Erst den Faden, dann die Partie verloren: Keine GM-Norm für Vincent Keymer

Ruhig bleiben” hatten wir in einem unserer meistgelesenen Artikel gemahnt, nachdem Vincent Keymer das Grenke Open gewonnen und sich die erste von drei zum Titel notwendigen Großmeisternormen gesichert hatte. Als er dann in Dänemark sofort die zweite Norm nachlegte, wurden auch wir ein wenig nervös. Sollte es doch so schnell gehen? Würde das deutsche Supertalent beim Sants Open in Barcelona noch eins draufsetzen? Drei Normen am Stück und den Titel gleich dazu? Als 13-Jähriger?

Ruhig bleiben. Vincent Keymer wird Großmeister, vielleicht nicht mehr dieses, aber dann mit hoher Wahrscheinlichkeit nächstes Jahr. In Barcelona jedenfalls (das Turnier läuft noch) wird es nicht reichen. Wie schon beim Open in Bamberg wackelte Vincent Keymer zwar in den ersten Runden des Turniers (in Runde eins stand er gar auf Verlust, als sein Gegner aufgab), dennoch standen nach drei Runden drei Punkte zu Buche.

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Anton Demchenko.

In der vierten Runde wartete dann die Nummer eins der Setzliste, der russische Großmeister Anton Demchenko mit seinen stattlichen 2.670 Elo-Punkten. Und auch der hätte sich nicht beschweren können, wenn er gegen Keymer mit seiner Experimental-Eröffnung baden gegangen wäre. Aber der Deutsche fand in vorteilhafter, gleichwohl schwieriger Stellung nicht den richtigen Plan, spürte das wohl und verlor dann erst den Faden und dann die Partie. Das allein wäre noch nicht so schlimm gewesen, aber da es Vincent Keymer in der fünften Runde gleich noch einmal erwischte, ist die Chance auf eine Norm dahin.

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Die nächste kommt bestimmt, zum Beispiel Ende Oktober auf der Isle of Man, wo neben Keymer gleich mehrere Top-10-Spieler um knapp 140.000 Pfund Preisgeld kämpfen werden.

Eröffnungsübersicht: Beschleunigtes Damenindisch

Weil die Partie zwischen Keymer und Demchenko leider keine solche wurde, die Eröffnung aber in praktischer Hinsicht für viele Schachspieler interessant sein dürfte (was ein 2.670-GM als Gelegenheitswaffe anwendet, sollte auch für Normalsterbliche funktionieren), haben wir Euch als Basis für weitere Nachforschungen eine kleine Eröffnungsübersicht zum Beschleunigten Dameninder (1.d4 Sf6 2.c4 b6) zusammengestellt.

Das Partiefragment ohne Kommentare, aber inklusive aller Varianten findet Ihr hier als Lichess-Studie.

Vincent Keymer (2.493) – Anton Demchenko (2.670)
Barcelona, 20. August 2018, Beschleunigtes Damenindisch

1. d4 Nf6 2. c4 b6

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Eine abseitige, aber nicht absurde Eröffnungswahl des russischen Großmeisters, der damit andeutet, dass er Keymer einen komplizierte Kampf auf unerforschtem Territorium aufzuwingen will und unter Umständen bereit ist, dafür eine objektiv schwierige Stellung zu spielen. Mit 2… b6 ist klar, dass sich Schwarz nicht mit einem schnellen Remis zufrieden geben würde, um dann in der nächsten Runde mit Weiß wieder anzugreifen. Schwarz will mehr.

Demchenkos “Beschleunigstes Damenindisch” unterscheidet sich vom regulären Damenindisch darin, dass Weiß den Vorstoß e2-e4 ohne Mühe durchsetzen kann. Reguläres Damenindisch hingegen (1.d4 Sf6 2.c4 e6 3.Sf3 b6) ist in den meisten Varianten von einem Kampf um das Feld e4 gekennzeichnet, das zunächst Schwarz kontrolliert.

