Im Vergleich mit Top-Nationen nicht konkurrenzfähig.” So bewertet Vincent Keymer die Förderung des Schachs in Deutschland. Das sei der Grund, warum es in Deutschland zwar viele sehr gute, aber eben nur einen Weltklassespieler gibt. Im ZDF-Sportstudio verwies der 19-Jährige am Samstag auf Indien, wo die Topspieler und -spielerinnen “von jeglicher Seite”, Sponsoren und Verband, intensiv unterstützt werden.
Damit war ein Fass aufgemacht, das auszuleuchten sich gelohnt hätte. Es wäre viel zu entdecken gewesen – inklusive einem Weltklassespieler aus einer führenden Industrienation, unter dessen drei Unterstützern sich zwei Wackelkandidaten finden: ein ruinierter Verband, der von Mitgliederbeiträgen lebt (und sie erhöht, wenn es zum Überleben nicht reicht), und ein dubioser Sponsor, der sich gerade von seinem Geschäftsmodell verabschiedet hat (und dessen Überleben in Ermangelung von Einnahmen fraglich ist). Ist das deutsche Schach vielleicht deshalb nicht konkurrenzfähig, weil der Verband und sein Weltklassespieler die Akquise von Unterstützern mit Substanz nicht einmal versuchen?
Für derlei Vorhaltungen blieb leider keine Zeit. Als Katrin Müller-Hohenstein den “Support hier bei uns” zur Sprache brachte, waren schon mehr als 15 der gut 17 für Vincent Keymer vorgesehenen Minuten verstrichen. Ein erheblicher Teil der Minuten bis dahin war dafür draufgegangen, dem Samstagnacht-Sportpublikum “Variantenbäume” zu erklären – inklusive der irrwitzigen Aufforderung, so einen Variantenbaum am Brett zu zeigen.
Vincent Keymer war im Sportstudio Vincent Keymer – ein Segen für das deutsche Schach: eloquent, klug, offen und auch bei Fremdschämfragen stets freundlich. Ein Segen auch für jede Fragestellerin – eigentlich. Aber Nähe zu diesem wunderbaren Gast herzustellen, seinen kürzlichen Aufstieg in die Nähe der Top 10 zu beleuchten, ihn nach Zielen und Ambition zu befragen, dazu, wie sich ein stundenlanger Kampf am Brett anfühlt, stand nicht auf Sportstudio-Agenda.
Als “Deutschlands jüngster Großmeister” führte Müller-Hohenstein den Gast ein und wiederholte diese Einordnung im Lauf der Sendung zweimal. Ach, was? Deutschlands jüngster Großmeister ist Keymer seit Oktober 2019. Da war er 15. Jetzt ist er 19, und er wird noch einige Zeit der jüngste Großmeister bleiben, ein Indiz, in welchem Maße Keymer national über den Dingen steht.
Dass Keymer einer ist, wie es ihn hier seit 100 Jahren nicht gab, die klare Nummer eins, der einzige Weltklassespieler, erfuhr das Publikum nicht explizit. Wohin ihn sein Weg führen soll, welche Herausforderungen vor ihm stehen, kam nicht einmal zur Sprache. Keymer wurde dem schachfremden Publikum präsentiert wie das Wunderkind seines Sports, nicht wie der Ausnahmesportler, der er längst ist.
Die Routineaufgaben hatte die Sportstudio-Redaktion erledigt: Dutzende Clips aus Kinderzeiten zusammengeschnitten, andere Leute befragt, zwei Schachbretter im Studio aufgebaut. Und so kamen zu den Variantenbäumen Kindervideos, ein Einspieler des Bundestrainers Jan Gustafsson und einer von Magnus Carlsen (“coole Socke”, Müller-Hohenstein), der freundliche Grüße ausrichtete und im Zweiten Deutschen Fernsehen einen Verweis auf sein Freestyle-Turnier unterbrachte.
An der Herausforderung, Neugierde auf diesen Gast zu entwickeln, ist die Sportstudio-Redaktion gescheitert. Vincent Keymer durfte ausführlich erklären, warum Carlsen so gut ist, dann, wie die achtjährige Bodhana Sivanandan so früh so gut sein kann. Beides nutzte er zu erhellenden Ausführungen über Carlsens Talent und Referenzrahmen, über den heute einfachen Zugang zu Information, auch über den ausgeprägteren Arbeitswillen des modernen Schach-Nachwuchses. Wer Vincent Keymer ist, durfte er leider nicht ausführlich erklären.
