigen Partien am Rand der Niederlage.“ Im Buch präsentiert er seine siegreiche Partie gegen Milko Bobozow („Meine kürzeste Gewinnpartie gegen einen Großmeister!“):

International bekannt ist Larsens Werk vor allem wegen seiner fein- und scharfsinnigen Annäherung an Bobby Fischer. Aber auch Büsum 1969, wo der damalige Weltklassespieler nur gegen Dieter Mohrlok verlor, spielt eine Rolle.

(Wird fortgesetzt) 


Unter seinem Pseudonym „Nathan Rihm“ hat Martin Hahn bereits zwei Gedichtbände veröffentlicht. Mehr über ihn auf der Nathan-Rihm-Fanpage bei Facebook. Kontakt: nathanrihm@gmx.de

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Claus Seyfried
3 Jahre zuvor

Vielen Dank lieber Martin, für diese erneute Würdigung des langjährigen früheren Stuttgarter Spitzenspieler und absoluten Stars. Gut und kurzweilig geschrieben, und alles dabei, was wichtig ist. Die Reportage aus dem Bundesarchiv lässt eine lange vergangene Zeit aufleben. Ja, von deinem Vereinskollegen Jörg Schembera hatten wir auch schon mal diesen Tipp erhalten und hier verwertet:
https://www.stuttgarter-schachfreunde.de/?content=/news_details/2015/443/443.html

Martin Hahn
Martin Hahn
3 Jahre zuvor

Vielen Dank an Claus Seyfried für das positive Feedback!

Kleiner Nachtrag noch zum Artikel: Es gab offenbar eine kleine Vorgeschichte zum von H.J. Hecht zitierten Satz „Sämisch spielt nach wie vor ein sehr gutes Schach, aber solch ein Turnier ist einfach zu schwer für ihn, und wer 15 Mal die Zeit überschreitet, der sollte so ein starkes Turnier nicht mehr spielen.“

Wie mir ein aufmerksamer Leser schrieb, erwähne Hecht in seinem Buch „Rochaden“, Sämisch habe an ihn gerichtet in Büsum 1969 gesagt „Sie sind kein besonders schlechter, aber auch kein besonders guter Spieler.“

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[…] Dieter Mohrlok hat kurz darauf in Büsum sein bestes Turnier gespielt. Den Grundstein dafür legte er in […]