3. Nc3 Bb7 4. d5

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Eher selten gespielt, aber logisch. Im Dameninder ist es für Weiß oft erstrebenswert, per d4-d5 den Lb7 von der Partie auszuschließen. Hier kann Weiß d4-d5 einfach so spielen, warum also sollte er das nicht tun?

(4. Qc2 ist der geläufige und gute Hauptzug. Die entstehenden Stellungen erinnern ein wenig an den 4.a3-Dameninder – mit dem Unterschied, dass Weiß nicht a2-a3 spielen muss. Weiß könnte daher behaupten, dass er per 4.Dc2 oft einen 4.a3-Dameninder mit Mehrtempo aufs Brett bekommt. 4… d5 5. cxd5 Nxd5 6. e4

(6. Nf3 Nimmt (wie in der Marshall-Verteidigung) erst den zentralen Gegenschlag …e7-e5 aus der Stellung, bevor er im Zentrum expandiert. 6… Nxc3 7. bxc3 g6 8. e4 Bg7 9. h4!? h6 10. Be3 Nd7 11. Rd1 e6 12. e5 Qe7 13. Bd3 Rc8 14. Be4 Bxe4 15. Qxe4 war wegen der weißfeldrigen Probleme des Schwarzen am Damenflügel günstig für Weiß in Khismatullin,D (2617)-Moiseenko,V (2528), Sochi 2016, 0-1 (74).)

Keymer3

6… Nxc3 7. bxc3 e5 8. Nf3 exd4 9. Bc4! (Diagramm) Ein knackiges Bauernopfer, das das Abspiel 6.e4 kritisch macht. Den Bauern nimmt der Schwarze besser nicht, wenn ihm nicht an einer schnellen Exekution gelegen ist. 9… Nc6 10. O-O d3 Will ein wenig Zeit gewinnen und die weiße Koordination stören… 11. Bxd3 (11. Qa4 Sieht gefährlich aus, aber führt zu nichts: 11… Qd7 12. Rd1 Ne5 13. Bb5 Nxf3+ 14. gxf3 c6 15. Bxd3 und der zersplitterte weiße Königsflügel gab dem Schwarzen ausreichendes Gegenspiel in Navara,D (2739)-Kempinski,R (2586), Poland 2017, remis (37).) …aber wer die Stellung genauer anguckt, stellt fest, dass nun mit Macht e4-e5 in der Luft liegt, und Schwarz bekommt arge Problem damit, sich eine sichere Rochadestellung am Königsflügel zu verschaffen.

Keymer4

Um e4-e5 aus der Stellung zu nehmen, ist 11… Qe7! (Diagramm) mit dem Plan …0-0-0 schon fast der einzige schwarze Zug, aber das behindert die Entwicklung des Lf8. Dennoch scheint die lange Rochade eine starke Option zu sein. Bislang sprechen die Ergebnisse in diesem Abspiel für Schwarz, aber Weiß hat hier so viele Möglichkeiten (12.Sd4, 12.a4 und einige mehr), dass wir erst mindestens noch zwei Dutzend weitere Partien sehen wollen, bevor wir möglicherweise das Urteil abgeben, dass Schwarz im bevorstehenden scharfen Kampf annähernd gleiche Erfolgsaussichten hat. Bis dahin nehmen wir stirnrunzelnd zur Kenntnis, dass die Maschine die schwarze Stellung für völlig in Ordnung hält.)

(4. f3 ist eine andere Möglichkeit, sich ein breites Bauernzentrum zu basteln. 4… d5 5. cxd5 Nxd5 6. e4 Nxc3 7. bxc3 sieht aber ok für Schwarz aus, sowohl nach 7…e5 wie nach 7…e6 und späterem …c5.)