Abseits von fünf (knappen!) Fehlschüssen an der Torwand ließ Keymer kurz vor Abpfiff doch noch einen Elfmeter liegen. Warum Kinder Schach spielen sollten, wollte Müller-Hohenstein wissen. Was für eine Vorlage, zumal in dieser Zeit. “Schach, eine Schule für das Leben”, hätte Keymer ausrufen können. Und ausführen: Am Brett sind wir alle gleich, am Brett erwerben wir soziale Kompetenz, lernen mit Sieg und Niederlage umzugehen, unter Zeitdruck Entscheidungen zu treffen und mit deren Konsequenzen zu leben.
Das kann er nächstes Mal erzählen. Die Frage, wer der Ausnahmesportler Vincent Keymer ist, bleibt fürs allgemeine Publikum nach dieser Sendung zwar unbeantwortet, aber allen, die im Fernsehen Sendungen machen, müsste aufgefallen sein, dass es in Deutschland diesen außergewöhnlichen Schachspieler und Menschen gibt, den ins TV einzuladen sich lohnt. An ungestellten Fragen mangelt es nach diesen 17 Sportstudio-Minuten nicht.
Lieber Conrad,
selbstverständlich ist Vicent Keymer ein Phänomen – nicht nur in schachlicher Hinsicht.
Ich wollte auf einen – immer unerwähnt bleibenden – Umstand hinweisen.
Deutschland hatte bereits einen Weltklassespieler
(Nr. 3 der Weltrangeliste nach
Kasparov & Karpov ) und
‘Wunderamateur’ nach
Emanuel Lasker –
namens Dr. Robert Hübner –
Papyrologe im Hauptberuf.
Ich gönne Vincent Keymer alles, aber vergesst die Leistungen von
Dr. Robert Hübner nicht, der
phantantische Ergebnisse am nationalen und internationalen Brett
erzielt hat in einer schon fast längst vergangenen Zeit.
Mit 64 Grüßen
Uwe Frischmuth
Ich war sehr angetan, wie Vincent Keymer den Schachsport in Deutschland und sich selber im „Aktuellen Sportstudio“ präsentiert hat! Und Frau Müller- Hohenstein hat ihren Job mMn ebenfalls sehr gut gemacht. Und dass das von mir häufig kritisierte ÖR- Fernsehen immerhin ca 17 Minuten einer (noch) Randsportart wie dem Schach eingeräumt haben, sollte man auch lobend erwähnen! Was den Beitrag selbst anbetrifft, muss man natürlich sehen, dass die Sendung ersichtlich für Nichtinsider der Schach- und Vereinsszene gemacht wurde. Daher war es absolut richtig, Themen wie die finanzielle Situation des Verbandes und die anscheinend nicht befriedigend verlaufende Sponsorensuche in den Vordergrund… Weiterlesen »
Hallo Herr Schormann.
Mir hat der Auftritt von Vincent total gut gefallen. Auch die Befragung durch Frau Müller-Hohenstein war völlig OK. Insgesamt war es ein Beitrag, der Zuschauer bestimmt neugieriger auf das Thema “Schach” gemacht hat. Die finanzielle Situation des DSB hatte in diesem Rahmen zu Recht keinen Platz!
Freundliche Grüße Wolfgang Klettke
Leider ist bei der technischen Realisierung der Kamera aus der Vogelperspektive und Projektion der Stellung auf die Videowand ein blöder “Spiegelungsfehler” aufgetreten, der 1. f2-f4 als 1. c2-c4 erschienen ließ (und damit ein schwarzes Feld unten Rechts). Schade dass das bei den ZDF-Leuten niemandem aufgefallen ist.
Der Beitrag im Sportstudio ist doch wirklich sehr nett geworden, und Vincent kommt genauso rüber – einfach nett. Wesentlich sympathischer z.B. als Garry Kasparov, der sich damals sogar zu schade war eine Aufgabe blind zu lösen, weil diese ihm “zu einfach” gewesen war, oder der unaufgeräumte Magnus im Schlabberlook. Dies war auch das einzige Manko von Dr. Robert Hübner. Er war genial, aber kein Menschenfreund.
