Wer gegen schwächere Spieler in eine schlechtere Stellung gerät, aber immer noch gewinnen will, der wandelt oftmals auf einem schmalen Grat. Der Gegner mag ja mit einem Unentschieden zufrieden sein, also gilt es, die Lage kompliziert zu halten, ohne die Verlustgefahr zu vergrößern.
In so einer Situation weicht der bessere Spieler gelegentlich von dem Prinzip ab, immer davon auszugehen, dass sein Gegenüber den besten Zug findet. Und dann wird das vermeintlich vom Glück unbeeinflusste Spiel Schach zu einer Zockerei, bei der selbst Bluffs nicht ungewöhnlich sind.
Wie man beim Schach zockt und blufft, demonstrierte jetzt Magnus Carlsen beim Grenke Classic in Baden-Baden gegen den deutschen Großmeister Georg Meier. Carlsen hatte nach Gewinnchancen gefischt, wo keine waren, und plötzlich zappelte er an Meiers Angelhaken.
Um nicht in ein Endspiel zu geraten, das sich eventuell halten, aber keinesfalls gewinnen lässt, spielte Carlsen mit dem Feuer. In der Hoffnung, dass der von Zeitnot geplagte Meier fehlgreift, hielt er die Partie kompliziert, obwohl er sich damit sehenden Auges in Verlustgefahr begab.
Beinahe wäre er bestraft worden. Georg Meier callte Carlsens Bluffs und spielte trotz gnadenlos heruntertickender Zeit den Weltmeister an die Wand. Am Ende blieben ihm 90 Sekunden, um die entscheidende Mattkombination zu finden. Meier rechnete die richtige Variante, hatte das erste von zwei erforderlichen Turmopfern auf dem Radar, fand aber das zweite mit folgendem Matt nicht. Und entschloss sich, das Remis zu nehmen, um nicht doch noch zu straucheln.
Nach der Partie gab sich der Deutsche dennoch selbstbewusst. Allzu traurig über die verpasste Chance sei er nicht, gab Meier zu Protokoll: “Das war bestimmt nicht die letzte.”
Meier, Georg (2.636) – Carlsen, Magnus (2.843)
Grenke Chess Classic 2018, Runde 5
26… g5
Ein Zug, den Carlsen in erster Linie rausgehauen hat, um seinen Gegner zu erschüttern. “Ein Bluff, sonst nichts”, sagte der Weltmeister nach der Partie über 26… g5, das vermeintliche Ambitionen am Königsflügel andeutet. “Aber die ganze Chose ist bei knapper Zeit schwierig zu bewerten. Und ich habe keine forcierte Variante gesehen, die zu weißem Vorteil führt.”
Da war dem Champion allerdings etwas entgangen. Weiß hat einen Zug, der forciert zu Vorteil führt.
27. hxg5
Nicht schlecht. Statt Schwarz bekommt bald Weiß Spiel am Königsflügel, aber Weiß konnte noch besser spielen.
27. f4! Sieht ein bisschen krumm aus, und auf den ersten Blick scheint es, als ob Schwarz nach 27…Dh3 vorentscheidend in die weiße Königsstellung eindringt. Aber nach dem teuflischen kleinen Zug 28.Tf2! offenbart sich, dass der schwarze König viel größere Probleme hat. Die g-Linie darf Schwarz nicht aufgehen lassen, aber wenn er das nicht tut, dann folgt Th2 nebst hxg5, und Weiß gewinnt. Also bleibt dem Schwarzen nichts anderes als 27… gxh4, aber nach 28.g4 gleicht seine Struktur einem Trümmerfeld. Weiß hat großen Vorteil
27…Dxg5 28. Kg2 Tc7 29. Th1 Tg7
Jetzt droht …Txf2+.