4… e6

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5. e4

(5. a3 Typischer Zug in solchen Stellungen, um …Lb4 mit Druck auf das weiße Zentrum zu verhindern. 5… exd5 6. cxd5 Bd6 7. Nf3 O-O 8. g3 Na6 9. Bg2 Nc5 führte nicht zu schwarzen Problemem in Zhigalko, S (2620)-Kovalev,V (2639), Orsha 2018, remis (14).)

5… exd5?!

Wir müssen Schachfreund Demchenko an dieser Stelle mit einem “?!” strafen, weil alles, was nun folgt, angenehm für Weiß aussieht.

(5… Bb4 6. Bd3 Droht e5. 6… Bxc3+ 7. bxc3 d6 Sah eher nach Nimzo-Indisch im Sinne von Robert Hübner aus und erwies sich als prima spielbar für Schwarz in Bacrot,E (2718)-Mamedyarov,S  (2765), Beijing 2014, 0-1 (27).)

6. cxd5 Bb4 7. Bd3

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7… Qe7

Bislang mehrheitlich von den Schwarzen gespielt, aber nun weist Keymer als erster Weißer überzeugend nach, dass Weiß an dieser Stelle schon erheblichen Vorteil hat.

(7… c6 8. d6!?N Ein entzückendes Bauernopfer, vorgeschlagen von der Maschine, auf das am Brett bislang kein Mensch gekommen war. Sieht gut aus für Weiß, egal, welchen Weg er danach einschlägt: 8… Bxd6 9. Nf3 Be7 10. e5 Nd5 und Weiß kann, muss aber gar nicht auf d5 schlagen, was zwar die schwarze Struktur ruiniert, aber die Entwicklung des Damenflügels vereinfacht. Nach z.B. 11.Se4 oder ganz einfach 11.0-0 kann Weiß genauso gut auf Kompensation pochen.)

(7… O-O Natürlich kann Schwarz jedem Handgemenge aus dem Weg gehen, gar nicht erst nach konkretem Spiel suchen und sich einfach entwickeln, aber dann steht er ohne Zentrum und mit einem problematischen Damenflügel da. 8. Nge2 Re8 9. O-O mit weißem Vorteil.)

8. Nge2!N

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Ein Bauernopfer, die stärkste Möglichkeit. Weiß setzt auf schnelle Entwicklung und das Läuferpaar.

8… Bxc3+ 9. bxc3

Zwar verliert der den Lb7 neutralisierende d5-Bauer nun seine Stütze auf e4, aber dank bxc3 ist jetzt c3-c4 möglich, und die weiße Speerspitze auf d5 bleibt stabil.

(9. Nxc3?! Nxd5)

9… Nxe4 10. O-O Nc5 11. Bc2 Nba6 12. Nd4 O-O-O

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Weiß steht riesig, nach Einschätzung der Maschine nahe am Gewinn. Warum? Weil Schwarz zwei Figuren weniger hat. Sobald Weiß d5 per c3-c4 stabilisiert hat, spielt der Lb7 nicht mit, und der Sa6 findet so schnell keinen Weg in die Partie. Aber Weiß muss an dieser Stelle den richtigen Plan finden, und das ist nicht trivial.

13. Nf5?

(13. Rb1! hält Stockfish bei Suchtiefe 40 für am besten mit der Idee, den Sa6 nicht ins Spiel kommen zu lassen, wenn Weiß den c-Bauern vorschickt, damit der seinen Kollegen auf d5 stützt. So bleibt das Feld b4 unter weißer Kontrolle. Weiß lässt fast immer c3-c4 und dann a2-a4-a5 folgen und organisiert erst einmal Spiel gegen den schwarzen König. Am Damenflügel durchzubrechen ist angesichts der stabilen schwarzen Konstruktion freilich nicht leicht. Aber weil die schwarzen Figuren am Damenflügel unter Quarantäne stehen, kann es sich der Weiße mittelfristig oft leisten, auch am Königsflügel Material einzusammeln, ohne gefährliches Spiel gegen seinen König befürchten zu müssen. Oder in Worten der Maschine: “Plus 1,2.” 13…Bxd5?? 14. Nf5 Qe5 15. Qxd5 gewinnt sofort.)