Ein netter Schachspieler ist das beste was uns passieren kann.
Ich kann mich Gerhard S. nur anschließen. Vincent Keymer ist ein sehr guter “Markenbotschafter” für unseren Schachsport. Er ist sympathisch, telegen, offen, jung… und en passant ein sensationeller Schachspieler aus Deutschland.
Die 15 Minuten im Sportstudio sehe ich fast durchweg positiv. Die “Detailfehler” wie gespiegelte Bretter, der “langweilige Fokus” auf Eröffnungsbäume, fehlende Tiefe – ist mir hier egal. Die Zielgruppe sind Menschen, die sich für “unsere nerdigen Themen” nicht interessieren. Ich finde, dass es das ZDF gut hinbekommen hat.
Insgesamt war es sehr gute Werbung fürs Schach!
Schön, dass das Sportstudio überhaupt Vincent eingeladen hatte.
Kathrin Müller Hohenstein, die gefühlt seit Jahrhunderten im Sportstudio moderiert, fand leider keinen persönlichen Zugang zu Vincent.
Dass er nur wenige Kilometer vom Lärchenberg entfernt lebt oder wie er zum Schach kam, ob er Geschwister, noch andere Interessen hat etc. Schade.
Lediglich bei der Beantwortung der Frage, warum 8-9 Jährige schon so gut spielen können, „schwächelte“ Vincent.
Es sind nicht die Datenbanken und das Internet sondern primär die visuellen, eidetischen Fähigkeiten, die im Kindesalter besonders ausgeprägt sind.
Gleichwohl präsentierte sich VK. und das deutsche Schach glänzend.
Ich fand den Auftritt auch dem Zielpublikum angemessen, auch der Versuch die Herausforderungen des Schachsports mit den Variantenbäumen für das nicht schachspielende Publikum etwas plausibler zu machen, fand ich gelungen. Es gab da schon viele, viele schlimmere Beiträge dieser Art, in der vor allem versucht wurde Spitzenspieler als “komische Nerds” darzustellen. Da hatte der Sportstudio Auftritt deutlich mehr Substanz und wurde der Sache viel gerechter.
Vincent macht aus meiner Sicht eine sehr gute Figur als Repräsentant der Schachspieler Deutschlands.
Das hast Du schön getroffen, genau diese Gedanken hatte ich auch beim Zusehen!
[…] Vincent Keymer im ZDF-Sportstudio: Variantenbäume und KinderclipsWarum es in der Schachnation Deutschland nur einen Weltklassespieler gibt: als Vincent Keymer im ZDF Alarm schlug. […]
[…] Vor dem in Sachen Karriere offenbar auf sich gestellten Einzelkämpfer liegt nun die Mühsal der 2750-Ebene, und es wird als Ex-Wunderkind auch abseits des Brettes nicht leichter. Man stelle sich vor, der 19-Jährige stünde jetzt allein mit dem Grenke-Grundstock, mit einem ruinierten Schachbund und einer mutmaßlich in Auflösung befindlichen Bitcoinbude an seiner Seite im Wettbewerb mit den Praggs, Gukeshs oder Abdusattorovs. Vincent Keymer wäre, um ihn selbst zu zitieren, “nicht konkurrenzfähig“. […]
“Im Vergleich mit Top-Nationen nicht konkurrenzfähig.” So bewertet Vincent Keymer die Förderung des Schachs in Deutschland.”
Ist Serbien auch eine Top-Nation oder Norwegen ?
Ein gelungener Kommentar. Glückwunsch, Conrad! Wie sooft ist das bildungsferne Fernsehen seinem Verblödungsauftrag im Sinne von „panem et circenses“ nachgekommen und hat das eigentliche Thema verfehlt. Da war mehr drin, da Vincent ein kluger und eloquenter Gesprächspartner ist, der gerne aus dem Nähkästchen geplaudert hätte, hätte man ihm doch die Gelegenheit bloß gegeben. Die fragliche Moderatorin steht seit geraumer Zeit in der Kritik und ist in meinen Augen keine Verbündete der Kompetenz. Dennoch Vincent: Dank dir konnte der Schach gottlob noch einige Pluspunkte sammeln! Cheers!