30. Tcg1 Df5 31. Tf1 La6
Mit nur noch zehn Minuten auf der Uhr hätte 31…La6 Georg Meier wie ein Blitz aus heiterem Himmel treffen können. Der Läufer ist natürlich tabu. Nach 32.Lxa6?? Df3+ 33.Kh2 gewinnt Schwarz mit einem Standard-Manöver, Turm hoch und aus: 33… Tg6 nebst …Th6 und Matt.
Meier blieb cool und demonstrierte Carlsen die beste Fortsetzung, die auch der Norweger gesehen und sich dennoch wieder fürs Zocken entschieden hatte. “Klar, 31… La6 funktioniert nicht richtig, aber was sollte ich machen?!”, lamentierte Carlsen nach der Partie.
32. b5 cxb5
33. Th5!
Stark gespielt von Meier! 33.axb5? Lxb5 bringt nichts, aber nach 33.Th5 gefolgt von 34.De5 hält Weiß den Schwarzen am Königsflügel im Würgegriff und beäugt zugleich dessen wackelige Zentrumsbauern. Neben dem Angriff gegen den schwarzen König schafft sich Weiß obendrein die angenehme Option, in ein Endspiel abzuwickeln, dass Schwarz angesichts seiner schwächelnden Bauern kaum wird halten können.
33…Df7 34. De5
34…Lb7
Auf das trostlose Endspiel nach 34… bxc5 35. Qxd5 Qxd5 36. Rxd5 Bb7 37. Rxc5 bxa4 hatte Carlsen keine Lust, also hält er Figuren auf dem Brett, deckt erstmal d5 und lauert auf Schummelchancen.
35.cxb6 bxa4 36. bxa7 La8
Schwarz will per …Dxa7 den a7-Bauern einsacken und hofft, mit seinem Freibauern auf der a-Linie Gegenchancen zu kreieren. Aber währenddessen läuft der Angriff gegen seinen König weiter. Objektiv ist 36…La8 ein Fehler, Weiß steht spätestens jetzt auf Gewinn. “Dass 36… La8 suizidverdächtig ist, habe ich gefühlt, aber 38.Lg4! war mir entgangen”, erklärte Carlsen nach der Partie.
37. Tg5 Dxa7 38. Lg4!
Jetzt droht 39.Le6+ nebst Th1, Einschlag auf h7 und Matt.
38… Kh8
Nur so entgeht Schwarz seiner unmittelbaren Exekution. Nach etwa 38… a3 39. Be6+ Kh8 40. Rh1 droht Txh7 nebst Matt, und es gibt keine Verteidigung.
Nun hatte Meier noch 90 Sekunden auf der Uhr, und wie Carlsen rechnete er folgende Variante: 39. Rh1 Qe7 40. Rxh7+ Kxh7 41. Rh5+ Kg6 (41… Kg8 42. Be6+ usw.) und sah nicht, wie Weiß weiterkommen soll. Beiden Kontrahenten war (Diagramm) 42. Rh6+!! nebst Matt entgangen. Was für eine Gelegenheit: doppeltes Turmopfer gefolgt von Matt gegen den Weltmeister. Aber da Meier den forcierten Gewinn nicht sah, entschied er sich für den Spatz in der Hand. Lieber erstmal den schwarzen a-Bauern eliminieren, bevor die Angelegenheit vollends nach hinten losgeht.
39. Ta1
Nur führt das zu einem totremisen Endspiel.
39… De7 40. Dxg7+ Dxg7 41. Txg7 Kxg7 42. Txa4 Bc6 43. Rb4
Und die Luft war raus. Meier bot Remis an, Carlsen akzeptierte sofort.
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[…] der sollte Betablocker nicht als erstes Mittel seiner Wahl verstehen. Womöglich hilft schon, Georg Meier ein Stündchen beim Blitzschach zuzuschauen. Auf dem Brett mag es noch so hoch hergehen, die […]
[…] Meier gegen Carlsen beim Grenke Chess. | Foto: Eric van Reem […]