13… Qe5

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14. Be3

(14. d6 führt laut Stockfish noch zu ein wenig weißem Spiel, aber die Maschine überschätzt gerne aktive Möglichkeiten, während ein Mensch den Teufel tun würde, den mühsam ausgesperrten Lb7 einfach so zu befreien und die lange Diagonale zu öffnen. 14… Kb8 mit der Idee 15…Dd5 (und Se7 ist keine Gabel mehr) ist wahrscheinlich am besten. Schwarz leidet noch ein wenig unter seinen einander im Weg stehenden Springern, sollte aber keine größeren Probleme haben. Andererseits wäre 14.d6 auf eine Weise konsistent, denn der Zug passt zum Springer auf f5, der dort ansonsten nichts leistet.)

(14. Re1 Qxc3 15. Bd2 wäre im Remissinne eine Idee, wenn denn Weiß bereit ist zuzugeben, dass die Angelegenheit schiefgelaufen ist. Die Dame kann sich Zugwiederholung nicht entziehen, außer sie geht nach f6. Aber das wäre riskant. 15… Qf6?! 16. Re3! gefolgt von Lc3 mit starker weißer Initiative.)

14… Ne4 15. Qd4 Rhe8

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16. Nxg7?

Verliert vollends den Faden.

(16. Qxe5 Rxe5 17. f4 Rxf5 18. Bxe4 mit dem Argument, dass der Tf5 sich verlaufen hat, war möglich. Allerdings ist das Endspielt nach 18…Txd5 schon moderat angenehm für Schwarz.)

16… Nxc3

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Schöne Geometrie auf der langen Diagonalen.

17. Kh1 Qxd4 18. Bxd4 Re2

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19. Bxc3?

Verpasst die letzte Chance zu kämpfen, hofft, mit ungleichfarbigen Läufern nach Remischancen fischen zu können.

(19. Bxh7 Nxd5 20. Bd3 Rd2 21. Rfd1 Der Td2 muss die zweite Reihe räumen. 21… Rxd1+ 22. Rxd1 Die schwarze Bauernwalze im Zentrum wird den Weißen vor große Probleme stellen, aber mit Gegenspiel am Königsflügel plus Läuferpaar ist die Angelegenheit nicht hoffnungslos.)

19… Rxc2 20. Bf6 Rg8 21. Nf5 Kb8 22. Ne3 Rd2

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d5 fällt, und Schwarz hat einfach nur zwei Bauern mehr. Keymer wehrte sich noch für einige Züge, aber die Lage ist hoffnungslos.

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[…] auf Punkte-, Norm- und Preisgeldjagd ging (dass es für die dritte GM-Norm nicht reichte, wissen unsere Leser längst). Nicht nur für ihn, auch für einige Landsleute sah es früh danach aus, als seien sie Teil eines […]

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[…] wir. Manchmal ist auch abzusehen, dass sie erst Tage oder Wochen später berichten – wir machen das sofort. Und manchmal beeinflussen anderswo kommerzielle Interessen die Berichterstattung: Wer als […]

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[…] Kampf aufzuzwingen, ähnlich wie es unlängst in Spanien Anton Demchenko gegen Keymer tat. Auch Demchenko geriet mit seinem „beschleunigten Damenindisch“ bald in eine kritische Lage. Aber in dieser Partie greift Kovalev noch ärger daneben als vor ein paar Monaten Demchenko. Die […]

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[…] Blübaum hatte gegen Anton Demchenko (den Leser dieser Seite als Keymerbesieger kennen) eine Qualität mehr, die Maschine war happy. Der Mensch allerdings vermag zu ahnen, in welche Not […]